Schon 2010, in seinem opulenten wie famosen Werk »Zone« hatte sich Mathias Énard einer Region verschrieben, dem Mittelmeer, machte es zum mythischer Raum, durchmaß ihn von Tanger bis Gaza und alles was von oder nach der »Zone« kommt und das, was sich in »ihr« abgespielt hatte, wurde obsessiv angesaugt und erzählerisch verarbeitet. Énard brauchte hierfür eine zwielichtige Figur, einen Kriegsverbrecher und Spion, der die Welt als eine Abfolge von Hass und Gewalt definierte und Geschichtslinien und Ereignisse von 218 vor Christus bis zu den Massakern der diversen Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre heranzog und miteinander verband, getreu dem Motiv der Hauptfigur, die »Geschichte ist eine Erzählung von reißenden Tieren, ein Buch, in dem auf jeder Seite Wölfe vorkommen« und so ist auch dieses Buch, atemlos, expressiv, nicht ganz ohne Punkt und Komma, sondern nur ohne Punkt; die 600 Seiten bestehen aus vielleicht zwei Dutzend abgeschlossenen Sätzen, alles steht hinter- und nebeneinander, ein Sog, der fesselte, abstieß und anzog und das alles gleichzeitig.
Und nun also »Kompass« und die Zone ist diesmal nicht das Mittelmeer sondern der Orient; es gibt also Schnittmengen aber nur geographische, aber es ist alles anders. In »Zone« wird die Hölle erzählt, personal aus Sicht einer Person, während einer mehrstündigen Zugfahrt. In »Kompass« ist es ein irdisches Paradies, evoziert von einem Ich-Erzähler, dem österreichischen Musikwissenschaftler Franz Ritter, der schlaflos in einer Nacht in Wien sein Leben rekapituliert, nicht nur aber auch weil er eine tödliche Diagnose seines Arztes erhalten hat. Erstaunlich, wie wenig man am Ende über Ritter als Person weiß. Akademisch ist er ein Schüler von Jean During und nach eigener Aussage glücklich, dem 20. Jahrhundert »widerstanden« zu haben (was sich dann bewahrheitet). Alles andere Persönliche bleibt diffus, selbst sein Alter muss man schätzen (seine Mutter ist 75), aber auf die Person Ritter kommt es eigentlich gar nicht an, obwohl das Buch auch eine Liebesgeschichte ist (übrigens keinesfalls die Geschichte einer nur gescheiterten Liebe, wie so manche Rezensenten dies hinein- oder herauslesen). Die Liebe seines Lebens, der Kompass seiner Obsession, ist die am Ende Mittvierziger Orientalistin Sarah (es bleibt beim Vornamen), eine »nomadische Akademikerin«, rothaarig, gebildet, wissensdurstig, thesenfreudig, perfekt arabisch und persisch sprechend, eine »glänzende Karriere« machend, eingeladen auf »prestigeträchtigen Kolloquien« weltweit – alles in Allem gute Voraussetzungen.
Ob Ritter sich wegen Sarah auf die Einflüsse des Orients auf die Musik (und Literatur) des 18., aber vor allem 19. Jahrhunderts konzentriert und deshalb zu »seinem« Forschungsgebiet im Forschungsgebiet macht? Zusammen entdecken die beiden überall Allegorien, Parallelen, Plagiate (westlicher) Künstler, euphemistisch als »exotische Formen der Verarbeitung« umschrieben. »Ganz Europa ist im Orient« sagt Sarah und Ritter sekundiert: »Mozart, Beethoven, Schubert, Liszt, Berlioz, Bizet, Rimski-Korsakov, Débussy, Bartók, Hindeminth, Schönberg und Szymanowski«, »Hunderte von Komponisten in ganz Europa, über ganz Europa weht der Wind der Andersheit, und all diese großen Männer benutzten, was sie vom Anderen bekommen, um ihr Selbst zu verändern, um es zu bastardisieren, denn das Genie will den Bastard, will Formen von außen verwenden. Um die Diktatur des Kirchenliedes und die Harmonie zu brechen…«
Auch was die Literatur angeht, finden Ritter und Sarah die Referenzen im Orient. Es beginnt mit den persischen Dichtern Hafis und Omar Khayyam (Schreibweise lt. Énard), dann Dik al-Dschinn, dem »Irren« aus Homs oder Usama Ibn Munqidh. Und Faris al-Schidyaq hat den größten Roman des 19. Jahrhunderts geschrieben (»Ein Bein über das andere geschlagen, oder Leben und Abenteuer des Fariac«). All diese (und noch mehr) bilden die Befruchter für die europäischen Dichter des langen 19. Jahrhunderts: Rimbaud, Balzac, Heine, Hugo, natürlich Goethe, für den der Orient »das Gegenteil des Todes war« (nicht nur im »West-östlichen Divan«). In Prousts »Recherche« finden sich, so Ritter, 200 Anspielungen über den Orient, seiner Lektüre von Tausendundeiner Nacht geschuldet und somit ist klar: ohne Orient keinen Proust.
Und dann die Forscher. Als Erfinder des Orientalismus wird Napoléon Bonaparte ausgemacht. Natürlich Joseph von Hammer-Purgstall. Die drei Musketiere der Zunft sind Alois Musil, T. E. Lawrence und Pater Antonin Jaussen (der »Dominikaner aus der Ardèche«) – und Auda Abu Tayi ist, so Ritter, ihr D’Artagnan. Aber auch andere Gelehrte, Reisende, Neugierige finden Aufmerksamkeit: Enno Littmann, Friedrich Rückert, Muhammad Asad (aka Leopold Weiss) und natürlich auch die Frauen: Jane Digby, Anne Blunt, Hester Stanhope, Marga d’Andurain, selbstredend Annemarie Schwarzenbach, wobei hier besonders schnell die Assoziationen purzeln, ausgehend von Sils, über Nietzsche, die von ihm verehrte Lou Salomé, die Ehefrau des Orientalisten Friedrich Carl Andreas wurde, der wiederum Schwarzenbach kannte, die mit Erika und Klaus Mann korrespondierte, und so hängt alles mit allem zusammen und ja, »der Kompass zeigt immer nach Osten«, wie jener Kompass, den Ritter im Bonner Beethovenmuseum entdeckt. Dieser zeigt tatsächlich immer nach Osten, was von ihm und Sarah natürlich sofort allegorisch gedeutet wird (es ist zwar ein Trick, ein Scherzartikel; aber es ist einfach zu schön). Und alle suchen diese Aus- und Einsteiger in ihren zum Teil drolligen Verkleidungen, die sie wie Spione erscheinen lassen, »den Orient im Orient des Orients«, wie es Álvaro de Campos schreibt, und dieser de Campos ist ein Heteronym des großen, von Sarah so verehrten Fernando Pessoa.
Der Orient »als Resilienz, als Suche nach Heilung einer geheimnisvollen Krankheit, einer tiefliegenden Angst«, wie Ritter gegen Ende feststellt. Ort der Inspiration und Sehnsucht, des Abenteurertums einer (gehobenen) Gesellschaft, die damals vor Langeweile in Europa umkommt und die Möglichkeiten hat, die Welt zu erkunden, die sie von Tausendundeiner Nacht glaubt zu kennen. All die anderen Sinnsucher, Kulturschauer, Kunstentdecker, Archäologen und Spurensucher, die mit Stipendien oder Regierungsaufträgen das gute alte kolonialistische Entdeckerwerk bis heute fortsetzen. »Der Sinn für den Orient, den haben nur wie Westler«, heißt es denn auch einmal so hochmütig wie entwaffnend.
Aber die Orientalisten haben es nicht leicht. Es locken Versuchungen, weniger die Frauen (oder Männer) denn das Opium und dessen Wonnen werden durchaus illustrativ erzählt; leider droht mit der Zeit das Abdriften in die Heroinsucht. Aber auch Krankheiten wie Durchfall und Verstopfung, vor allem jedoch der Wahnsinn, wie bei diesem Bilger, in den 1990ern Vorsitzender der Deutschen Archäologischen Gesellschaft, Außenstelle Damaskus (wer wohl das Vorbild war?). Ritter fabuliert von seinen Exkursionen und Reisen, den Übernachtungen in wunderbaren Hotels oder sogar im Freien, in Palmyra (Hotel Zenobia!) zum Beispiel (direkt gegenüber war ein berüchtigtes Foltergefängnis der Assads) oder Damaskus und Aleppo (Hotel Baron!) und beim Hören der 3 Uhr-Radionachrichten seufzt der Orientliebhaber wenn er vom Krieg in Syrien hört und fürchtet um die Pracht, die nun dort unwiederbringlich zerstört wurde. Und was ist mit den Menschen möchte man ihn fragen? Sie werden, das merkt er schon, »zermalmt vom Schicksalsrad«; heute sagt man dazu Kollateralschaden, aber Ritter ist irgendwann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stehengeblieben, was dazu führt, dass der Nationalismus der europäischen Staaten gegeißelt, aber kein Wort über die Nationalismen im Orient und dessen Verbrechen verloren wird. Das Massaker an den Armeniern kommt nicht vor, der Panarabismus ist inexistent, vom Bürgerkrieg in der einstigen Schweiz des Orients aus den 1970ern weiß der Orientliebhaber nichts, über Sykes-Picot bis Afghanistan und Irak wird wacker hinweggeschwiegen und Israel und Palästina sind keiner Erwähnung wert.
Überhaupt das Politische – scheinbar nicht die Stärke der kulturgeschichtlich denkenden, von ihrem Forschungsobjekt besessenen Orientophilen. Zur aktuellen Welt, dieser »Lawine von Scheiße«, finden sich entweder Jeremiaden, Trivialitäten oder putzige Vergleiche. So erfährt der Leser, dass der IS in Wirklichkeit gegen den Islam kämpfe. Und der radikale Islam sei in Europa und den USA entstanden. Sarah sieht gar die »Vereinigten Staaten und Europa im Krieg gegen das Andere in ihrem Selbst«. Da ist man fast beruhigt, dass die beiden mit dem Islam nicht viel im Sinn haben; sie suchen ihre mystische Welt »ohne Gott« und damit zeigt sich dieses erstaunliche Phänomen bei so vielen agnostischen (und zuweilen auch atheistischen) Intellektuellen in Europa, die wenn nicht Sympathie so doch Verständnis für den politischen Islam aufbringen. Dazu passt dann Sarahs Vergleich des Wahhabismus mit einem Disneyfilm. Und als Ritter einem Mann im Museum in Teheran (die »Haupt-ab-Stadt«) trifft, der ihn mit Hitlergruß begegnet, kann er nicht anders, als ihn zu pathologisieren, während Sarah die Propaganda des Dritten Reichs für diesen Ausbruch verantwortlich macht. (Auf die naheliegende Idee – den virulenten Antiisraelismus in dieser Region – kommen beide nicht.)
Die Ausnahme von diesen politischen Leerstellen bildet die Betrachtung auf den Iran. Die Vorgeschichte und die Islamische Revolution von 1979 selber kann man in einer wirklich faszinierenden Binnenerzählung nachlesen. In dieser Binnenerzählung steckt wiederum eine zweite Binnenerzählung, eine Liebesgeschichte zwischen einer Iranerin und einem französischen Studenten, der Ende der 1970er Jahre zum glühenden Anhänger Khomeinis wird, ihm nach Frankreich folgt, seiner Liebe wunderbare persische Gedichte schreibt und dann schließlich verrückt wird. Hier spielt Sarahs Doktorvater eine Rolle, der die iranische Geliebte liebt, sich großzügig als Briefbote zur Verfügung stellt, die Briefe dann heimlich liest und die schönsten Gedichte aus Eifersucht vernichtet. Das ist eine Geschichte, die man so schnell nicht mehr vergisst, die zeigt, Historisches mit Persönlichem verbindet und zeigt, was geschieht wenn Orientalisten zu unerhörten Liebhabern werden und glücklicherweise hat Ritter hier seine mystizistische Brille einmal verlegt.
Sarah heiratet schließlich zum Schmerz des Österreichers einen syrischen Musiker, aber irgendwann trennen sich die beiden; die Heirat hatte seinen Zweck erfüllt, der Mann kann frei in Europa leben und reisen. Sarah magert ab, ist ständig unterwegs, schreibt ihrem Franz Briefe oder Mails, die für ihn zu Reliquien werden. Sie orientiert sich weiter nach Osten, wendet sich dem Buddhismus zu, einem Kloster in Darjeeling, aber sie schafft es nicht, kann sich nicht fallenlassen, der Meister rät ihr, den Ort zu verlassen. Angekommen in Malaysia untersucht sie Todesriten. Sarahs Ruhelosigkeit –Ritter bemerkt sie nicht einmal, sondern zählt nur ihre Stationen auf.
Der Unterschied zu »Zone« ist, dass die Hauptfigur in »Kompass« geschwätzig ist, gefangen in seiner Welt und sich an seinem eigenen Exotismus berauscht. Er sei besessen davon gewesen »in der Wirklichkeit die kindlichen Wunschbilder…wiederzufinden«. Ritters Orient ist Klischee, Ornament, Wohlklang, Duft; er findet statt in Inszenierungen aus Lektüreeindrücken, Musikakkorden und Geschichtchen, die man sich boccaciohaft in kühlen Parks in Teheran oder in der Wüste von Palmyra erzählt, während auf die Jahrtausende alten Kulturen hinauf- oder hinabblickt wird. Und da ist es einfach wichtig, den arabischen Titel von Goethes West-östlichen Divan zu thematisieren, die Reste maurischer Musik im Flamenco herauszuarbeiten, über todbringende Zigeunerinnen in Literatur und Musik zu referieren, die Häßlichkeit von Bandar Abbas festzustellen oder über die Gründe von Sadeq Hedayets Freitod in Paris zu spekulieren (»Tod durch Ermüdung«).
Keine Frage, es gibt auch Wunderbares in diesem Buch. Etwa wie Franz Ritter die Süleymaniye-Moschee in Istanbul betritt und dabei eine Art Offenbarung erfährt. Oder Kurzreferate über Mozarts »Verkörperung des türkischen ‘Klangs’ «, Thomas Manns »Doktor Faustus«, Beethovens Privatkonzert beim österreichischen Orientalisten Hammer-Purgstall, Wagners Totalitarismus (nur »Tristan und Isolde« besteht), die Magie des Adhān oder die »Geheimgesellschaft« des französischen Universitätsbetriebs. Witzig dieses Freud-Bashing (»Scharlatan«), die Brahms-Beschimpfung (»Schumann-Plünderer«) und die schonungslose Darstellung Mekkas, des »Loch[s] zwischen zwei Felsen am Roten Meer«, »von Haien und Schaben verseucht« (freilich blüht der Ort bei der Haddsch dann auf). Großartig wie Nietzsches Dichotomie von apollinisch und dionysisch durch »tuberkulös« und »syphilitisch« ersetzt wird. Nur von der Liebe vermag Ritter nichts anderes zu sagen als die »Unmöglichkeit der Verschmelzung zwischen dem Selbst und dem Anderen« zu konstatieren. Demzufolge – und das könnte die Quintessenz seines Lebens sein – ist eine Verschmelzung des Selbst mit dem Anderen nur in der geistigen Beschäftigung mit der anderen Kultur möglich. Sobald menschliche Regungen aufkommen, droht der Absturz. Ein fast platonisches Fazit.
Ansonsten wird der Leser mit dieser Legierung aus Schmachtgesang, Enzyklopädie und Bramarbasieren zwischen Langweile und Vergnügen wie in einem Omnibus mit schlechter Federung hin- und hergeschaukelt. Natürlich merkt man die gute Absicht des Autors: Die aktuell als Hort der Finsternis wahrgenommene Region soll rehabilitiert, der Gegensatz Orient versus Okzident als künstlich dargestellt, die vermeintliche Überlegenheit dessen, was man »Westen« nennt, zu Gunsten eines »Kosmopolitismus« (Sarah) relativiert werden. Natürlich handelt es sich um Figuren eines Romans und diese unterliegen keinerlei Rechtfertigung. Aber Énard erweist seiner Sache einen Bärendienst, erschöpft sich (und den Leser) in zuweilen wichtigtuerischer Geschwätzigkeit und nervigen Namedropping (die Wikipedia wird zwischenzeitlich zur Zweitlektüre), schreibt anekdotisch statt erzählerisch und inszeniert eine intellektuell grundierte Folkloreshow statt den Zauber literarisch zu evozieren. Und dann sehnt man sich plötzlich nach den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.
Ich wollte das letzte Woche schon schreiben: Die Kritik find’ ich ok. Schlecht für das Buch.
Danke. (Dass das Buch in D gelobt wird, war mir übrigens klar.)
Ich lese gerade Die Entzauberung Asiens von Jürgen Osterhammel. Auch da viel Namedropping, aber dafür ein so umfassender Blick auf wirklich alle Aspekte des Aufeinandertreffens von West und Ost, dass ich nur staunen kann. Osterhammel stellt das lange 18. Jahrhundert in den Mittelpunkt (dass er von 1680 bis 1830 verortet), während dessen der europäische Blick sich meist von Bewunderung zu Herablassung wandelt. Eine literarische Ergänzung wäre interessant gewesen. Schade.
Klingt sehr interessant. Inzwischen dürfte sich der Blick wieder eher der (ökonomisch konnotierten) Bewunderung angenähert haben...