Irgendwo in Afrika, in einem Land, das sich Demokratische Republik Kongo nennt (und vorher Zaire nannte), vielleicht in einer Stadt in der Provinz Katanga, die hier »Stadtland« heisst, einer Stadt oder einem Gebiet, das sich von »Hinterland« abgespalten hat, denn in Stadtland gibt es Steine und diese Steine beinhalten Erze und vor allem Kupfer und das verspricht Reichtum, aber dieses Versprechen gilt nicht für jeden und am Ende kommt es nur noch darauf an, ob man auf der organisierten oder desorganisierten Seite der Bananenrepublik lebt. Dort gibt es das »Tram 83«: Kaschemme, Bar, Imbiss, Jazzclub, Bühne, Tanzpalast, Bordell, Drogenhöhle, Geldwaschanlage, 24 Stunden geöffnet, eine Mischung aus Berghain, Cotton Club, Sodom und Gomorrha, Hieronymus Boschs »Sieben Todsünden« und dem »Weltgericht«, Kirche und Moschee, ein Ort, der fasziniert und abstösst, Treffpunkt für Grubenarbeiter, Studenten, »Touristen«, Dealer, Literaten und Verleger, Frauen, die nach »Küken«, »Single-Mamas« und »Ex-Single-Mamas« und, vor allem, nach Form und Größe ihrer Brüste unterteilt werden, Geschäftsmänner, Zuhälter, Gläubige und Atheisten, Korrupte und Moralisten. Zu Beginn fällt einem noch eine Goldgräberromantik aus den USA ein, aber das wird einem hier schnell ausgetrieben, denn hier herrschen Sex und Geld und ein Frauenüberschuss, da Bürgerkriege noch nicht lange zurückliegen.
Zu Beginn kommt Lucien ins »Tram 83«, ein Schöngeist mit Notizbuch, der ein Bühnen-Epos nach Paris abliefern soll. Er trifft seinen Freund Requiem, genannt »Negus«, einem auf den ersten Blick Kleinkriminellem, der immer unsympathischer wird, sich als Kriegsverbrecher (ein Pleonasmus?), Bandenführer, Plünderer, Vergewaltiger, Erpresser und Schmuggler entpuppt, der Filme mit Jean Gabin und Lino Ventura mag. Irgendwann gibt es noch den Schweizer Verleger Ferdinand, der Gefallen an Luciens Texten findet, aber schließlich von Requiem mit Bildern von ihm und der (minderjährigen) Prostituierten erpresst wird. »Was sagt die Uhr« ist der Standardsatz, den man stellenweise auf fast jeder Seite des Buchs findet. »Was sagt die Uhr« fragt die Meute für die Muße ein Verbrechen ist. Alles ist vulgäres Business (vor allem der Sex), selbst die Kellnerinnen drangsalieren die Gäste zum Trinkgeld und für die Prostituierten gilt die (Schach-)Regel: »berührt-geführt«.
Fiston Mwanza Mujilas Roman ist ein pulsierendes Wimmelbild, mal expressiv, mal impressionistisch; Märchen, Moritat, Porno und Burleske – ein mystischer Realismus mit gleichzeitig gnadenlos analytischem Blick, der gut verborgen im Dialogstrom herauslugt. Und als sei das alles noch nicht genug, wird auch noch auf einer Metaebene die Fiktionalität des vorliegenden Textes befragt (Mujila lehrt ja inzwischen über Literatur in Graz) und es könnte momentweise sein, das Luciens Bühnen-Epos eben genau dieses Buch über »Tram 83« ist.
Man kann diese atemlose, fulminante, abstoßende, poetische, vulgäre, assoziative, rhythmische, furchtbare und gleichzeitig herrliche Erzählung (oder ist es ein Gedicht? oder ein Drama?) nicht lesen, ohne an Guillermo Cabrera Infantes »Drei traurige Tiger« zu denken, diesem melancholisch-elegischen Abgesang auf das Nachtleben Havannas im vorrevolutionäre Kuba von 1958. Und doch ist es anders, deftiger, rau, und der sich beim Leser einstellende Exotismus des ersten Augenblicks verschwindet schnell, weil das Leben von Mujilas traurigen Gestalten ein Überlebenskampf ist und eben auch immer ein Todeskampf, aber der »Tod hat keinerlei Bedeutung, weil man noch nie wirklich gelebt hat. Man tut, als würde man leben. Man erfindet ein Scheinleben.« »Tram 83« ist eine Chronik dieses Scheinlebens; eine Arena auf der jeder abwechselnd und auch schon mal gleichzeitig Mephisto und Faust ist.
Natürlich kann man »Tram 83« auch als Parabel auf die Welt lesen, den schranken- und grenzenlosen Kapitalismus, aber eben ohne die typischen ideologischen NGO-Verrenkungen oder den Betroffenheitskult Gutmeinender (Mujila sei Dank!) und an einigen Stellen funkelt ein herrlicher Sarkasmus, wenn vom »Lob der Folter«, von delikaten Hundespießchen die Rede ist (und deren Zubereitung geschildert wird und das »Tram 83« zum »Symbol einer absolut harmonischen, gemischten, aufgemischten Gesellschaft« mutiert; einer »neuen Welt«, einem Dschungel, in dem gilt: »Jeder für sich, Scheiße für alle.« Naja, nicht ganz für alle, denn da ist der »abtrünnige General«, der das Land beherrscht, die Fäden zieht, die Steine und die Menschen ausbeutet und alles für sich beansprucht und nur Requiem am Ende erlaubt sich ihn zu erpressen und das Ende (falls es eines gibt) soll nicht verraten werden.
Schnell, fast zu schnell, endet das Buch und man bewundert diesen Autor. Aber dann, ein wenig später, bedauert man ihn auch ein wenig. Denn von nun an werden alle seine nachfolgenden Erzählungen und Romane mit diesem beeindruckenden Werk gemessen werden. Aber ich bin zuversichtlich, dass er bestehen wird.
Das Expressionistische, die Wortfindungen, der Drive, das alles ist sehr beeindruckend. Und doch hatte ich, als ich das Buch zuklappte, das Gefühl beim therapeutischen Schreiben über die Schulter geschaut zu haben. Mag an mir liegen, aber der Plot wird mehr geahnt als gelesen, wirkt unverständlich, die Handlungen kontingent. Zurück bleibt dadurch nur eine Stimmung, ein Gefühl, das aber mit voller Wucht. Allein schon die »gewinnorientierten Touristen« sind es schon Wert gewesen.
Ja, das stimmt alles. Aber vielleicht kommt es auch darauf an, wann man dieses Buch gelesen hat. Bei mir waren es zwei sehr heiße Tage, so dass man sich die Hitze schon mal nicht vorstellen musste. Klar, dass es im Kongo andersheiß ist, aber es hilft schon beim atmosphärischen.
Vielfach ist es auch ein Traum-Buch, was natürlich zuweilen beliebig wirkt, weil dann alles und nichts möglich ist. Mir hat die Stimmung genügt. Von den »Drei traurigen Tigern« habe ich auch nichts mehr als die Stimmung (und die Sprache) in Erinnerung.
Ich hatte mal vor langer Zeit eine Woche in einer Wohnung verbracht, in der ein expressionistisches Bild im Esszimmer hing, dass wie man auch drauf sah, sich dem Auge entzog. Jedes mal, wenn man glaubte ein kohärentes Bild zu fassen, war es schon wieder weg. Das Bild ist mir heute noch präsent.
Ich würde nicht ausschließen, dass es mir mit Tram 83 ähnlich geht, zumal die Sprache, die Bilder mit enormer Kraft daher kommen. So abwertend war es also gar nicht nicht gemeint. Das Buch ist eher irritierend, was sicher kein Malus ist. Interessieren würde mich noch wie nah Mujila tatsächlich noch am Kongo ist
Ich hatte Ihren Kommentar gar nicht als abwertend eingestuft.
Die Frage nach Mujilas Nähe zum Kongo ist interessant. Aber er hat ja keinen Realismus-Anspruch. Der Roman wirkt ja eher als expressionistisches Gebilde, als Phantasie (oder Alptraum-Phantasma). Vielleicht ist alles noch ganz schlimmer?