Nach Kaffee und Schokoladeneis mit Sahne bei de Marco (wie immer) weiter durch Eicken, meinem Kindheitsviertel, seit Jahrzehnten verkehrsberuhigt und längst ökonomisch sterbenskrank, so viele Läden, die geschlossen sind, einige seit Jahren, teils trotzig mit ihren zugeklebten Scheiben oder diesem uralten, verrosteten Rollgitter vor dem einstigen Optikergeschäft, dessen Brillen ich heute sehr selten noch als Ersatz für den Ersatz verwende. An der Sparkasse links abgebogen auf die Schwogenstrasse, wo einst M. sein Haus hatte, jener M., der im Frühjahr starb und in der Todesanzeige hatte ich zum ersten Mal seinen Jahrgang gelesen (er war 26 Jahre jünger als mein Vater) und den Spruch von der »liebevollen Fürsorge«, der da verwendet wurde, war derart geheuchelt, dass mir übel wurde; ihm, diesem Fremdgänger und Choleriker wurde im Tod ein Denkmal der familiären Tugend errichtet und da erinnerte ich mich an seine herrische Art, mit der er meinen Vater kommandierte und die Verachtung, die ich meinem Vater dafür zollte, dass er sich derart kommandieren ließ und nur ganz kurz, als ich nach der Schule keine Lehrstelle bekommen hatte und arbeitslos war, »arbeitete« ich für M., analysierte die wöchentlich erscheinenden »Rennkalender«, extrahierte bestimmte Daten von Pferden und Trainern aus diesen Listen, die ich ihm dann aufbereitete und als dieses oder jenes dann ergebnisrelevant war, beschimpfte er mich, warum ich ihm das nicht gesagt hatte, dabei hatte ich es gesagt aber nur einmal und dann auf meine Aufzeichnungen verwiesen und grob fuchtelnd wehrte er ab, das »Geschreibsel« habe er doch nicht gelesen oder sofort wieder vergessen, ich müsse es ihm sagen, mehrmals, immer wieder und in der nächsten Woche sagte ich ihm die Auffälligkeiten und er richtete sich mit seinen Wetten danach, aber nichts traf zu und er schimpfte wieder und dann ich hörte auf, nahm die 50 Mark für die zwei Wochen und von nun an versuchte ich, ihn wie Luft zu behandeln.
Vorbei also an seinem ehemaligen Haus, immer weiter geradeaus, ein paar hundert Meter weiter rechts davon war bis vor ein paar Jahren das Bökelbergstadion, jetzt ist dort eine Neubausiedlung, aber ich muss geradeaus, vorbei an einem Haus mit einem offenen Küchenfenster und es klappern die Teller dort (es ist Mittagszeit), dann rechts hinein in den Bunten Garten, den ich einst so oft besuchte, wenn ich in Ruhe lesen wollte, unter der kleinen Landstraßenbrücke hindurch und dann nach irgendwann links in einem kleinen, unscheinbaren Weg mit duftendem Nadelgehölz (nur am Anfang des Weges) und dann geht man auf den Eingang Peter-Nonnenmühlen-Allee zu, links die Häuser, in denen früher britische Offiziere gewohnt haben sollen und dann steht man vor dem Friedhofseingang, sieht dieses Riesenkreuz »Für Alle« und ich schleiche herum, an den militärisch aufgereihten sogenannten Gefallenen vorbei, suche den direkten Weg zum Grab meines Vaters, C 12 muss es ein, aber ich finde ihn wieder einmal nicht, verpasse die Brücke, stehe fast unter ihr und mache mich auf einen weiten Umweg, endlich dann die Totenhalle und von da aus geht es doch ganz schnell und da sehe ich diesen Zettel, verrutscht, hinter Glas, auf dem angezeigt wird, dass am 1. November die »Ruhefrist« in »Feld C, 12« abgelaufen sei und ich wundere mich ein wenig über das Wort »Ruhefrist«, denn neulich, als ich in Kontakt mit der Friedhofsverwaltung das Grab meiner Mutter nach zwanzig Jahren, also fünf Jahre vor der Zeit, auflösen wollte, hieß es »Ruhezeit« und jetzt also »Ruhefrist«.
Ich überlege, ob »Liegezeit« nicht neutraler wäre, denn »Ruhe« impliziert doch die Essenz des christlichen Glaubens, die Auferstehung und neulich, in einem lächerlichen Entweder-Oder-Spiel fragte Denis Scheck eine Schriftstellerin »Grab oder Urne« und sie antwortete emphatisch mit »Grab« und im Gemurmel der beiden fiel das Wort »Auferstehung« und tatsächlich, wenn etwas ruht, dann ist es vorläufig oder ist es nur einer dieser Bestattungs-Euphemismen?
Ich stehe also ein letztes Mal vor dem Grab meines Vaters, jenem Ort, den ich in den letzten 25 Jahren hunderte Male besucht hatte; zunächst sehr oft, als ich noch in Mönchengladbach lebte, später dann eher selten, und U. hatte die Pflege übernommen, außer die Bepflanzungen, die erst im Wechsel, später dann meistens wir aus Düsseldorf machten und mit dem Auto hinfuhren. U ist seit mehr als einem Jahr nicht mehr so mobil, alles wird zu beschwerlich, besonders das Gießen im Sommer, eine enorme Anstrengung für ihn und so kamen wir überein, Mutters Grab mit Rasen einsäen zu lassen und der Witz an der Sache ist, dass das sogar Geld kostet, d. h. wenn wir fünf Jahre die Grabstätte hätten verwildern lassen, wären wir nicht belangt worden, aber so waren es fast 400 Euro für die fünf Jahre.
In den Grabreihen bei meinem Vater (Beerdigungszeitraum 1991) sah es zum Teil abenteuerlich aus. Wild bewachsen, Kreuzgesplitter; bei einer Grabstätte war der Stein umgestürzt. Oberflächlich konnte man meinen, die Gräber seien geschändet worden. Gelbe Zettel klebten dort, die darauf hinwiesen, dass die Grabstätte »ungepflegt« sei; die soziale Höchststrafe, aber es gab wohl keine Adressaten mehr dafür, entweder waren die Angehörigen weggezogen oder selber tot oder waren gesundheitlich angeschlagen oder, auch eine Möglichkeit, sie hassten den Verstorbenen. Die Toten heißen Michael, Hans, Gerda, Josef oder Josefine – Namen, die Generationen anzeigen und heute Seltenheitswert haben. Auch das Grab meines Vaters sieht nicht gut aus. Der Buchsbaum hat immerhin keinen Zünsler, aber ein Loch; ein Fehlschnitt von mir irgendwann einmal. Merkwürdigerweise ist das Fensterchen der Grablaterne, das im Frühjahr lose war, immer noch an seinem Platz. Anders als sonst keine Spinnen im Bodendecker.
Bald gibt es also keinen Ort mehr, den man aufsuchen kann und der etwas mit meinem Vater zu tun hat. Lange hatte ich das ersehnt; Grabstätten sind lästig, zumal wenn man außerhalb wohnt und keinen Gärtner beauftragen will und kann. Aber es ist ein Ort gewesen, der, wenn es denn geschah, eine gewisse Kontemplation ermöglichte. Als ich an Grindelwald schrieb und das Grab besuchte, begann ich damals plötzlich zu weinen. Und so wollte ich also ein letztes Mal die Anwesenheit meines Vaters spüren, setzte mich sogar vor das Grab (es war weniger eingesackt als so manches Jahr zuvor; immer wieder musste Erde hinzugefügt werden). Aber es geschah nichts in und mit mir. Ich sah eine Platte mit dem Namen meines Vaters und dem Geburts- und Sterbejahr, links der Buchsbaum, davor eine vertrocknete Pflanze, die wie ein totes Tier aussah und dann der Bodendecker. Ich holte Grindelwald hervor wie eine Art Gebäck zu einem nicht vorhandenen Kaffee. Und plötzlich fand ich beim Lesen mehr Bezug zu meinem Vater als durch die bloße Anwesenheit an dem Ort. Nein: Das Buch wurde zum Ort. Der Ort selber war nunmehr eine Stätte, und prompt dachte ich nicht mehr an meinen Vater zu Lebzeiten, sondern daran, wie er wohl jetzt nach 25 Jahren, in dieser sicherlich längst zusammengefallenen Holzkiste aussieht. Die Erinnerung an die Person wie sie war steckt in dem Erinnerten, dem Geschriebenen, nicht mehr im oder am letzten Ort (auch wieder so ein Jargon, der »letzte Ort«?) .
Die Grabstätte ist, wie mir scheint, nicht mehr zwingend notwendig, um eine Wiederholung zu evozieren. Das Lesen in dem Buch ließ vor meinem inneren Augen meinen Vater, sein Leben, meine Kindheit und Jugend, entstehen (weniger mit dem, was im Buch erwähnt ist, sondern mit dem, was dort nicht steht). Plötzlich dachte ich vor dem Grab sitzend an meine Anfrage bei dieser Dienststelle in Berlin nach den Dienst- und Beschäftigungszeiten meines Vaters, die schon 11 Monate zurückliegt; es gibt immer noch keine Antwort und ich lese auf dem Smartphone noch einmal die Rückmail, die ausdrücklich sagt, dass es auch 12 Monate und länger dauern kann, bis es eine Auskunft gibt und ich bin froh, dass es bis heute noch keine Auskunft gab und vielleicht wäre ich auch damit einverstanden, dass es nie eine geben wird.
Und dann stehe ich auf, grüße ihn noch einmal, wobei mir rechts daneben über einer Wiese ein kleiner Mückenschwarm (sind es wirklich Mücken?) auffällt, der in der herbstmittäglichen Sonne tanzt. Beim Gehen kurz das Gefühl, mich hinwegzustehlen. Wenn es nach meinem Vater geht sind es noch zwanzig Jahre. Und dann?