Wie schon in »Imperium« werden in »Die Toten« historische Persönlichkeiten von Christian Kracht mit fiktiven Handlungen und Charakteren zusammengebracht; ein Genre, das mit »Doku-Fiction« oft nur unzulänglich bezeichnet und keinesfalls eine Erfindung von Kracht ist, sondern längst aus dem Fernsehen abgeschaut von zahlreichen zeitgenössischen Autoren praktiziert wird. So tritt in diesem Roman an zentralen Stellen Charlie Chaplin auf (den Kracht natürlich »Charles Chaplin« nennt) – und dies durchaus nicht schmeichelhaft. Auch andere historische Persönlichkeiten wie beispielsweise Alfred Hugenberg, Ernst Hanfstaengl, Heinz Rühmann, Siegfried Kracauer und Lotte Eisner werden wie selbstverständlich in die Geschichte um die fiktiven Hauptpersonen, den Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli, den japanischen Ministerialbeamten Masahiko Amakasu und Ida von Üxküll, Nägelis Verlobten, eingebaut. Merkwürdig bei Ida ist die Vermischung zwischen fiktiver und realer Person. Es hat tatsächlich zwei Frauen gegeben, die diesen Namen trugen, aber sie passen nicht in die Biografie der Romanfigur, die um 1905 herum geboren ist (zum einen Ida Gräfin Üxküll-Gyllenband, geb. Freiin von Pfaffenhofen-Chledowski [1887–1962], die Frau des 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers Nikolaus Graf Üxküll-Gyllenband und zum anderen eine gewisse Ida von Uexkuell Gyllenband [1837–1920], die tatsächlich in Los Angeles gestorben sein soll). Warum Kracht wohl derart verfährt?
Am Ende seines Lebens wird der Schweizer Regisseur Emil Nägeli sagen, dass es in einhundert Jahren Kino lediglich fünf Genies des Kinos gegeben habe – Bresson, Vigo, Dowshenko, Ozu und er selbst. Es gehe diesen Regisseuren, so der allwissende Erzähler, »nicht nur um die Unmöglichkeit, die Farbe Schwarz darzustellen, sondern auch um das Aufzeigen der Anwesenheit Gottes«.
Großer Gott – Sie treiben etlichen Aufwand!
Ihre Kritik liest sich gut. Sie erklären mehr als andere – u. a. den fahrigen Böttiger im Radio (bei mir SWR II), der hörbar unterbelichtet durch das Gespräch wankte.
Macht nix.
Ohh: Ihr Ertrag: Dass die Toten jeder für sich tot wäre usw. – wirkt mehr wie eine Zwischenbemerkung als wie ein veritables Fazit.
Das muss nicht schlecht sein. Das muss sich auch nicht als falsch herausstellen. Der Respekt vor den Toten ist ja eine Ehrenpflicht, die heute sehr gering – sicher z u gering geachtet wird.
Dann, um meine kursorischen Bemerkungen abzuschließen, noch das Zitat aus Ihrer Besprechung:
»Zeitweilig glaubt Nägeli noch in der für Intellektuelle dieser Zeit (nur dieser Zeit?) typischen jüngerschen Selbstüberschätzung mitspielen und die Antimodernisten für seine neuen Ästhetiken des Films (die teilweise wie ein kühner Vorgriff auf Dogma 95 wirken) instrumentalisieren zu können.«
Ich ahne, was Sie meinen, aber ich glaube, in der Art, wie Sie es hier artikulieren, ist es ein wenig idiosynkratisch – und verfehlt deshalb (!?) in der Tat den expliziten Referenzpunkt Ernst Jünger. Jünger wollte nun grad’ gar nicht mitmachen, und in der Kulturindustrie erst recht nicht. Desinvolture! – Forcierter Antimodernismus in der Form des dem Medienbetrieb sozusagen aus Prinzip abholden – - – Schreibers – u n d n i c h t s als Schreibers! – Ein leben lang. Ein wider Erwarten sehr, sehr langes Leben lang.
Imperium hat mir gefallen – sehr gefallen. Ich fand es eines der wirklich guten Bücher über die erste Jahrhunderthälfte. Auch – oder vielleicht besonders: Weil es so (scheinbar!) leichthin gegen Hitler ist.
»Die Toten« wirkt den Rezensionen nach weniger klar als »Imperium« – weil die ganze Konstruktion bis hin zu dem wohl zutreffenden Dogma-Verweis in meinen Augen schwach erscheint.
Ich fühle, ich werde das Buch bald einmal lesen – immerhin sind jetzt Bersarin, Sie und Denis Scheck schwer dafür... fehlt nur noch . . . ok, ok – hier breche ich
Jünger hatte die Weimarer Demokratie publizistisch bekämpft und wollte eine nationalistische Wende. Er hatte sicherlich bis mindestens Ende der 1920er Jahre Ambitionen, die nationalistischen Kräfte mit theoretischen Überlegungen steuern zu können. Als die Nazis sich durchsetzten, war ihm diese zu vulgär, zumal er kein Antisemit war bzw., um genauer zu sein, den Antisemitismus für einen strategischen Fehler hielt. Er war klüger als Heidegger, der noch bis Mitte der 1930er Jahre glaubte, die Nazis hätten auf seine philosophischen und politischen Überlegungen gewartet. Jünger hingegen war da schon desillusioniert und verband seinen Job in Paris mit der »subtilen Jagd«.
»Imperium« fand ich extrem parfümiert; »Die Toten« ist ein düster-faszinierendes Buch, das mit seinem Manierismus den Leser aufs neckt. Das ist einerseits vergnüglich und andererseits sehr ergreifend.
Aha, die Geschmäcker sind verschieden, was Imperium angeht. Das roch doch frisch! – Riecht immer noch frisch! -
Kurz wg. Jünger: Ja die Zwanziger, da war Jünger politisch, obwohl mir das nie so ganz klar vor Augen trat. Der Dandy dagegen schon. Na – und die vielen Jahrzehnte später war nur noch wenig Politik, dafür so eine Art Weltwächtertum, was mir besonders wegen seiner Schöpfungsnähe ok: Naturnähe... – und: sehr schön auch: Menschenferne! – noch immer sehr gefällt...).
Naja: Ich sagte ja nicht, dass das völlig falsch sei, was Sie geschrieben haben an dieser Stelle, sondern nur verkürzt. Außerdem schreiben Sie gar nichts von Politik in Ihrem Absatz, sondern nur von ästhetischen Dingen, und da ist mir persönlich die Parallele zu forciert, um plausibel zu sein. Bleibt’s halt eine etwas schiefe Parallele. Die tut ja Ihrer wirklich aufschlussreichen Besprechung keinerlei Abbruch.
Ahja: Manierismus. – - – Neugierig wäre ich, warum Kracht das Buch jetzt schrieb. Ich lande aber bei dem gleichen Punkt wie bei meinem ersten Kommentar: Dafür werde ich’s wohl lesen müssen.
Heidegger war jedenfalls zeitlebens an Ernst Jünger interessiert. Es gibt einen Band 102 osä. der Gesamtausgabe, der allein Jünger gewidmet ist.
Interessant, dass das Wort Manierismus so oft fällt. Mir kam es auch von Seite zu Seite immer stärker in den Sinn. Vergnüglich war das aber nicht und ergreifend erst recht nicht. Ich hatte eher das Gefühl, dass sich da jemand versucht im Jahre 2016 von der Postmoderne zu distanzieren. Ich mag gar nicht daran denken, dass Kracht sich damit in eine Reihe einordnen möchte. Dass ist nicht gestern, das ist vorgestern. Man fragt sich fast, ob Kracht nicht doch eine Affaire mit Alma Mahler hatte.
Passend dazu seine Selbstdarstellung. Auch da dieses gereizt Manierierte. Kracht fragt den Moderator, ob er herausgelesen habe, dass Nägelkauen als Motiv verwendet wurde. Er könnte auch fragen, ob man die dicke braune Soße auf dem Schweinbraten bemerkt habe. Mir war schon der Aufruhr um das gerade mal durchschnittliche Imperium völlig unverständlich. Da liegt der Verdacht natürlich nahe, dass dort kräftig mitgeholfen wurde/wird.
Die Figuren habe ich durchweg als gekünstelt, hölzern und gewollt wahrgenommen. Die voreilige, potentielle Identifikation des Lesers mit den Figuren stand nichtmal ansatzweise zur Debatte. Die Protagonisten sind so konstruiert, dass der Totalitarismus gerade noch zum Lemma wird. Fühlbar, erklärbar wird nichts. Sie verwenden die Vokabeln selber, gespreizt, altmodisch, manieriert. Ich sehe da als Methode nur das spiegelnde Wasser, in dem sich Narziss zu betrachten versucht und selbst Ironie wäre nur aufgesetzt. Der Schluss war dann nur noch peinlich. Ich meine sogar noch laut »Nein« gerufen zu haben.
Man könnte auch sagen, der Roman funktioniert nicht.
Das mit dem »Funktionieren« ist immer ein besonders interessanter Einwand. »Funktionieren« kann eine Spülmaschine, ein Auto oder ein Lichtschalter. Wenn er nicht funktioniert merke ich es daran, dass das Geschirr nicht sauber ist, der Wagen nicht fährt oder ich im Dunklen sitze. Funktionieren bedeutet, dass eine Erwartung, die ich habe, erfüllt wird. Wenn ein Roman nicht »funktioniert« bedeutet dies nichts andres als dass meine Erwartung nicht erfüllt wird. Um dies zu sagen müsste man definieren, welche Erwartungen man an den Roman bzw. an Literatur generell hat. Da wird es meist schon schwierig.
Das Wort vom Nicht-Funktionieren eines literarischen Textes ist ein Taschenspielertrick. Er suggeriert eine objektive Bewertung (wie dies bei der Geschirrspülmaschine usw. ja möglich ist), ist aber in Wirklichkeit nur ein subjektives Urteil. Es ist auch meist verheerend, weil die Kriterien, nach denen man ein Funktionieren konstatiert hätte, ein Geheimnis bleiben.
Sie geben allerdings an, warum Ihnen der Roman nicht behagt. Krachts Distanzierung von dem, was man Postmoderne nennt, liegt auf der Hand. Ob das von Gestern oder Vorgestern ist, mag dahingestellt sein. Manieriert ist es meiner Ansicht nach, weil zuweilen diese Distanzierung derart überzeichnet ist, dass es komisch wird. Mir hat diese Komik allerdings gefallen (wie auch der frühe Greenaway unterhaltsam ist). Womöglich steckt in dem Buch mehr Ironie als man denkt. Und vielleicht hat das Gefallen meinerseits damit zu tun, dass mich die Glätte und Blässe so vieler zeitgenössischen Prosaisten derart anödet, dass ich den abgespreizten Finger beim Fünfuhrtee schon wieder hübsch finde. Wie ich auch manchmal wieder eine Krawatte anziehe, obwohl ich nicht muss.
»Imperium« fand ich übrigens »schlimmer«. Im Netz (bei Youtube) können Sie auch sehen, wie da »mitgeholfen« wird. Die letzten drei Bücher von Kracht sind alle bei Denis Scheck in »Druckfrisch« ausgiebig mit Interview und/oder Homestory vorgestellt worden. Was Kracht so sagt, ist schwierig und darf nicht voreilig gegen ihn verwendet werden, zumal Scheck mit seinen raumgreifenden Lobesakkorden dem Dichter kaum Spielraum lässt.
Nicht funktionieren, kann aber auch bedeuten, dass man meint zu erkennen, was der Autor vor hatte und dies handwerklich einfach nicht geschafft hat. Jedes Buch als monolithisches Kunstwerk zu sehen, ist da sehr deutsch. Man kann aber auch den handwerklichen und künstlerischen Aspekt eines Buches trennen, Der handwerkliche Wert steht für mich immer zur Disposition, beim künstlerischen Anspruch ist der Raum deutlich weiter, aber nicht grenzenlos.
Krachts Handwerk ist nicht besonders gut. Ich sehe viele aus der Attitüde geborene Anfängerfehler. Ein Ästhet würde sich das nicht erlauben. Künstlerisch wird es schwieriger. Den Totalitarismus ernsthaft beschwören und gleichzeitig sowas wie den schon angesprochenen, grotesk billigen Sprung am Ende als ironisches Spiel mit dem Leser begreifen, passt für mich nicht zusammen. Das funktioniert nicht. Da bleibe ich störrisch.
Zum Vergleich könnte man vielleicht den anderen Buchpreisverweigerer Martin Mosebach anführen, der ja auch nicht ganz in die Schablone passt. Mosebach hat in Mogador auch einige bildungshuberische Ausrutscher, verwendet aber z.B. marrokanische Begriffe stimmig und nicht so aufgesetzt wie Kracht die japanischen. Das ganze wirkt rund. Und, bei Mosebach habe ich im Gegensatz zu Kracht nicht das Gefühl, das Marketing (Andrew Wylie) Teil des Buches ist.
Ja, Mosebach. Den habe ich mir erspart. Vielleicht ein Fehler.
Ergänzung: Gestern in »Lesenswert« (SWR) u. a. auch Denis Scheck mit Mosebach. Vorher eine andere Kultursendung mit Denis Scheck auf SWR (»Kunscht«). Scheck als Schreck? (Sorry)
Danke für den Hinweis. Ich hatte Mosebach tatsächlich noch nie selbst gesehen. So unprätentiös und bescheiden hätte ich ihn gar nicht erwartet. Sehr angenehm. Und es sind vielleicht nochmal Parallelen deutlich geworden.