Heute wird in der ARD der 1000. Tatort ausgestrahlt und der Hype ist dementsprechend. Die Wiederholungsgewitter in den diversen ARD-Sendern nehmen noch einmal grössere Dimensionen an. Im Nischenkanal »One« (vielleicht hat man bei der Namensgebung das »h« vergessen – für »ohne« Zuschauer?) kamen gleich mehrere hintereinander. Beim Ansehen wird deutlich, dass die einzelnen Tatort-Folgen längst auch Epochen- und Zeitspiegel geworden sind. Eine Erkenntnis, die fast schon banal ist. Die ARD reagierte 1970 mit der Reihe auf die Reinecker-Krimis (»Der Kommissar« und, ab 1974, »Derrick«) im ZDF, die freitags, pünktlich zu Beginn des Wochenendes, um 20.15 Uhr ausgestrahlt wurden. Tatort-Krimis liefen jetzt am Ende, sonntags um 20.15 Uhr (zunächst noch eher unregelmäßig). Sozusagen zum Ausklang.
Die Reihe sollte die Regionalisierung der ARD abbilden. Die Kommissare wechselten mit dem Ort, wobei auch die vermeintliche Provinz gelegentlich zum Zuge kam. Lokalkolorit war Trumpf (das nivelliert sich seit Jahren; die Schauplätze sind bis auf Dialektfärbungen und Accessoires austauschbar geworden). Sehr früh wurden die Kommissare zu »Typen« (heute würde man »Marken« sagen). Sie bekamen Ecken und Kanten; es menschelte. Spätestens mit Rüpel-Schimanski wurde man auch über das meist desaströse Privatleben der Ermittler und ihren stetigen Kampf für das Gute mit den Vorgesetzten konfrontiert. Konzentrierte man sich anfangs noch auf die Lösung des jeweiligen Falls (wobei es fast immer Tötungsdelikte waren, die es aufzuklären galt), gab es später auch Drehbücher, in denen soziale und politische Aspekte thematisiert wurden. Inzwischen sind die meisten Tatorte »Whodunits«, d. h. der Zuschauer kennt den Täter nicht.
Mit der Durchsetzung des Mobiltelefons als Kommunikationsmittel wurde es für Drehbuch-Schreiber noch leichter. Der Input, der die Plotmaschine wie ein Hamsterrad antreibt, kommt nun fast ausschließlich über das Handy. Hier purzeln die Resultate von DNA-Untersuchungen, Fingerabdruck-Abgleichen und Alibi-Überprüfungen im Minutentakt herein. Der Zuschauer ist stets auf faktischer Augenhöhe mit den Ermittlern. Die Dialoge mit den potentiellen Verdächtigen – Kernstücke beispielsweise der Reinecker-Krimis – finden kaum noch statt; Kommunikation geschieht immer seltener mit sondern nur noch über sie. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass man kaum noch Schauspieler findet, die beispielsweise glaubhaft psychische oder soziale Deformationen spielen können.
Nahezu undenkbar heute, dass eine Nastassja Kinski wie 1977 in »Reifezeugnis« als eine Art Lolita, die ihren Klassenkameraden umbringt ein kaltes Lügengebäude errichtet, brillieren könnte. Geht es doch zunächst (und immer) um den Kommissar, die Kommissarin. Es gibt denn auch in den mehr als 40 Jahren Tatort-Geschichte kaum einen ernsthaften Schauspieler, der sich nicht als KommissarIn versucht hat. Die Versuchung ist einfach zu groß.
Die Reihe ist auch deshalb so erfolgreich, weil einzelne, schwächer werdende Glieder (Ermittler) einfach ausgetauscht werden. Wobei Schwäche fast immer eine Sache der Einschaltquoten zu sein scheint. Andernfalls kann man sich nicht erklären, warum das Kasperletheater des Münsteraner Tatorts immer noch produziert wird.
Womit man beim Realitätsgehalt der Folgen angekommen ist. Sonntäglich treffen sich Fans zum Twittern, um Unzulänglichkeiten und Fehler in der Geschichte zu diskutieren. Sie vergessen in ihrem Eifer allzu oft, dass es sich um Fiktion handelt, die außer einer gewissen Stringenz keinem Zwang unterworfen sind. Es müsste längst bekannt sein, dass die Ermittlungsarbeit der Polizei komplett anders aussieht. Tatort-Krimis – wie auch all die anderen Krimis, mit denen man inzwischen schon zur Vorabendzeit penetriert wird – sind keine naturalistischen Darstellungen. Bei der Tätersuche kann man sich dies zu Nutze machen: Der große Bösewicht ist nie ein Migrant (falls doch, gibt es sofort das ritualisierte Empören). Das organisierte Verbrechen existiert ebenfalls so gut wie gar nicht.
Fernsehmacher neigen dazu, an Erfolgsmodellen bis zum bitteren Ende festzuhalten. So wird es auch beim Tatort sein. Womöglich wird man noch Tatort-Nr. 1500 oder 2000 feiern (letzterer aus rein biologischen Gründen eher nicht mehr in diesem Blog). Aber mit der inflationären Häufung des Krimi-Formats wird die Bedeutung der Reihe, sein Mythos, eher sinken.
Und wer weiß: Vielleicht kommt ja irgendjemand irgendwann einmal auf die Idee, dass Weniger durchaus Mehr sein kann.
Man kann zum Thema Tatort natürlich auch das anmerken, was Gustl Bayrhammer 1981 zu seinem Abschied als Kommissar gesagt hat: „Des Krimifach, des is doch scho lang a abg’mahte Wies’n. Doa passiert nix mehr.“
(Quelle)
Ja, das kann man. Aber dafür blüht die Wiese doch noch erstaunlich lange... (Oder ist es nur »Unkraut«?)
Ein 100 Jahre alter englischer Rasen ist auch eine gemähte Wiese – er hat seinen Reiz, strahlt aber auch eine gewisse Langeweile aus.
Treffend formuliert. Gelegentlich müsste jemand etwas anderes säen, um es aufzulockern.