Kidzania ist ein vorsintflutlicher Spielkontinent, errichtet und betrieben mit den Mitteln modernster Technik und Kommunikation. Die Kinder gehen dort hin, um spielend zu arbeiten, also die Tätigkeiten der Erwachsenen zu imitieren, darunter solche, für die in der Erwachsenenwirklichkeit gar kein Personal mehr benötigt wird. Die meisten begleitenden Eltern oder Großeltern tun ihre Pflicht, indem sie digitale Reproduktionstechniken – Kameras, Handys – zum Einsatz bringen und die Kleinen bei ihren Tätigkeiten photographieren und filmen, was in der Regel ein Selbstzweck ist, insofern die Überfülle der gespeicherten Bilder in der Zukunft dieser Familien in virtuellen Abstellkammern verstauben wird (um eine vorsintflutliche Metapher zu gebrauchen). Das Ablichten selbst ist ein Ritual, eine Art Spiel, das die Gepflogenheiten in einer technisierten Konsumwelt bedient. Andere Angehörige sitzen in einer Ecke der Kinderstadt auf einer Ruhebank für Erwachsene und beschäftigen sich mit ihren Smartphones. Ein paar Minuten lang habe ich einem Vater über die Schulter geschaut, der eines dieser bunten Spiele spielte, wo man bewegliche abstrakte Formen ordnen und Hindernissen ausweichen muß. Während sein Sohn mit größtem Eifer die Rolle eines Polizisten ausfüllte, lümmelte der Vater da und gab sich der Beschäftigung hin, die vermutlich einen Großteil seiner Freizeit zu Hause, im Zug im Auto oder in der Mittagspause ausfüllt. Der Sohn wird diesen Grad der Infantilisierung erst im Erwachsenenalter erreichen. Einstweilen hängt er in seinem ernsten Spiel der Illusion nach, in der Welt der Väter würden vernünftige und bedeutsame Dinge geschehen, zu der jedes wertvolle Gesellschaftsmitglied seinen Beitrag zu leisten habe.
Ich selbst spiele keine solchen Games. Allerdings besteht ein Teil meiner Unterhaltung darin, spielversessene Erwachsene zu orten, sie zu beobachten und mich innerlich über diese Art von Kultur zu erregen. Ich suche nicht nach Pokemons, sondern verfolge Pokemon-go-Spieler. Einer, auf einem Bahnsteig in Osaka, tat es versteckt, hinter dem Rücken seiner etwa vierjährigen Tochter. So lasse ich mich selbst, erklärter Gegner der Infantilisierung, in meinem täglichen Verhalten von der technologischen Verspieltheit beherrschen. Wahrscheinlich wäre es besser, klein beizugeben, mir ein Smartphone oder Tablet zu kaufen und mich irgendwelchen dieser Spiele hinzugeben. Kritische beobachten oder einfach mittun, das macht letztlich gar keinen Unterschied. Außer vielleicht den, daß man nur mit einem Minimum an Distanz zu dem, was vor sich geht und Sache ist, darüber schreiben kann. Daran halte ich immer noch fest. Der nächste Schritt, die nächste Frage wäre: Wozu überhaupt schreiben? Wenn man doch schauen, berühren und klicken kann.
Nicht alle Tätigkeiten in Kidzania sind ernst, produktiv oder dienstfertig. Ästhetik und Showbusiness spielen genau wie in der Erwachsenenwelt eine wichtige Rolle. Allerdings doch eine vergleichsweise kleinere Rolle, denn die erwachsene Ökonomie setzt weit mehr als die kindliche auf Spiel und Spekulation, Wette und Design, Wunsch und Illusion, Kultur und Sport. In diesen mehr oder minder imaginären Bereichen macht der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts seine Profite. Eine der Tätigkeiten, die meine Tochter in Kidzania wählte, war die Fashion-Show, wie man hier sagt, und was wäre so eine Show ohne Photographien, die nach dem Event medial verbreitet werden. Die Modeschau gehört zu den Phänomenen, die durch die Visualisierung und Digitalisierung der Kommunikation gewaltigen Auftrieb bekommen haben, sie ist mitsamt ihren mageren, ungeschickt daherstapfenden, selbstversunken oder abweisend dreinblickenden Helden ein Emblem der Popkulturindustrie, und daß meine Tochter – wie ich selbst – Interesse dafür zeigt (sie vielleicht etwas weniger »kritisch«), kann ich ihr nicht verdenken. Kurz und gut, professionelle Photographen schwirren in Kidzania umher und photographieren die Kinder bei ihren Tätigkeiten, und die Modeschau ist ein Höhepunkt, der nicht unreproduziert bleiben darf. Hier liegt übrigens eine Verbesserungsmöglichkeit des Kidzania-Systems, denn die Photographen sind ausnahmslos Erwachsene. Wie wäre es, Kindertrupps unter der Anleitung von Profis zur Dokumentationstätigkeit auszuschicken? Am Ende des Arbeitstags kann man die ausgestellten Photos auf großformatigem Hochglanzpapier bewundern und käuflich erwerben. Freilich, photographieren ist da ausdrücklich verboten, sonst würden die Besucher, also die Kunden, die Reproduktionen mit ihren Handys reproduzieren und unentgeltlich mit nach Hause nehmen. Das ist eines der Phänomene der flächendeckenden Digitalphotographie und der unbegrenzten Speicherung von Bildern, die – im Prinzip – jederzeit abrufbar sind: Man braucht sich Informationen unterwegs nicht zu merken, man muß nichts ab- und aufschreiben oder gar abzeichnen, man drückt kurz auf den Auslöser und die Sache hat sich, ist bewahrt. Die Digitalität treibt im alltäglichen Verhalten der Masse der Konsumenten (vulgo Nutzer) das Vertrauen in die analoge Abbildung auf neue Höhen. Die Bequemlichkeit dieses Tuns, die Leichtigkeit, mit der man Fehler, Irrtümer, Mängel löschen, rückgängig machen oder korrigieren kann, fördert ein suchtähnliches Verhalten. Man kann nie genug Fotos schießen, zumal sie ja nichts kosten. Zwanzig Fotos oder zweitausend an einem Tag, das macht keinen Unterschied. In der prädigitalen Ära mußte man sich jede Aufnahme gut überlegen, nicht nur aus perspektivischen, aus ästhetischen Gründen, sondern auch, weil die Zahl der möglichen Schüsse durch den Film begrenzt und das Entwickeln teuer war. Im digitalen Zeitalter gibt es einen ungeheuren, und zwar täglichen Wildwuchs der stehenden und bewegten Bilder, die zum Glück fast allesamt für immer verschwinden und auf paradoxe Weise einer Vergeßlichkeit Vorschub leisten, einer Klick- und Auslösementalität, die in den gegenwärtigen Augenblick verstrickt ist und diesen versäumt, weil sie sich ja aufs Reproduzieren konzentrieren muß.
Im analogen Zeitalter, als ich ein Kind war, verwendeten wir viel Zeit auf die Zusammenstellung von Fotoalben, die einen Ehrenplatz im spärlich bestückten Bücherregal hatten und bei bestimmten Gelegenheiten hervorgenommen und angeschaut und gelesen wurden. Gelesen deshalb, weil wir uns passende Bildunterschriften ausgedacht und schöngeschrieben hatten, und weil diese Schreine der Dokumentation nicht nur Fotos enthielten, sondern auch andere Dokumente, Fahrkarten von Eisenbahnen und Seilbahnen, Eintrittskarten von Museen, zuweilen auch Gedichte oder Gebete. Viel Zeit? Nicht gar so viel, wenn man bedenkt, wieviel Zeit heute mit ziel- und ergebnislosem Surfen, Suchen und Warten, mit Sicherheitsvorkehrungen und Updates, mit unerwünschten Werbebotschaften und sinnlosen Mitteilungen der Schreiberlinge an unserem Arbeitsplatz verschwendet wird. Wir damals, wir versuchten die Dokumentation unserer Vergangenheit zu gestalten, und gewiß versuchen das heute noch viele, wobei sie naturgemäß elektronische Techniken zum Einsatz bringen. Speicherorte zu Dokumentationszwecken bieten auch die sogenannten sozialen Medien, die ja Freund- und Verwandtschaftsbeziehungen nachzubilden versuchen – wieder einmal digitale Technik im Dienste des Analogen! Facebook hat eine sogenannte Timeline, das Medium erlaubt uns, von der Oberfläche der täglichen, stündlichen, sekündlichen Nutzung zurückzugehen in die Tiefe einer Vergangenheit (das Wort selbst wird vermieden), aber de facto tun wir es nicht. Wenn einer unserer Beiträge – meist sind es Fotobeiträge – angeklickt, das heißt geliket, das heißt verbucht wird, dann immer am Tag des »Postings«, der privaten oder öffentlichen Veröffentlichung. Fordern Sie mal auf Facebook einen »Freundeskreis« dazu auf, sich gemeinsam die Fotos von vor drei Jahren anzusehen! Alle diese Freunde, zu denen potentiell alle geworden sind, sind doch längst dabei, neue Fotos zu schießen, herzuzeigen und im nächsten Augenblick zu vergessen, um sogleich neue Fotos zu schießen. Facebook und die analoge Welt, die die sogenannte virtuelle imitiert, drängen zum Smalltalk der Augenblickskommunikation, zum bemüht witzigen Geschwätz, zum Chatting, das ständig stattfinden soll, jeden Augenblick, ohne Inhalt, als bloßes Rauschen, denn im Augenblick tut man nichts als (sich) zeigen und chatten. Archive sind unter solchen Umständen keine Aufbewahrungsorte, sondern Müllhalden, die Gott sei Dank unsichtbar, unberührt, ungeklickt bleiben. Facebook hat für viele Ureinwohner der digitalen Welt dabei immer noch zuviel Text. Mehr und mehr User ziehen Orte wie Instagram vor, wo man klickt und blickt und sich Kommentare erspart.
Es ist gut ein Jahr her, daß ich mit einer Freundin im alten Stadtzentrum von Guadalajara, Mexiko, umherspazierte. Meine Freundin ist Photographin, sie macht häufig Fotos, speichert einen sorgfältig ausgewählten Teil davon auch im Internet, auf Flickr. (All diese seltsam kindlichen, wo nicht kindischen Namen, hinter denen sich mächtige, weltbestimmende Konzerne verbergen: Google, Apple, Yahoo, Twitter... Von oben herab, mit ihren globalen Gesten, suggerieren sie uns, all das, was wir tun und tun müssen, überall und täglich, sei ein Spiel und sonst nichts.) Bei einer schmiedeeisernen Gloriette seitlich der Kathedrale stießen wir auf ein altes Männchen mit vor der Brust baumelnder Kamera, das uns seine Photographendienste anbot. Ich zögerte; meine Freundin war begeistert. Ein echter, lebendiger – wie sagt man: Ausflugs‑, Platzphotograph? Wie ein Ehepaar, für das uns das Männchen vermutlich hielt, stellten wir uns unter das Gloriettendach, nicht die Kathedrale, sondern eine Miethausfassade im Hintergrund, und ließen uns ablichten, festhalten, dokumentieren. Danach verschwand das Männchen hinter dem Sockel der Gloriette, und wir folgten ihm vorsichtig, neugierig. Wir sahen, wie er in einer Nische mit einem kleinen Apparat hantierte, einem Drucker, an den er die Kamera angeschlossen hatte. »Neueste Technik aus Japan!«, bemerkte er stolz. Es war ihm überhaupt nicht peinlich, daß wir seine heimliche Werkstätte inspizierten. Vielmehr klagte er uns sein Leid, das Geschäft gehe nicht gut, wir seien seit sechs Tagen die erste Kundschaft, so lange habe er auf uns gewartet. Wir entlohnten ihn reichlich, aber seine Profession werden wir dadurch nicht retten können. Sie ist dem Untergang geweiht, da auch im Bereich des optischen Dokumentierens niemand mehr Konsument sein will, alle nur noch (Re-)Produzenten, in einem fort, unermüdlich, unersättlich.
Produktionskonsumenten. Konsumproduzenten. Jeder verfügt über eine, zwei, drei Kameras, jeder schießt in alle Richtungen. Nicht einmal die eigenen Fotos werden noch konsumiert, d. h. angesehen oder gar betrachtet, das Spiel des Klickens, des Auslösens genügt sich selbst. Insofern ist das Selfie als neues photographisches Genre mitsamt seiner in Windeseile perfektionierten Technik, seinen Accessoirs eine höchst konsequente Entwicklung und das nicht selten zu beobachtende Photographieren von Photographierenden ein letztes Sinnbild, sozusagen das Metaemblem unserer Zeit. Auch meine Freundin hat das alte Männchen bei seiner Arbeit abgelichtet. Nicht ohne ein Gefühl der Scham, wie sie mir gestand. Mit alldem verhält es sich so, als wollten wir alle tatsächlich die Wirklichkeit auslösen. Oder auslöschen. Auslösend auslöschen.
Immerhin, das mexikanische Männchen mit seiner alten Kamera und seiner neuen Technologie ist mir im Gedächtnis geblieben, und jetzt habe ich es schon zweimal, in zwei verschiedenen Texten, aufgeschrieben, auf meine Art festgehalten, an Orten, wo es zu bleiben und zu leben, also sich zu verändern verspricht. Denn das Geschriebene und das Erinnerte haben eines gemeinsam: Es bleibt nicht so, wie es einmal war, sondern bedarf der ständigen, über weite Strecken auch unbewußten Neugestaltung, also der Interpretation. Das Erinnerte ist wie das Geschriebene seinem Wesen nach keine Kopie. Im Unterschied zum Gespeicherten und zum Abgelichteten. Nur durch den Akt des Erinnerns bekommt unsere Vergangenheit Tiefe.
© Leopold Federmair