Unter den deutschen Nachkriegsintellektuellen ist Karl Heinz Bohrer zweifellos immer ein Solitär gewesen und das nicht nur aufgrund seiner Polemiken, die sich mit den (west-)deutschen psychopolitischen Befindlichkeiten vor allem des linksliberalen Bürgertums auseinandersetzten. Bohrer brüskierte seine Leser damit, dass er politisch-moralische Aspekte für sekundär, ja störend empfand. Dies galt und gilt sowohl für ein künstlerisches Werk als auch für eine gesellschaftspolitische Theorie. Dabei trennt er säuberlich zwischen Affirmation und Zustimmung – etwas, was seinen Zeitgenossen stets suspekt blieb. So ist er fasziniert von Dutschkes und Lefèvres »bleiche Energie« und der »brutalen Sprache« in linken Zeitungen 1967/68 obwohl er deren politische Ziele rigoros ablehnt. Er feiert den archaischen Todeskampf des Stiers durch den Stoß des Toreros mit ähnlicher Leidenschaft wie Ulrike Meinhofs »Ausdrücklichkeit«, wenn es um die Verbesserung der sozialen Verhältnisse in Deutschland ging, arbeitet die Schönheit der Lakonik eines Saint Just heraus, bekennt sich zu seiner Affinität zum Preußentum und stellt früh fest, dass »Literatur … primär nichts mit Inhalten zu tun haben« muss. Illustrativ zeigt sich dies am Beispiel von Michael Kohlhaas, der, nach Bohrer, nicht primär die ihm zugefügten Ungerechtigkeiten beseitigen möchte, sondern nach einem »intensiveren Augenblick der Existenz« sucht, den er schließlich in seinen Rachefeldzügen findet.
Damit wird gezeigt, wie langweilig für Bohrer die so gut ausgebauten literaturtheoretischen Trampelpfade waren. Im akademischen Betrieb sah er fast nur noch »Ideenreferate«. Er wollte zurück in die Sinnlichkeit der Literatur. Bohrer war und ist DER emphatische Leser, der stets bereit ist, alles noch einmal neu zu denken und in einen neuen Kontext einzubetten. So ist es fast natürlich, dass Bohrer den Geisteswissenschaften nicht den Rang von Naturwissenschaften zuspricht, weil ihre Empirien nur auf mehr oder weniger kanonisierten Interpretationen beruhen, die sich bei näherer Draufsicht als bloße Meinungen entpuppen. Ob in der Literaturexegese, dem Kunstdiskurs oder auch der politischen Debatte – überall entdeckt er »absehbare Ideen«, ein »vorentschiedenes Denken«. Dabei sind ihm teleologische Deutungen verhasst.
Bohrer tritt ein für das »Utopisch-Phantastische jenseits von politischen Projekten und ideologisch motivierten Hoffnungen…unabhängig…von Inhaltsreferenzen«. Für Bohrer zählt das Jetzt, das Ereignis, die Aktion. Je heftiger, desto besser. Daher mag der »Reaktionär« Revolutionen – auch wenn er mit ihren politischen Zielen nie übereinstimmt. Im Laufe der Zeit bevorzugt er Camus’ Definition der Revolte. Texte, die das Naheliegende, das Sichtbare analysieren und dabei verbleiben, sind ihm zuwider. Philosophen, die am Anfang einer Schrift bereits wissen, wie sie ausgeht, mag er nicht. Er sucht das Fremde im Bekannten (nicht nur in der Literatur), setzt sich für Differenz ein statt für Nivellierung. Gelegentlich vergisst er dabei allerdings, dass seine phantasmagorischen Exegesen (die zuweilen eben doch ein wenig l’art pour l’art sind) nur innerhalb eines Betriebes funktionieren, den er zugleich auch verachtet.
In seinem Roman »Granatsplitter«, der Mitte der 1950er Jahre endete, distanzierte sich der Erzähler noch hinter einem »Junge« oder »Er«. In seinem neuen Buch mit dem passenden Titel »Jetzt« sagt er »Ich«. Oberflächlich betrachtet wird damit der literarische Anspruch nivelliert, weil die Versuchung, das Ich-Buch vor allem als autobiographischen Text zu lesen, sehr nahe liegt. Bohrer bemüht sich allerdings wie in »Granatsplitter« während der einzelnen Episoden nicht klüger zu sein als der Erzähler es heute, in der nachträglichen Betrachtung, ist. Er spricht aus der jeweiligen Epoche, was sogar zur Folge hat, dass er sich zuweilen widerspricht. Aber dies verschafft »Jetzt« jene Ereignishaftigkeit, die sehr gut mit dem ästhetischen Konzept des Autors zusammenpasst.
Natürlich ist er nicht vor Eitelkeiten gefeit. Das Kapitel über seine leicht satyriastische Episode in der erweiterten Jugendzeit erscheint entbehrlich. Manches wirkt ein wenig hektisch-additiv. Anderes wird in typischem Fachjargon abgehandelt (etwa, wenn er sich Heine oder Benjamin vornimmt). Obwohl Bohrer irgendwann omnipräsent zu sein scheint, bleibt sein Verhalten Menschen gegenüber zumeist distanziert. In einem Gespräch mit Svenja Flaßpöhler wird er nach prägenden Persönlichkeiten in seinem Leben jenseits des von ihm als letzten Hegelianer verehrten Jürgen Habermas gefragt. Er überlegt länger, schließlich fällt ihm Ulrike Meinhof ein um dann schnell zu bekennen, dass ihn Bücher beeinflusst hätten, weniger Personen und vor allem keine Universitätsprofessoren.
Bis Mitte der 1990er Jahre werden im Buch viele wichtige (west-)deutschenkultur- und sozialgeschichtliche Debatten kommentiert, vor allem wenn Bohrer der »Anstifter« ist. Danach merkt man ein schwindendes Interesse für die Befindlichkeiten des deutschen Feuilletons. Bohrer war zudem deprimiert weil aus der Wiedervereinigung, die er begeistert begrüßte, keine grundlegenden politisch-mentalen Veränderungen Deutschlands resultierten. Manchmal schienen ihm die »intensiven Momentwahrnehmungen in Peter Handkes neuer Prosa…mehr einzuleuchten…als die gescheiten diskursiven Beiträge im ‘Merkur’ «.
In den 2000er Jahren hatte Bohrer persönliche Schicksalsschläge zu verarbeiten (unter anderem der Tod seiner Frau Undine Gruenter). Er wechselt nach Stanford und New York. Hier rücken Hölderlin, der amerikanische Western, die Tragödie und die griechischen Götter in den Fokus. Schirrmachers »mystisch-assoziative« Texte bekommt er nur indirekt mit, weil er keinen Internet-Anschluss hat. Insgesamt kann er mit der »sogenannten ironischen« Generation Golf nichts anfangen, hält sie für politische und intellektuelle Leichtgewichte. Beklagenswert findet Bohrer den immer flüchtiger werdenden Stil in der Werbung, was er auf dem Stilverlust in anderen gesellschaftlichen Bereichen extrapoliert, die »sentimentale Stilisierung der arabisch-muslimischen Religion« und ein sich immer mehr breitmachender »konforme Mainstream« in den Medien. Deren einzige Leistung bestünde darin, Empörungswellen Raum zu geben. Er moniert bei den Deutschen die »Abwesenheit von Staatsbewusstsein« und hält die europhilen Bekundungen deutscher Intellektueller und Politiker für naiv.
Obwohl lange bei der FAZ arbeitend, galt Bohrer mit dem emphatischen Interesse für die Studentenbewegung und die RAF lange als Bürgerschreck. Mit seinem Provinzialismus-Vorwurf an die Bundesrepublik der 1980er Jahre befriedigte er dann das linksalternative Lager, die dies als explizite Kritik am ungeliebten Kohl nahm, bis sie bemerkten, dass auch sie gemeint waren. Diese Formen der Vereinnahmungen und Missverständnisse nahm Bohrer durchaus in Kauf und verfolgen ihn bis heute. In einer aktuellen Diskussion zwischen Sigrid Löffler, Helmut Böttiger und Eberhard Falcke zu »Jetzt« wurde Bohrer flugs in die rechte Ecke gestellt, denn wer Jünger analysiert, die EU kritisch sieht und politische Versäumnisse in der Flüchtlingskrise stellt, muss einfach »rechts« sein, so das einhellige Urteil. Journalisten und Feuilletonisten brauchen nun einmal dringend Etiketten, mit denen sie Personen versehen können, nicht zuletzt um ihre schwach ausgeprägte Diskurskompetenz zu camouflieren. Im Übrigen, so die drei traurigen Gestalten weiter, habe mit Phänomenen wie Brexit, Trump und Erdoğan doch gerade Bohrers Ereignisästhetik Hochkonjunktur. Diese Äußerungen lassen hoffentlich nur auf eine ungenügende Lektüre schließen, allenfalls müsste man sie wahlweise als einfältig oder niederträchtig bezeichnen. Denn es geht Bohrer gerade nicht um exotisch-apokalyptische Politikentwürfe, wie man beispielsweise am Kapitel über den Thatcher-Schock von 1979 hätte nachlesen können. Und wer noch ein wenig genauer schaut, wird erkennen, dass Bohrer sehr wohl den »rechten« Duktus ablehnt (mehr noch als den linksextremistischen). So rekurriert er bei Jünger ausdrücklich nicht auf dessen Kriegsromane, den »Arbeiter« und das Verhältnis zur Weimarer Republik, sondern auf das »Abenteuerliche Herz«. Hier zeigt sich bei den Kritikern das fehlende Differenzierungsvermögen – durchaus ein Kontinuum, wie an einer Episode im Buch verdeutlicht wird. Da erhielt Bohrer in den 1970er Jahren einen lobenden Brief von Carl Schmitt, der damals wie heute als dubios angesehen wurde. Er beschloss das Lob auch vor den besten Freunden (inklusive Habermas) zu verschweigen, um nicht in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden. Vielleicht hätte er es nicht erwähnen sollen, aber dann hätte irgendein »investigativer Journalist« irgendwann »enthüllt«.
Einmal schreibt Bohrer, die von ihm zwischen 1991 und 2011 mitherausgegebene Zeitschrift »Merkur« habe »immer eine leichte Überforderung« für die Rezipienten sein sollen. Ergänzend stellt der geneigte Leser fest, dass Bohrers Texte nicht immer leicht zu verstehen sind (also doch ein bisschen mit »Rücken zum Publikum«). Daher also der Keim für die Missverständnisse? Nein, er habe keine Furcht mehr, missverstanden zu werden, deklamiert Bohrer. Im Gegenteil: »Meine Abweichung vom linken, oder sagen wir besser: konformen Mainstream wurde ganz richtig verstanden.« Er gesteht, die Eklats genossen zu haben und macht sich einerseits lustig über das »Wörterbuch des Gutmenschen«, welches »verbotene« Ausdrücke aufliste und beklagt andererseits ein »Gesinnungsdiktat«. Aber auch seine Refugien London und Paris verändern sich für ihn. Dabei sind seine Wahrnehmungen nicht nur von Melancholie getränkt, sondern bieten wache Analysen. So gibt es seit Jahren kaum einen schärferen Blick auf das gespaltene Frankreich als vom frankophilen Bohrer.
»Jetzt« zeigt einen quecksilbrigen Geist, der in Festreden immer gerne beschworen und ein bisschen arg demonstrativ vermisst wird, im Alltag jedoch maximal nur noch als exotische Beigabe erwünscht ist. Bohrers Phänomenologie befremdet die in akademischen Strukturen Gefangenen zusehends mehr. Mit Verblüffung stellt man Parallelen zwischen Bohrers Zustandsbeschreibungen zur Gegenwart mit den an die bundesdeutschen Verhältnissen der 1950er und 1960er Jahre fest, als Dogmen und ein »common sense« Diskurse und politische Entscheidungen dominierten. Damals wie heute hatte der Abweichler wenig Sympathien. Der Unterschied bestand jedoch darin, dass Abweichungen damals durchaus noch in Massenmedien publiziert und vor allem diskutiert wurden. Zuweilen wirkt Bohrers kulturkritisches Parlando etwas überzogen. Dass er sich sowohl intellektuell wie auch praktisch der »digitale Revolution« verweigert, erscheint etwas prätentiös. Aber vielleicht hat Bohrer die Entwicklung einfach antizipiert, denn heute glühen fast nur noch die Echokammern. Nichts für einen Karl Heinz Bohrer.
Jetzt funktioniert’s wieder! Und gleich ein interessanter Hinweis auf einen Mann, dessen Namen ich zwar schon gelesen hatte, aber über den ich rein gar nichts wusste.
(Übrigens: Die nachstehenden Namens- und E‑mail-Zeilen waren bislang vorausgefüllt – sie sind es jetzt nicht mehr.)
Ja, sehr merkwürdig – es gab auch diesmal keine Fehlermeldung mehr.
Zu »Jetzt« empfehle ich unbedingt auch die Besprechung von Jürgen Nielsen-Sikora auf Glanz und Elend.
Hm, Kohlhaas’ Suche nach einem »intensiveren Augenblick der Existenz« ist doch auch Inhalt, jedenfalls interpretierter, oder?
Die verlinkte Diskussion gebiert ihre »verschwörerische« Interpretation gleichsam selbst: Da wird über zwei Drittel der Zeit doch ganz ordentlich betrachtet und auseinandergesetzt, um dann drei Minuten vor dem Ende alles etwas ungelenk und schlampig über die Tischkante zu wischen. Und das eingangs gebrachte Zitat passt dazu verdächtig gut.
Ich bin nicht sehr bewandert in der Kleist- bzw. Kohlhaas-Exegese. Gängig dürfte jedoch die Interpretation über die Kohlhaas zugefügten Ungerechtigkeiten und dem hieraus resultierenden Irresein bzw. Furor des Protagonisten sein; die Frage von Recht und Gerechtigkeit (nebst Luther-Exegese). Dass Kohlhaas’ Verhalten unabhängig vom Vorkommnis selber gedeutet wird, dürfte mindestens ungewöhnlich sein. Bohrer bemerkt ja auch die Verwunderung der Studierenden.
Das Kapitel über seine leicht satyriastische Episode in der erweiterten Jugendzeit erscheint entbehrlich.
Das finde ich nicht, es gehört zur Person, ist altersgemäß. ;) Und es wird von Camus geklammert und geht „fließend“ in Betrachtungen zur Kolonialpolitik Frankreichs und Englands über.
(Habe das 2. Kapitel gerade erst abgeschlossen.)
Ja, das kann man so sehen. Überhaupt sind die Übergänge von Bohrer zuweilen sehr gut gelungen.