(Anlässlich der Ausstellung der Zeichnungen von Peter Handke in der Galerie Friese in Berlin)1
Vor 35 Jahren habe ich im Nachwort für meine Übersetzung des Buches Wunschloses Unglück den Schriftsteller Peter Handke als einen »totalen Autor« beschrieben, der sich in vielen Kunstarten erprobt hat – in der Literatur, im Theater, in der Kinematographie; damals war nicht bekannt, dass Peter Handke auch zeichnet. Die gegenwärtige Ausstellung der Zeichnungen des Schriftstellers Peter Handke in der Galerie Friese in Berlin bringt das zutage. Die Ausstellung sei »fundamental«, war die Einschätzung vieler Medien im deutschsprachigen Raum. Gleich, wenn man die ungewöhnlichen Bilder des Künstlers anschaut, der als episch-lyrischer Erzähler, Dramatiker und Filmemacher bekannt ist, hat man ein überwältigendes ästhetisches Erlebnis. In der Auseinandersetzung mit diesen miniaturhaften Zeichnungen, die auf einfache Papierblätter des Formats DIN A4 aufgeklebt und dann mit Stecknadeln auf die weißen Wänden gesteckt wurden, bewegen uns die plastischsten Wahrnehmungen, erschütterndsten Gefühle und unterschiedlichsten Gedanken. Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit Peter 1984, als ich mit ihm über das Kino sprechen wollte; er wich dem immer wieder aus, obwohl er damals einige wichtige Filme gedreht hatte; es war auch bekannt, dass Peter Handke Wim Wenders entdeckt und dabei unterstützt hatte, zum Filmemacher zu werden; (sie hatten ihren ersten Film gemeinsam gedreht – »3 amerikanische LPs«). Das Gespräch über Kinematographie vermeidend, lenkte Peter die ganze Zeit meine Aufmerksamkeit auf die Malerei – insbesondere auf Paul Cézanne, der damals für Handkes Literatur sehr wichtig war. Gleich nach dem Gespräch begann ich auch meine Übersetzung des Buchs Die Lehre der Sainte- Victoire. Lange habe ich nicht verstanden, warum es zu diesem »Malerei contra Film« kam.
Jetzt, nachdem ich die Ausstellung von 107 Zeichnungen in Berlin gesehen habe, ist mir klar geworden, dass Handkes Zeichnungen das Wesentliche seiner literarischen Kunst und seine Leidenschaft für das, was ihn künstlerisch beschäftigt, in sich tragen. Handkes Zeichnungen erscheinen mir als Embleme, Zeichen, Spiegelungen und Begleiter von allem, was er schreibend erlebt hat, sowohl des Realen als auch des Imaginären.
An den Zeichnungen Handkes, manchmal nur leichte Streifen mit dem Bleistift, Filzstift, Kuli oder Füller, in einem Heftchen, das in die Sakko- oder die Hosentasche passt, an diesen ganz einfachen und so zauberhaften Bildchen, liest man die Spuren von vielen Bewegungen des Schriftstellers, von seinen Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken. Man erkennt aber auch vieles von seinen Verfahren sowohl im literarischen Erzählen, im Schreiben für das Theater, als auch in seinem filmischen Erzählen. Etwa das Bild des Tuchs an einem Haken in der Küche des Klosters Velika Remeta in Serbien und auf dem selben Papier unten waagrecht das Gesicht einer Frau im Flugzeug zwischen Belgrad und Paris: zeigen die beiden »Fragmente« nicht die »jumping cuts« aus den Beschreibungen vom Karst im Buch Die Wiederholung, oder jene Übergänge des Blicks von einem Punkt zum anderen durch das Fenster des Busses beim Verlassen der Enklave im Buch Die morawische Nacht, oder jenes Aneinanderreihen unterschiedlichster Erscheinungen beim Vorbeigehen im großartigen Text für das Theater Die Stunde da wir nichts voneinander wussten? »Mein Erzählen muss sich entwickeln wie eine Fahrt im Omnibus oder im Zug durch eine Landschaft, in der wir mal das Eine, mal das Andere wahrnehmen«, sagte Handke im selben Gespräch vor mehr als drei Jahrzehnten. Genau so erleben wir die Besichtigung der Bilder in der Galerie Friese: wie das Lesen der Bücher des Schriftstellers, jetzt aber als »besondere Manuskripte«; oder wie eine zauberhafte Fahrt mit dem Zug oder Omnibus, bei der wir neugierig, konzentriert, dieses und jenes registrieren und beobachten; oder wie das Betrachten eines Films über das Schreiben selbst, mit den Linien, Streifen, Flecken, Schraffuren und Buchstaben in Haupt- und Nebenrollen.
Über die literarische Sprache Peter Handkes kann man sagen, dass sie, selbst wenn die Sätze sehr kompliziert gebaut sind, immer frei ist von jeglicher Unnatürlichkeit, Künstlichkeit, Besserwisserei und anmaßender Autorität. Handkes Texte gehen von einem leeren Raum aus und bewegen sich in Richtung einer Fülle konkreter Vorschläge für die Befreiung von einer sturen, überstabilen, erstickenden institutionalisierten Weltanschauung. Auch in diesen Zeichnungen geht es um jenen paradigmatischen »Blick des Kindes«, direkt, einfach, aufmerksam, zart, nicht gewaltsam. Diese Zeichnungen spiegeln die oft »naive », »elementare », »einfache« Rezeption der Größen des Kanons, die dann zu den »Lieblingen« des Schriftstellers werden: Homer, Juan de la Cruz, Hölderlin, Novalis, Antonio Machado, Goethe, Cervantes, Tolstoi, Walker Percy, Francis Ponge, Emmanuel Bove, Modiano; John Ford, Ozu , Godard, Eric Rohmer, Kiarostami; antike Tragiker, Shakespeare, von Horvath; Paul Cézanne. In der Kunst von Handke finden wir die Verifikation jenes ursprünglichen Impulses: es fängt mit freiem Schauen auf die Welt an, vom Herzen ausgehend. Man spürt dabei keinen Druck der Autorität der Schule, des Akademismus, der Ideologie. Kaum zu glauben, dass jemand, der in einem strengen Internat geschult wurde, so frei sein kann bei seinem Schauen auf die Welt und die Kunst. Man könnte sagen, dass Handke immer in der Rolle eines »Autodidakten« ist, selbst dann, wenn er kein Autodidakt ist. Er weiß sehr gut, dass er mit einem »einfachen Diskurs« und »naiven Blick«, ohne das Zerstören primärer Reaktionen, nah und wirklich bei sich selbst und seinen Lesern und Zuschauern sein kann.
Auf die Frage, woher die Idee für diese außergewöhnliche Ausstellung gekommen sei, sagte der Kurator und Galerist Klaus Gerrit Friese, dass er Peter Handke nicht als Zeichner gekannt habe, bis er im Buch Vor der Baumschattenwand nachts einige Illustrationen des Schriftstellers gesehen habe. Gleich sei er sehr beeindruckt gewesen durch die »einmalige, eigenartige, ganz ungewöhnliche Strichführung des Zeichners, die zu keiner Schule gehört«. Und als sich der Galerist die Zeichnungen in den Heften anschaute, sah er, dass der Zeichner Peter Handke eine evident erkennbare eigene »Handschrift« hat. Er dachte, eine Ausstellung der Zeichnungen des Schriftstellers würde eine wichtige Ergänzung seines Opus sein, und ein Versuch, dieses wertvolle zeichnerische Material zu retten, das kein langes Leben haben wird, weil billige Stifte benutzt wurden, deren Spuren schnell verbleichen werden. Peter Handke war mit der Ausstellung einverstanden. Danach kam zu einer einzigartigen Aktion: der Schriftsteller schnitt die Zeichnungen aus seinen Heften heraus, zum Entsetzen vieler Liebhaber dieser Notizbücher. Handke klebte die Zeichnungen auf Papierblätter und schrieb Sätze mit manchmal rätselhaften Inhalten dazu. Die Idee, die Papierblätter mit Stecknadeln an der Wand zu befestigen, kam vom Friese selbst. Die Zeichnungen wurden in einer langen Reihe an den Wänden der Galerie ausgestellt. Sie sind nicht zu kaufen, sondern nur zum einmaligen Schauen und Lesen. Ein Katalog wird vorbereitet, er soll das Leben dieser wertvollen Kunstwerke verlängern. Den Mitarbeitern der Literaturarchive in Wien und Marbach stehen die Haare zu Berge angesichts der Tatsache, dass die wertvollen Notizbücher, aus denen die Zeichnungen ausgeschnitten wurden, de facto »zerstört« sind. Das sind aber jene unwiederholbaren künstlerischen Aktionen – für Peter Handke sind seine Hefte kein archivarisches Material. Nach dem Besuch der Ausstellung habe ich mit einigen deutschen Künstlern darüber gesprochen. Die Künstlerin der cut-outs Nina Pops war begeistert vom Mut des Künstlers Peter Handke, mit dem Skalpell die Züge zu ziehen, nach denen es kein Zurück mehr gibt. Rainer Splitt, der Autor des Farbengusses, trauert den Heften nach und wünscht sich, dass die Zeichnungen, performativ, wieder dorthin zurückgebracht werden, wo sie hingehören. Ich, der ich oft Handkes Hefte in meiner Hand gehalten habe, selbst diejenigen, aus denen jetzt die Zeichnungen ausgeschnitten wurden – vermisse die alten Hefte und vermisse sie wieder nicht; ich bin vor allem bezaubert von dieser großartigen Ausstellung, in der ich sehe, dass selbst Reliquien, in diesem Fall die Hefte Handkes, ein Recht auf neue Lebendigkeit haben. Und der Schriftsteller hat das gerade durch seine Aktion des Ausschneidens ermöglicht.
© Žarko Radaković
Žarko Radaković (*1947), Schriftsteller, langjähriger Mitarbeiter der Deutschen Welle, übersetzte 26 Werke von Peter Handke ins Serbische.
Dank an die Genehmigung zum Abdruck der Bilder an Klaus Gerrit Friese und Žarko Radaković – G. K.
bis 2. September 2017 ↩
Cool. Schön...
Trotzdem eine kleine Berichtigung: der erste Kurzfilm von Wenders ist von 1969. 1984 war er längst ein weltberühmter Regisseur, in diesem Jahr kam »Paris, Texas« heraus. Beide mögen sie noch lange leben und schaffen, und der serbische Übersetzer auch.
Der Zarko, die treue selbst, 26 übersetzt, ich nur eine dutzend stücke, zwei gedichtsammlungen und einen roman, das kursiv zitat und insbesondere die unterzeichneten passagen aus einem lobgesang den ich en gros teile koennte als eingang zu einigen überlegungen ueber phänomenologie fuehren i.e.:
inwiefern das kindliche sehe n unvoreingenommen ist
also ob das wirklich stimmt
oder eine sentimentalisierung in der richtung vor-freudsche landschaft ist.
auch über die angebliche un-Künstlichkeit der Sätze in werken die doch oft bewusst artificiel gemacht sind – also die die unnatuerlichkhkeit von literarischen kunstwerken direkt zugeben – koennte man sich lange unterhalten oder streiten.
Über die literarische Sprache Peter Handkes kann man sagen, dass sie, selbst wenn die Sätze sehr kompliziert gebaut sind, immer frei ist von jeglicher Unnatürlichkeit, Künstlichkeit, Besserwisserei und anmaßender Autorität. Handkes Texte gehen von einem leeren Raum aus und bewegen sich in Richtung einer Fülle konkreter Vorschläge für die Befreiung von einer sturen, überstabilen, erstickenden institutionalisierten Weltanschauung. Auch in diesen Zeichnungen geht es um jenen paradigmatischen »Blick des Kindes«, direkt, einfach, aufmerksam, zart, nicht gewaltsam. Diese Zeichnungen spiegeln die oft »naive », »elementare », »einfache« Rezeption der Größen des Kanons, die dann zu den »Lieblingen« des Schriftstellers werden: Homer, Juan de la Cruz, Hölderlin, Novalis, Antonio Machado, Goethe, Cervantes, Tolstoi, Walker Percy, Francis Ponge, Emmanuel Bove, Modiano; John Ford, Ozu , Godard, Eric Rohmer, Kiarostami; antike Tragiker, Shakespeare, von Horvath; Paul Cézanne. In der Kunst von Handke finden wir die Verifikation jenes ursprünglichen Impulses: es fängt mit freiem Schauen auf die Welt an, vom Herzen ausgehend. Man spürt dabei keinen Druck der Autorität der Schule, des Akademismus, der Ideologie. Kaum zu glauben, dass jemand, der in einem strengen Internat geschult wurde, so frei sein kann bei seinem Schauen auf die Welt und die Kunst. Man könnte sagen, dass Handke immer in der Rolle eines »Autodidakten« ist, selbst dann, wenn er kein Autodidakt ist. Er weiß sehr gut, dass er mit einem »einfachen Diskurs« und »naiven Blick«, ohne das Zerstören primärer Reaktionen, nah und wirklich bei sich selbst und seinen Lesern und Zuschauern sein kann.
leider weiss ich nicht wie man hier dann kursive setz
Kursiv setzt man mit em> zu Beginn und /em> am Ende, wobei das Leerzeichen zwischen und em entfällt. Wollen Sie es noch einmal versuchen?
Schöner Text (ein wenig schade, dass die Zeichnungen auf der Seite der Galerie Friese nur recht klein sind). Über die Natürlichkeit bin ich auch gestolpert; wenn Literatur immer künstlich ist, dann ist Natürlichkeit wohl unzutreffend; man kann aber sicherlich mehr oder weniger gekünstelte Schreibstile von einander unterscheiden, vielleicht ist es so gemeint.
Wahrnehmung ist nie unbefangen oder unvermittelt, wenn man das Kind aber als das Andere der Gesellschaft begreift, als ihr noch nicht einverleibt oder erst am Beginn dieses Prozesses stehend, was etwas anderes als Unschuld ist (vgl. Freud), dann könnte man das kindliche Sehen durchaus als unbefangen (oder: weniger unbefangen) auffassen (unmittelbarer, staunender; weniger ordnend, begreifend, abstrahierend; mehr das, was sich zeigt, wahrnehmend). — Auch wenn ein Künstler kein Kind mehr ist, ist der Vergleich doch fruchtbar und manche Parallelen sind m.E. nicht von der Hand zu weisen.
@Leopold Federmair
Fehler wurde inzwischen auch aufgrund der Intervention des Verfassers korrigiert. Danke für den Hinweis.