In der Nähe des sich ins Gelände schmiegenden, mehrstöckigen Gebäudes des Kindergartens, den meine Tochter zwei Jahre lang besucht hatte, überholte mich ein Kleinlastwagen und bog dann in eine schmale Nebenstraße, die ich noch nie befahren hatte. In die Pedale tretend, folgte ich dem Wagen aus bloßer Neugier, wo die Straße wohl hinführen mochte, wobei der Abstand zum Kraftfahrzeug größer wurde, zuletzt aber, vor der niedrigen Unterführung, die die Autobahntrasse durchlöchert, wieder kleiner. Ich machte halt, wartete einige Sekunden vor der dunklen und feuchten Höhlung, fuhr dann zwischen Pfützen weiter.
Kurz nach der Unterführung endete die Straße an einem Staudamm, hinter dem sich einer der vielen Teiche zur Bewässerung der Reisfelder befindet. Ich stieg ab und schob das Fahrrad vorsichtig, um nicht anzustreifen, vorbei am Wagen, der in der Nähe einer hellen, zum Damm hochführenden Treppe haltgemacht hatte. Das Fahrzeug besaß eine jener durchsichtigen, nur leicht getönten Seitentüren (aus Plexiglas?), wie man sie an neueren Modellen von Lastwägen häufig sieht. Mit einem einzigen Blick erfaßte ich das Profil des Mannes mit schütterem schwarzem Haar und bräunlicher Gesichtsfarbe, das Handy in seiner aufs Lenkrad gestützten linken Hand und das erigierte Glied, das aus seinem Schoß ragte, ein nichtssagendes – so das Beiwort, das mir durch den Kopf schoß – Stäbchen von derselben Farbe wie sein Gesicht, in der rechten.
Ich ging weiter, ohne mein Schrittempo zu ändern, hielt mich links, wo ein Pfad begann, spürte die Blicke des Mannes – nein, spürte keine Blicke, sondern war überzeugt (und spürte), daß seine Aufmerksamkeit von dem gefangen war, was er auf dem Display sah, und von den Empfindungen, die die Bilder wie Wellen (spürte ich) begleiteten. Nach kurzem öffnete sich am Fuß der Autobahntrasse ein Graben, oder eher eine Mulde, die nach wenigen Metern am Rand eines Waldes endete, der parallel zur Betontreppe ansteigt und den Teich säumt. In dieser Mulde lag, von Gras, Schlingpflanzen und Lianen überwachsen, ein ehemals weißes, jetzt fast erdfarbenes Personenkraftzeug mit eingedrücktem Dach, aber nicht umgedreht, sondern auf den Rädern, was den Schluß nahelegte, daß sich der Wagen wenigstens einmal überschlagen hatte. Von Neugier getrieben, näherte ich mich und sah zuerst nur, zwischen Grashalmen und gelben, hochstieligen Blumen, einen Schlüsselbund, eine verrottete Sporttasche, eine Zeitschrift (mit pummeligen Mädchen im Bikini), die vermutlich lange nach dem Unfall hier zurückgelassen worden war. Dann aber wanderte mein Blick in den Fußraum vor dem Beifahrersitz und erkannte im Halbdunkel einen Totenschädel, grünlich von der in diesem Winkel besonders dichten Feuchtigkeit, die Zahnreihen fast ohne Lücken, an den Mundwinkeln zugespitzt, so daß ich im nachhinein zweifle, ob der Schädel wirklich einem Menschen gehörte oder nicht doch einem Tier. (Im Winter, wenn die Nahrung in den Wäldern knapp wird, kommen manchmal Affen bis an die Gartenzäune der Einfamilienhäuser.)
Was ich hier mit unvermeidlicher Umständlichkeit erzähle, vollzog sich tatsächlich innerhalb weniger Sekunden. Die Plötzlichkeit meines Erschreckens, als die beiden Vipern aus den Öffnungen des Totenschädels sprangen, läßt sich mit Worten gar nicht wiedergeben. Sie waren klein, nicht sehr lang, vielleicht noch jung, und feuerbunt, wie sprühend, mit roten, grünen, gelben Flecken im Schwarz des Körpers. Ich hörte sie leise zischen, während sie mit erhobenen Köpfen im Wald verschwanden. Auch mir fiel nichts Besseres ein, als die Flucht zu ergreifen (das Fahrrad ließ ich stehen, ich dachte gar nicht daran, es mitzunehmen). Jeweils zwei Stufen nehmend, lief ich die Betontreppe hinauf. Ich weiß nicht, was mich mehr bedrängte, die Schlangen, der Totenschädel oder das nackte Glied des Lastwagenfahrers.
Am Stauteich angelangt, verschnaufte ich ein paar Sekunden. Ich wagte kaum, mich umzudrehen, hörte aber, wie der Motor des Kleinlasters anging und das Fahrgeräusch von den Wänden der Unterführung kurz verstärkt und dann gedämpft wurde, bevor es verstummte. Das Fahrrad würde ich auf dem Rückweg holen. Ich hastete durch eine Schneise, von einem Strommast zum nächsten, und die Vögel – oder waren es Zikaden? – schrien lauter als sonst, als müßten sie mein Erlebnis geifernd kommentieren. Mir ist, als haste ich immer noch, aber das Fahrrad steht unten auf seinem Platz, beschädigt zwar, mit zwei herausgebrochenen Speiche... Beschädigt von wem, diese Frage bleibt mir ein Rätsel. »Das Leben geht weiter«, eine Floskel wie diese, was sonst ließe sich hier noch anfügen?
© Leopold Federmair