gesetzt, ich würde
gesetzt, ich hätte
also: ich hatte
meine Tochter, mein Ein und Alles und mich
meinen einzigen Schatz, der ich sonst nichts besitze
besitzen will
mein Talent ver
gessen
ver
schleudert
ver
dörren lassen
also ich, hilfsbedürftig und verschwiegen, hatte sie, da sie noch klein war, bei Verwandten gelassen, wußte aber leider nicht mehr, bei welchen, so daß ich nun meine eigene Familiengeschichte abgrasen müßte, um zu meinem Ein und Alles zurückzufinden. Das will ich jetzt versuchen, was bleibt mir übrig (nichts!), denn ich hatte doch – meine Rechtfertigung! – einen Auftrag zu erfüllen (gehabt) im Namen meiner Schwester Maria oder meiner Freundin Adelheid, die ihn selbst nicht erledigen konnte. Ich hatte mich mit ihrem Hündchen in der Einkaufstasche, einem winzigen wuseligen grauen Hündchen, das erkrankt war und fast erschlafft jetzt, auf den Weg zum Kleintierarzt gemacht, wie hätte ich meiner Freundin oder Schwester die Bitte abschlagen sollen unter solchen Umständen, da sie verhindert war. Und wo anders hätte ich mich hinbegeben sollen als in die Kleintierarztpraxis unserer gemeinsamen Freundin Brigitte. Als ich dort ankam, war das Wartezimmer menschenleer und übersät von mehr oder weniger kaputtem Kinderspielzeug und Papierschnipseln und bedruckten, aus Kinderbüchern gerissenen Seiten: eine gestrandete und verlassene Arche Noah, alle Tiere und Kinder längst ausgeschifft. Die Guten hatten sich mit ein wenig Glück eine neue Welt zurechtgemacht, aber ohne sie, ohne meine Tochter, mein Ein und Alles, mein Talent: traurige Welt! Nein, hier konnte ich das Hündchen nicht heilen lassen, und in diesem Augenblick war meine Tochter vielleicht zum ersten Mal, ohne daß ich es merkte, verschwunden, dabei hatte ich nicht einmal meinen Auftrag erfüllen können
also ich, verwirrt vom Zuviel und Zuwenig, geriet auf meiner hektischen Reise-Suche nach dem Talent in die Gaststube und schließlich, mich unter den K + M + B Türbalken duckend, in die weitläufige Küche mit dem großen Herd, wo meine Tante herrschte. Auch meine beiden Vettern waren da, gefinkelt der eine, schwachsinnig der andere, daran hatte sich nichts geändert, nur daß sie alle drei merkwürdig herumstanden in der Gegend, hinter ihnen die aus dem Eisenloch züngelnte die rote Herdflamme, als kämen die Wörter langsam, oder doch nicht, in die Spur. Standen da mit halb gesenkten, halb erhobenen Gesichtern, als wären sie ratlos oder schlechten Gewissens, so daß ich langsam in Zorn kam und mich zügelte gleich der Herdflamme, neben der das Beuschel brodelte oder die Äpfel, gedünstete Äpfel mit Zimt. Die Tante versuchte mir etwas anzubieten, sogar Most, auch Süßmost, sagte sie, für deine Tochter, wenn du eine hast (sie glaubte mir nicht), jedenfalls hier ist sie nicht, schau! Sie streckte ihre rissigen Kochhände vor, wies ihre zwei blödsinnigen Kinder an, selbiges zu tun: Sechs leere Hände, die dir Süßmost bringen, wenn du willst, paßt aber nicht zum Beuschel, trink lieber ein Bier, Alter! Vor schlechtem Gewissen, das wuchs zu einem Berg, der mich bedrückte, saß ich auf der Eckbank unter der verwischten Kreide von K + M + B, brachte keinen Bissen hinunter, kein Wort heraus. Was hatte ich hier nur verloren
An Die Stunde der wahren Empfindung, also das Buch von Peter Handke bzw. dessen Lektüre, habe ich eine schöne Erinnerung . . .
Liest man es dann aber nochmals und nochmals, fällt einem bald einmal auf, daß das, was darin erzählt und gezeigt wird, und die entsprechenden oder widersprechenden Empfindungen, gar nicht alle so schön sind. Es ist wie im Leben, man bewahrt das Schöne, das Häßliche streicht die Erinnerung weg. Aber viel davon kehrt zurück, wenn man sie nur ein bißchen drängt. Beim zweiten und dritten Lesen erschien mir dieser Gregor Keuschnig dann doch als gefährdeter Mensch, seine Hyper-Aufmerksamkeit auf alles und sich selbst kann jederzeit in Krankheit, Depression oder Amoklauf umschlagen. Ja, Keuschnig ist ein Verwandter des Monteurs und Tormanns Josef Bloch, der bekanntlich eine junge Frau ermordet hat. Die schönen Erlebnisse sind allesamt ambivalent, sogar das berühmte Zusammenrücken der drei unscheinbaren Dinge auf dem Carré Marigny in der Nähe der Champs Elysées, das sich dann in einer etwas weniger schicken Gegend, im 18. Arrondissement auf dem Square Carpeaux, wieder ereignen soll (aber das will nicht recht gelingen).
Auch in dieser Erzählung geschieht etwas Schreckliches. Die kleine Tochter Keuschnigs verschwindet von einem Augenblick zum anderen vom Spielplatz auf jenem Square. Was man im Rahmen einer »normalen« Geschichte erwarten würde, daß nämlich der Vater, der das Kind beaufsichtigt hatte, sogleich nach diesem sucht, Leute befragt, vielleicht die Polizei verständigt usw., tut Keuschnig nur ansatzweise. Er spricht mit dem Parkwächter – eine heute längst abgekommene Pariser Institution –, nennt diesem seine Adressen und meint, er werde selbst die Polizei kontaktieren. Tut er dann aber nicht, statt dessen streift er durch Paris, in Richtung Osten und Norden, dann wieder herunter, zur Stadtmitte hin. Er denkt, daß er sterben möchte und daß das Geschehene rückgängig gemacht oder geändert werden könnte, indem er wahnsinnig wird. Sterben tut er nicht, und ob er wahnsinnig wird, auf diese Frage werde ich dann gleich noch zu sprechen kommen.
Bei meiner zweiten und dritten Lektüre hat Keuschnig begonnen, mir auf die Nerven zu fallen. Tu doch was!, rief ich ihm zu, Do the right thing!, tu das, was jeder Vater in dieser Situation tun würde, such mit allen Mitteln nach deinem Kind. Lauf nicht davon! Denn das ist es, was du tust, auf der Suche nach deinen wunderlichen Ideen und ihren unwahrscheinlichen Realisierungen. Was für ein Feigling, dieser Typ! Zu feige sogar, sich das Leben zu nehmen. Aber auch der Tod wäre nichts als Flucht, wäre nur Feigheit. Kein Verantwortungsgefühl, dieser Mann denkt nur an sich selbst, und wenn er doch einmal an die anderen denkt, müssen es gleich »alle« sein, nur abstrakt sind sie für ihn da, als Allgemeinheit. Ein paar Augenblicke bildet er sich sogar ein, in diesen »allen« zu leben, aber seine kleine Tochter scheint er vergessen zu haben. Er will nichts mehr für sich: so steht es geschrieben. Schön für ihn, er darf sich entselbsten, wie nur je ein Mystiker. Sich selber los sein und trotzdem nicht tot. Wunderbar! Aber darum geht es doch gar nicht, er soll für jemand anderen etwas wollen, konkret, für seine Tochter.
Hab ich gedacht. Und geschimpft. Mehr geschimpft als gedacht. Habe dann, bei meiner neuesten Lektüre, der fünften oder sechsten, rasch noch die Serie der Wahrnehmungsbilder gestreift, die auf den letzten zwanzig Seiten des Buchs daherströmen, bin dann aber bald zum allerletzten Absatz gesprungen. Ich glaube, ich hatte das schon viel früher, vor Jahren, geahnt oder gesagt und sogar geschrieben, aber jetzt ist mir vollends klar: Keuschnig ist verrückt geworden. Er ist nicht mehr er. Ich ist ein Er geworden. Ein Mann überquert die Place de l’Opéra. . . Nein, das ist nicht irgendwer, kein Anonymer in der Menge. Das ist Gregor Keuschnig. Hatte er nicht, kurz bevor er sein Kind verloren hatte, beschlossen, sich einen hellen Anzug zu kaufen? Da trägt er ihn jetzt, hellblau. Aber nicht nur das, er ist zu einem Wiedergänger der Literaturgeschichte geworden, denn mit den gelben Schuhen, den weißen Socken und dem blauen Rock erinnert er an einen anderen Narren, den liebestollen Werther.
Schön für ihn . . . Oder auch nicht. Ich traue dem Frieden des Textes ohnehin schon lange nicht mehr, und auch nicht seinem Unfrieden. In Wahrheit, und vielleicht ist das eben die Wahrheit des Textes, die uns der Autor Peter Handke vermacht hat, ist Keuschnig endgültig zu einem Leidensgenossen des schizophrenen Josef Bloch geworden.
In der Erzählung versteckt sich ein wirklich ganz unscheinbarer, unpoetischer Nebensatz, der lautet: »wie dieser später sagen würde«. Subjekt ist der Parkwächter, der gibt – später – an, Keuschnig sei ruhig und besonnen gewesen, als er das Verschwinden des Kindes bemerkt habe. Was immer das insinuieren mag. Vielleicht gar nichts. Oder daß der verrückt werdende Keuschnig äußerlich ganz vernünftig bleibt. Oder daß seine Ausdruckslosigkeit schon etwas Wahnsinniges hat. Das »später« verweist auf ein Außerhalb der eigentlichen Geschichte, das im Buch nicht erzählt wird. Es ist der einzige solche Verweis. Der Fall – Kindverlust – wurde von irgendwem auf irgendeine Weise aufgenommen und vermutlich gelöst. Vielleicht hat die Polizei das Kind zufällig gefunden. Aber es könnte auch etwas Schlimmes passiert sein: von einem Auto niedergestoßen, von einem Bösewicht entführt. Daran wäre der Vater mitschuld. So müßte er sich jedenfalls fühlen, wenn er ein Vater wäre, und nicht etwa – unzurechnungsfähig.
Vom Kind ist in diesem Buch dann nicht mehr die Rede. Für den Leser bleibt es verschwunden.
Diese wiederholten Lektüren fanden allesamt nach einem Ereignis statt, das mich selbst tief getroffen hatte. Spät, aber doch, und mit umso größerer Freude, war ich Vater geworden. Als das Kind klein war, war ich viel mit ihm zusammen; Kinderspielplätze sind mir sehr vertraut, es waren und sind für mich zumeist schöne Orte, wo ich am Rand stehen, in die Gegend schauen und die Zeit an mir vorbeirieseln lassen kann, wie die Kinder den Sand von der Schaufel rieseln lassen. Meine Tochter war drei, höchstens vier Jahre alt, als ich mit ihr einmal an der Place des Vosges vorbeikam, wo an schönen Tagen zahlreiche Menschen auf den Wiesen und unter den Bäumen ihren Vergnügungen nachgehen oder Pause machen, picknicken, schlafen. Es gibt da auch, auf einem der vier breiten Zugangswege zur Mitte des Platzes, die von einer Reiterstatue Ludwigs XIII. gebildet wird, einen länglichen Sandkasten, an dessen Seiten Eltern und Kindermädchen sitzen und die spielenden Kinder beaufsichtigen. In diesem Alter meiner Tochter war es schwierig, sie an einem solchen Ort vorbeizuziehen, und ich habe es selten getan, auch dann nicht, wenn wir es eilig hatten. Auf der Place des Vosges wühlte sie eine Zeitlang im Sand herum, bevor sie einen der vier Brunnen entdeckte, die den geometrisch angelegten Platz zieren, und begann, mit einer herrenlosen Plastikflasche Wasser von dort zu holen, um es in Gräben und vor Dämme zu gießen, von denen nach und nach immer mehr entstanden, bald auch unter Mithilfe von neben ihr spielenden Kindern. Ich richtete ein Wort an den Mann, der zu zweien von ihnen zu gehören schien. Er war Pole, sprach ein paar Brocken Französisch, hielt sich anscheinend als Tourist mit seiner Familie in Paris auf. Ich hatte keinen Grund, ihm zu mißtrauen.
Kinderspiele ziehen sich hin, die Zeit verrinnt, früher oder später bekommen die Kleinen Durst, auch Hunger, aber vor allem Durst. Gewiß, ich hätte unseren Ausgang besser vorbereiten, wenigstens eine Wasserflasche und Obst einpacken sollen. Meine Tochter wurde durstig, quengelte, weinte. Kindertränen rühren mich unweigerlich, obwohl ich weiß, daß es manchmal besser ist, sie ausweinen zu lassen, als gar zu rasch einzugreifen und die vermeintlichen Gründe ihres Unglücks zu beseitigen. Zumal ich weiß und oft genug gestaunt hatte, wie rasch das kindliche Gemüt vom größten Glück zur tiefsten Verzweifelung und wieder zurück wechseln kann. An diesem Tag war es heiß, bis nach Menilmontant, wo wir damals logierten, ein weiter Weg, zuerst die weitläufige U‑Bahnstation Bastille, vollgestopfte Waggons, dann umsteigen... Kurz, ich beschloß, etwas zu essen und zu trinken zu besorgen, da ich annahm, es gebe in unmittelbarer Nähe ein Lebensmittelgeschäft, einen Stand, irgend etwas. Ich fragte den Polen, wie lange er noch mit seinen beiden Kindern hier bleibe – eine halbe Stunde, ja, mindestens –, bläute meiner Tochter ein, sich auf keinen Fall vom Spielplatz wegzubewegen, und machte mich auf den Weg. Ich verließ die geschlossene Anlage der Place des Vosges in Richtung Saint-Paul, sah aber zuerst einmal überhaupt keine Geschäfte, die für meinen Zweck in Frage kamen. An der Ecke zur Rue Saint-Antoine war ein Café; sollte ich mir da ein Sandwich zubereiten lassen? Nein, das würde zu lange dauern. Ich spürte, wie sich Nervosität in mir breitmachte, und hastete weiter, erinnerte mich plötzlich an den kleinen Monoprix nahe der U‑Bahnstation St-Paul. Die Gegend war mir vertraut, da ich früher auf der anderen Seite der Place de la Bastille gewohnt hatte, im 11. Arrondissement, und oftmals zu Fuß durch das Marais in Richtung Tour Saint-Jacques gegangen war. Im Monoprix griff ich zu abgepackten Sandwiches, wog Weintrauben ab, legte eine Wasserflasche in das Körbchen. Und dann, vor der einzigen geöffneten Kasse – eine Wartschlange. So nahm ich jedenfalls die drei oder vier Personen vor mir wahr.
Nachdem ich bezahlt hatte, rannte ich den Weg zurück, nicht gerade wie ein Besessener, aber vermutlich ahnte ich schon das Geschehene. Man rechnet in solchen Momenten wohl mit dem Schlimmsten, in einer Art Zweckpessimismus, um dann erleichtert aufatmen zu können. Ich kam zurück auf den Platz, eilte zum Sandspielplatz: keine Spur von meinem Kind. Auch nicht vom Polen und den seinen. Dieser Idiot war einfach abgehauen, obwohl ich bestimmt nicht länger als zwanzig Minuten gebraucht hatte . . . Nein, das dachte ich nicht, erst irgendwann später schoß mir ein solcher Gedanke durch den Kopf, und ich nahm ihn sofort zurück, denn verantwortlich für mein Kind war allein ich selbst. Ich versuchte, mich zu beruhigen, und fragte die jungen Leute, in deren Nähe ich zuvor in der Wiese gesessen hatte, ob sie ein kleines Mädchen gesehen hätten, so und so groß, braune Locken, hellgelbes, blumengemustertes Kleid. Nein, hatten sie nicht. Niemand hatte meine Tochter gesehen. Ich ging in die Mitte des Platzes, zur Reiterstatue, und rief ihren Namen, laut, noch lauter, so daß andere Parkbesucher aufmerksam wurden, was mir zwar peinlich war, aber mich dennoch nicht davon abhielt, immer mehr Kraft in meine Stimme zu legen. Eine Antwort bekam ich nicht. Wie Keuschnig auf dem Square Carpeaux dachte ich daran, die Polizei zu rufen, kam aber sogleich davon ab, weil ich dadurch nur Zeit verlieren würde. Ich versuchte, möglichst systematisch zu handeln, und marschierte eine Strecke in diese, eine Strecke in die entgegengesetzte Richtung. Nichts, meine Tochter war verschwunden. Schließlich dachte ich, wenn ich den Platz in immer engeren Quadraten, zuerst nahe den Arkaden und den weiß-roten Backsteinwänden der Palais, dann konzentrisch zur Reiterstatue hin, mit der Zeit dann kreisförmig, abgehen würde, müßte ich doch auf sie stoßen. Dabei hatte ich nicht bedacht, daß sie selbst sich wahrscheinlich ebenfalls bewegte, auf der – sicher weniger systematischen – Suche nach mir. Die Möglichkeit, daß sie den Platz verlassen haben könnte, war mir freilich schon vorher durch den Kopf geschossen und hatte meine Verzweiflung vergrößert.
Irgendwann merkte ich, daß ich inzwischen selber planlos war und, immer noch ab und zu ihren Namen rufend, zwischen den Platzbesuchern umherirrte. Ich war nahe daran, einen Handy-Besitzer – meines funktionierte in Frankreich nicht – zu bitten, die Polizei anzurufen. Und gerade da erblickte ich in der Ferne meine Tochter, wie sie hinter einem der Brunnen hervorlief, heulend und ohne mich zu sehen, nicht weniger verzweifelt als ich selbst. Ich nahm sie hoch, küßte sie – und erinnere mich nicht, was ich sonst noch tat oder sagte. Das nächste Erinnerungsbild ist eine Szene, wo wir in der Wiese sitzen und tüchtig essen und trinken; zum Glück waren mehrere Sandwiches im Plastiksäckchen vom Monoprix. Meine Tochter spielte dann noch eine Weile mit einem Hündchen, ehe wir uns auf den Heimweg machten.
Es war nichts Schlimmes passiert, aber der Schreck war mir tief in die Knochen gefahren und blieb dort für lange Zeit sitzen; ich machte mir schwere Vorwürfe wegen meiner Leichtsinnigkeit. Meine Handlungsweise war alles in allem normal, die Geschichte ist sozusagen nichts Besonderes. Vielleicht gar nicht erzählenswert, und ich hätte sie auch nicht erzählt, wenn bei meinen nachmaligen Lektüren der Stunde der wahren Empfindung nicht der Ärger in mir hochgekommen wäre über Gregor Keuschnig, diesen angeknacksten Typen, der mit sich selbst zu kämpfen hat – aber entschuldigt ihn das? Kann man als Vater einfach davonlaufen, wenn das eigene Kind in Not ist?
Ich hoffe, Keuschnigs Tochter ist damals, im Off der Erzählung, nichts zugestoßen. Vermutlich hat die Polizei oder ein aufmerksamer Mitbürger das Mädchen irgendwo aufgelesen, die Identität des Kindes herausgefunden und sie der Mutter oder wem auch immer, einem Angehörigen, übergeben. Keuschnig wohl nicht, denn in dem Zustand, wie ich ihn die Place de l’Opéra überqueren sehe, wird er nicht mehr fähig sein, für sein Kind gebührlich zu sorgen.
Der Prüfungstraum ist ein beliebtes Genre nächtlicher Spontanpoesie. Jahrelang habe ich einen solchen Traum geträumt und träumend variiert. Eine Schularbeit oder die Reifeprüfung in Mathematik stand bevor, und ich hatte in diesem Fach seit ewigen Zeiten nichts gelernt. Endlich würde ans Licht kommen, daß ich nichts, aber auch gar nichts konnte. Es war unmöglich, Versäumtes nachzuholen, weil mir die Voraussetzungen dafür fehlten. Wenn ich früheren Stoff zu lernen versuchte, konnte ich beim gegenwärtigen Stoff trotzdem nichts verstehen, ich verlor nur weitere Zeit. Und wenn ich im gegenwärtigen Unterricht mitzutun versuchte, fehlte mir eben das, was ich mir früher hätte aneignen sollen. Es gab eine Kluft zwischen Jetzt und Früher, und sie ließ sich nicht schließen, im Gegenteil, sie wurde von Woche zu Woche, von Stunde zu Stunde, von Sekunde zu Sekunde größer. Ein Abgrund, noch stürzte ich nicht hinein, noch nicht, noch nicht . . . Der Lehrer hielt mich womöglich für klug, aber er täuschte sich, und mir gelang es mit Müh und Not, seiner Täuschung durch angepaßtes Verhalten, das letzten Endes Simulation war, Nahrung zu geben.
Irgendwann in meinem Leben verlor sich dieser Traum. Ich träumte alles mögliche, aber keine Prüfungsträume mehr. Ich hatte keine Angst mehr, nicht fertig zu werden, von der wachsenden Last des Versäumten erdrückt zu werden, von der Obrigkeit aufgedeckt zu werden. Eine Zeitlang, viele Jahre, war ich frei, aber die Freiheit genügte mir nicht. Nachdem ich Vater geworden war, begannen die Kindverlustträume. Nicht gleich nach der Geburt des Kindes, sondern als es etwa zwei Jahre alt war und schon gut laufen konnte. Müssen Träume denn wahr gemacht werden? Muß die Literatur, die erzählte Erfindung, wahrgemacht werden? Vielleicht ja. Die Geschichte von der Place des Vosges ist die Verwirklichung jenes Angsttraums. Einmal im Leben muß einem Vater das zustoßen, was auch Gregor Keuschnig zugestoßen ist.
Seltsam nur, daß der Traum nicht aufhören will. Vielleicht erst, wenn meine Tochter erwachsen ist? Oder lange danach . . . Falls ich dann noch lebe. Nein, Keuschnig, was mich betrifft, so will ich keinesfalls sterben. Nicht, bis das Kind groß ist. Gibt es einen selbstverständlicheren Gedanken?
Also träume ich weiter, wiederhole und variiere den Traum, sehe die Tante, wie sie mit leeren Händen am Herd steht, von dem sie mit einem Eisenhaken eine kreisrunde Eisenplatte hebt, so daß die tiefrote Flamme herausschießt; ich rieche den scharfen Geruch des Beuschels, den Geruch von abgestandenem Bier, von Medikamenten, von abgesessenen Fauteils, vom wohligen Wohnzimmer. Aber . . . Kann man Träume denn riechen? Oder doch nur sehen? Kann man Träume spüren, empfinden, kann man Schmerzen träumen, das Ziehen ums Herz, weil sich die Kluft jetzt doch wieder zu vergrößern scheint? Wörter träumen, wie sie in der Gegend herumstehen? Wörter an Menschen gelehnt wie Steine, Findlinge – Menschen und Wörter als verschämte Ruinen in einer Zone, die einmal Landschaft und bewohnbar, bevölkert war. Dort lächelt oder grinst das Gesicht meiner Schwester aus einer Höhle, in die kein ganzer Körper paßt. Und Brigitte, die immer so geschäftig tut. Und das Gefühl, die ganze Welt abgrasen zu müssen, bis . . . Aber wie soll man in einem einzigen Traum die Welt abgrasen? Also wird es auch mir geschehen, daß ich aus dem Traum in einen anderen gelange, den ich nicht gewählt habe – Wählt man denn seine Träume? – , und von dort in einen anderen, und in diesem Traum werde ich träumen, daß ich träume, daß ich träume . . .
am Ende
am Ende werden wir alle
also jeder
verloren gehen
als Fremder über den weiten Platz
/ aber zielbewußt?
das kann nur ein Irrtum
nur ein endliches
Irren
kann das