Die Neugier des Journalisten und die Grenzen des Wissens
Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird unser sogenanntes Weltwissen immer mehr von den Massenmedien bestimmt, die eine rasante, noch lange nicht abgeschlossene Entwicklung durchgemacht haben. Die Leben der meisten Menschen in der westlichen Welt sind verhältnismäßig arm an unmittelbaren, persönlichen Erfahrungen. Sicherheitsdenken, Vorsorge, Schutzmaßnahmen aller Art verstärken diese Tendenz noch. Gleichzeitig werden wir durch die Massenmedien, vor allem die Bildmedien, tagtäglich mit oft haarsträubenden oder erschütternden Ereignissen konfrontiert, und die meisten Konsumenten setzen sich dieser Information, dieser Beeinflussung gewohnheitsmäßig und gern aus. Die Kluft zwischen persönlicher Erfahrung und Weltwissen ist tief geworden. PR-Strategien diverser Anbieter der Freizeitindustrie – Reise, Sport, Wellness, Essen & Trinken, Partnersuche – beschwören Abenteuerlichkeit und Genußfreude, Leidenschaften und Erlebnisse umso eindringlicher, je mehr die realen Grundlagen dafür schwinden. Es gibt Erlebnisbrauereien und Erlebnisduschen, Erlebnistickets und Erlebnisgutscheine, Erlebnistage und Erlebnisnächte, und natürlich gibt es auch einen Marktführer für die Vermittlung von Erlebnissen. Was den Konsumenten von diesen Firmen verkauft wird, ist Ersatz. Je langweiliger das Leben der Kunden, desto mehr Sensation, Schock und Empörung brauchen sie. Vielleicht ist das seit jeher eine Eigentümlichkeit der Menschen. Einer, der es eigentlich wissen mußte, der Journalist und Schriftsteller Ryszard Kapuscinski, schrieb: »Unsere Phantasie lechzt nämlich nach der kleinsten Sensation, dem geringsten Signal einer Bedrohung, dem schwächsten Pulvergeruch, saugt alles gierig auf, um es dann unverzüglich zu monströsen, überwältigenden Ausmaßen aufzublasen.«
Solchen Einsichten zum Trotz haben sich haben sich in den demokratischen Ländern im Bereich der Printmedien Regeln und Standards herausgebildet, die heute – auch beim Fernsehen, zumindest theoretisch – für Journalisten als verbindlich gelten. Ein Artikel über gleich welches Thema soll möglichst objektiv und ausgewogen sein, der Verfasser soll Quellen angeben und überprüfen, Fakten checken und gegenchecken, unterschiedliche Sichtweisen und Meinungen zu Gehör bringen. Ich gebrauche das Adverb »möglichst«, weil auf der Hand liegt, daß es nicht immer einfach ist, diesen Anforderungen gerecht zu werden; Anforderungen, die im übrigen durch das Überhandnehmen des Unterhaltungsfaktors und dem Buhlen um bloße Aufmerksamkeit – Einschalt- und Clickquoten – ausgedünnt, wo nicht überflüssig gemacht werden. Man kann sich sogar, ohne ins Detail zu gehen oder Beispiele zu erörtern, die Frage stellen, ob etwas wie »Objektivität« überhaupt möglich ist. Als Norm oder Wunsch beruht sie auf einem Analogiemodell, demzufolge Texte und Bilder eine Wirklichkeit abbilden, ihr zumindest »entsprechen«. Auf die Wirklichkeit aktiv Einfluß zu nehmen oder sie gar zu »konstruieren«, um einen Modebegriff akademischer Kulturwissenschaftler zu gebrauchen, ist nach diesen Prinzipien nicht die Aufgabe eines Journalisten. Joris Luyendijk, jahrelang Auslandskorrespondent im Nahen Osten, zeigt in einem Buch, das seine diesbezüglichen Erfahrungen aufarbeitet, wie groß der Abstand zwischen den hehren Prinzipien und der journalistischen Praxis ist. Seiner Darstellung zufolge ist es so gut wie unmöglich, sich in einer Diktatur oder in besetzten Gebieten ein – »adäquates« – Bild von den tatsächlichen Vorgängen im Land zu machen, weil die Information aufbereitet, gefiltert und/oder ganz unterdrückt wird und die Menschen in Angst leben, so daß sie ihre Meinungen und Erfahrungen nicht frei äußern können (und selbst wenn sie es tun, muß sich der verantwortungsvolle Journalist fragen, ob er durch die Veröffentlichung den Auskunftgeber nicht in Gefahr bringt). Dasselbe gilt für Situationen, in denen ein Medienkrieg entfesselt wurde, wobei auf westlicher, »demokratischer« Seite zunehmend PR-Beratungsagenturen die Art der Informationsweitergabe und letztlich der Berichterstattung beeinflussen. Die Frage liegt nahe, ob diese Abhängigkeit von Werbung und Marketing mittlerweile nicht auch den Inlandsjournalismus betrifft, so daß Journalisten immer häufiger das wiedergeben, was ihnen Behörden, Parteien, Firmen, Lobbys usw. unterstützt von PR-Agenturen vorgekaut haben.
Freilich, ein einzelner Journalist ist immer noch – abgesehen von Robotern, die im Sportjournalismus eingesetzt werden – ein Mensch, kämpferisch oder ängstlich, eigensinnig oder anpassungsbereit, integer oder bestechlich, er wird – oder kann jedenfalls – versuchen, sich auf eigenen Wegen ein Bild zu machen, das zu den präparierten Bildern dann möglicherweise quersteht. Das ist einer der Gründe, weshalb mir die pauschalierende Rede von der »Lügenpresse« immer wieder sauer aufstößt. Was die Leute wollen, die diese Rede meist genüßlich und selbstgefällig führen, ist keine echte Ausgewogenheit und auch nicht »die Wahrheit«, sondern lediglich eine andere Parteilichkeit, eine möglichst unkontrollierte und intransparente Propaganda, für die die sogenannten sozialen Medien jedermann die technischen Mittel zur Verfügung stellen. Luyendijks Bericht über die Nöte und Grenzen der Berichterstattung folgt man, ich jedenfalls, mit größtem Interesse, seine Erzählung von der Unmöglichkeit, über bestimmte Ereignisse stichhaltige Aussagen zu liefern, ist so spannend wie die kleinen Erzählungen von Unterdrückung und Krieg, mit denen sein Buch trotzdem über die Bilder und Lügen in Zeiten des Krieges gespickt ist.
»Trotzdem«, genau! Hin und wieder hatte ich bei der Lektüre den Eindruck, daß er sich in der Unmöglichkeit des Wissens geradezu suhlt. Eine auf der Straße oder in der Kneipe eingefangene Meinung eines, sagen wir, einfachen Ägypters, ist sie denn auch »repräsentativ«? In diktatorischen Systemen gibt es, so Luyendijk, keine oder jedenfalls keine verläßlichen Statistiken, keine Meinungsumfragen, kein rechnerisch auswertbares Material. Aber ist das denn so wichtig? Ist es unabdingbar? Oder andersrum: Verzerrt und verstellt uns der Statistikwahn, der die algorithmisierten Gesellschaften erfaßt hat, nicht eher die Wahrnehmung? Um zu beurteilen, was die Stellungnahme eines einzelnen Bürgers, eines Mitmenschen, wert ist, sollte man – auch wenn man Journalist ist – doch eher auf die eigene Erfahrung und Menschenkenntnis, auf den Sinn für Kontexte und Zusammenhänge zurückgreifen. Derlei Einschätzungen sind oft nicht rechnerisch objektivierbar, aber sie vermitteln womöglich ein besseres, genaueres Bild von dem, was, teils im Verborgenen, vor sich geht. Mittels Denk- und Urteilskraft werden viele Phänomene besser verständlich als durch statistische Daten und die Korrelationen zwischen ihnen.
Luyendijk und vielleicht jeder andere Journalist würde sofort einwenden: Aber für Nachdenklichkeit ist in unserem Job weder Platz noch Zeit, im Mediengeschäft muß alles ruck-zuck gehen. Es ist bezeichnend für die gefesselte Existenzform des Journalisten, daß Luyendijk immer wieder in die Lage kommt, Hintergrundartikel Nachrichten oder Kurzkommentaren vorzuziehen, und daß ihm das prestigebeladene Fernsehen von den Medien, deren er sich bedient, am wenigsten zusagt (am Ende des Buchs sprengt er die Fesseln). Geht es um ein – »möglichst«! – getreues Abbild der Wirklichkeit, stellt sich zuerst einmal die Frage der Auswahl dessen, was berichtenswert ist, sowie um den Standort und folglich die Perspektive. Bildberichte sind in stärkerem Maß als Texte zum Weglassen und Schneiden gezwungen, das Fernsehen kann sich ein Zögern, ein Hin und Her und Zurück, nicht erlauben. Hinzu kommt, daß das Ereignis meist schon vorbei ist, wenn die Kameras herbeigeeilt kommen (echtes »live« ist selten), die Bilder aber im Augenblicksrhythmus entstehen, was dann dazu führt, daß die Ereignisse nachgestellt werden; die zugehörigen Gefühlsausbrüche der Betroffenen, der Aufgenommenen und Gezeigten, sind immer auch Schauspielerei. Und manche Ereignisse, Demonstrationen, Aktionen werden von vornherein so inszeniert, daß sie in die Nachrichten passen. Die Wirklichkeit ist medialisiert, noch ehe sie stattfindet.
Wir stoßen hier auf eine Opposition, eine Spaltung, die sich gleichfalls zu vertiefen scheint und durch die digitalen Medien, wo Bilder Texte ausstechen, beschleunigt wird: die Spaltung in einen bildfixierten, tendenziell illiteraten Bevölkerungsteil und eine literate Minderheit, die von der Mehrheit als »Elite« verschrien wird (das Wort ist inzwischen zum Schimpfwort verkommen). Die einen reagieren auf oberflächliche Reize und wollen ihre Sichtweisen immer aufs neue bestätigt haben; die anderen setzen sich gern mit Hintergründen auseinander, versuchen andere Standpunkte zu verstehen, akzeptieren Komplexität und trachten sie zu durchblicken. Bilder schließen Texte nicht aus, im Idealfall können sie zusammenspielen und sich wechselseitig erhellen. Die gegenwärtige Tendenz geht aber dahin, daß jene diese verdrängen. Wenn schon Text, dann so kurz wie möglich. Durchgesetzt hat sich der Twitterstil.
Im Verlauf seiner journalistischen Arbeit im Nahen Osten wurde Luyendijk nach und nach bewußt, wie unsicher das Wissen war, das er erarbeiten konnte – und wieviel Wissenswertes ihm verschlossen war. Das galt besonders in der Gegend, die er mangels unparteiischer Bezeichnungen mit ironischem Unterton das »Heilige Land« nennt; dort grub sich die schier unversöhnliche Dualität der Standpunkte immer tiefer in sein Bewußtsein. Beim Lesen seines Buchs hat man zunehmend das Gefühl, er schwanke zwischen der Routine des Perspektivwechsels – mal der israelische, mal der palästinensische, mal der westliche, mal der orientalische Standpunkt, beide mit guten und schlechten Gründen – und einer Art Überdruß, da die Suche – nein, nicht nach Wahrheit, sondern nach bescheidenen, lebenspraktischen Auswegen aus Sackgassen, mühselig und zum Scheitern verurteilt war. Juden oder Palästinenser, Abend- oder Morgenland, Demokratie oder Diktatur, professionelle PR oder tollpatschige Brandreden – am Ende ist es alles eins, die Probleme auf ewig unlösbar, die Versuche, der Wirklichkeit »gerecht« zu werden, schmutzige Sisyphosarbeit. Wie das Wissen vermittelt wird und der (große) Rest unter den Teppich gekehrt wird, bestimmt in den entscheidenden Momenten die Macht, was im Nahen Osten oft heißt: das Militär.
Nachdem er das von Angst und Gewalt geprägte tägliche Leben in einer kleinen Erzählung beschrieben hat, bemerkt Luyendijk, sein bestes Material – Erfahrungen, Erinnerungen, Gespräche – sei nur außerhalb der journalistischen Genres darstellbar. Im Fernsehen sowieso nicht, aber auch die Textgenres mit ihrem Zwang zur Zuspitzung sperren sich dagegen. Luyendijk bewegt sich hier im Grenzbereich zur Literatur, die Subjektivität nicht nur zuläßt, sondern in dieser eine eigene Wahrheitsquelle findet. Fast möchte ich hier auf die von abgeklärten Zynikern gern lächerlich gemachte Formel der »subjektiven Authentizität« (Christa Wolf) zurückkommen. Wenn es stimmt, daß ein solches Schreiben nicht in den herrschenden massenmedialen Kontext paßt, wird man sich damit abfinden müssen, daß Reportagen wie die von Luyendijk hin und wieder in die Zeitung geschmuggelten oder die von Ryszard Kapuscinski in seinen Büchern versammelten das sind, was im coolen Sprachgebrauch der Massenmedien als »Minderheitenprogramm« bezeichnet wird. Afrikanisches Fieber ist zusammen mit der Zeile Erfahrungen aus vierzig Jahren ein in diesem Sinn passender, schöner, fast programmatischer Titel: ein Journalist, der gegen Eile und Flüchtigkeit anschreibt. Kapusciniski erlaubt sich Abschweifungen nicht nur räumlicher Art – Afrika ist per definitionem ein weites Feld -, sondern auch in die Geschichte. Ein einzelnes Phänomen zu verstehen, bedeutet, seinen Kontext abzutasten, und der ist oftmals so weit wie der afrikanische Kontinent. Das aber verbietet, oder erschwert zumindest, der Tagesrhythmus journalistischen Schreibens. Mehr denn je ist Wahrheit nichts für die große Masse. Technologisch hochgerüstet, sind wir dabei, ins Mittelalter zurückzufallen: hier die vielen Bilder, dort die wenigen bzw. kurzen Texte; hier die Wissenden, dort die tumbe Masse, die in der Demokratie letztlich das Sagen hat – falls sie sich nicht manipulieren läßt. Aber vielleicht können Leute wie Luyendijk und Kapuscinski ja mit ihren eigensinnigen Versuchen die Elite der Wissenwollenden stärken oder sogar ausdehnen, so daß sich die Verhältnisse unmerklich verschieben könnten. Vielleicht. Eher nicht.
Luyendijk weist auf die Schwierigkeiten hin, mit denen der Berichterstatter konfrontiert ist, und fordert von sich und seinen Kollegen, diese regelmäßig zu benennen. Er gibt aber auch zu, daß er selbst es in seiner journalistischen Praxis selten schafft, dieser Forderung nachzukommen. Der Zwang zur Eile, zum So-tun-als-ob, zum Mitmachen in einem Spiel, das oft zum Krieg ausartet, ist übermächtig. Im Verlauf seiner Erfahrungen hat sich die Gewißheit verfestigt, daß er nichts – oder jedenfalls nicht viel, nicht ausreichend – wissen kann. Der Tagesschreiber – vulgo »Journalist« – als Sokratiker im von (Selbst)zweifeln nur selten beschlichenen (Des)informationszeitalter, wo die Mächtigen ihre Propaganda (»Werbung«) treiben. Die Hoffnung ist nach wie vor, daß die Welt besser wird, je mehr wir sie verstehen. Das aber heißt letzten Endes, besser zu verstehen, was wir alles nicht wissen und welche Kräfte dem Verstehen entgegenwirken. Diesem Zweck dient es auch, die Mechanismen und Hintergründe, dunklen Winkel und weißen Flecken der Medienindustrie zu durchleuchten.
© Leopold Federmair
Mittlerweile habe ich das Luyendijk-Buch dann auch gelesen und war, ob seiner Herangehensweise ganz angetan. Das Ringen um das Verstehen, der Versuch aufrichtig zu bleiben, das Aufbäumen gegen den Zynismus, das ist alles spürbar. Dazu bedarf es aber einer Prämisse: Der Wahrhaftigkeit, die Motivation überhaupt objektiv berichten zu wollen, sodass sich der Leser/Hörer mit den Informationen selbst eine Meinung bilden kann. Mein Glaube an diesen Journalismus ist in den letzten zwanzig Jahren erodiert. Dazu Bedarf es gar nicht mal der offensichtlichen Manipulationen, es reicht das man spürt, dass der Journalist eine Agenda verfolgt, einer Seite verpflichtet ist.
Ich hatte vor ein paar Jahren das viel geschmähte Buch Gekaufte Journalisten. von Udo Ulfkotte in die Hände bekommen, mit ausgestreckten Armen gelesen und dann vor allem die Berichterstattung verfolgt. Das Buch ist offensichtlich mit zwei Federn geschrieben, einmal Ulfkottes und dann der des »Lektors« des Kopp-Verlages, der mit brachialer Gewalt den Text angeschärft hatte. Vieles ist haarsträubend, aber anderes schien mir nicht gelogen oder zumindest nur übertrieben. Z.B. wie der Professor den vielversprechenden Studenten anspricht, um für den BND anzuwerben. Ja die Fälle gibt es. Oder noch deutlicher die Umwandlung der jungen Elite in Embedded-Journalisten via Atlantikbrücke etc.pp. bei Tagungen in teuren Schweizer Hotels, wo sich der angehende Schreiber wichtig und bedeutend fühlt. Gegen diese Gewächse ist Luyendijk ein Herzchen, das nicht mal die erste Stufe der Karriereleiter nehmen wird. Aber genau die sind es, die das Meinungsbild bestimmen, auch mit einem Luyendijk-Hintergrundartikel auf Seite 12. In Deutschland sind die Spinnen im Netz, die die Fäden ziehen z.B. Ernst Elitz, Josef Joffe oder Mathias Döpfner. Sie haben alle in ihrem Philosophiestudium o.ä. mal gelernt was Wahrhaftigkeit bedeutet.
Ich befürchte, die Menschenkenntnis hört da auf, wo man sich in einem Kulturkreis bewegt, in dem einem das Verhalten der anderen Menschen fremd ist, in dem man nicht weiß, wie man dieses Lächeln jetzt deuten muss. Ich nehme an, Sie haben diese Erfahrungen in Japan oft genug gemacht (Es würde mich durchaus interessieren, wie Sie damit umgehen. Das wäre einen Beitrag wert). Der Journalist ist da auf Fremdmeinung angewiesen und damit wieder auf Vertrauen. Vertrauen, dass viel zu selten als die Währung von Gesellschaften gesehen wird. Ohne das Vertrauen, dass der andere mir nicht, wenn ich mich umdrehe den Schädel einschlägt (oder halt nur betrügt), sind moderne westliche Gesellschaften gar nicht denkbar. Luyendijk zeigt sehr schön wie Gesellschaften aussehen, wo dies nicht so ist. Es ist das höchste Gut, dass wir über Jahrhunderte entwickelt haben und für mich auch die Basis des Migrationsproblems.
Weiter hat mich irritiert, dass Luyendijk beim Guardian plötzlich Banken-Experte mit Hintergrundwissen war. Ich-lese-mich-ein-paar-Monate-in-ein-Thema-ein-und-schreibe-dann-ein-Buch-darüber funktioniert heute nur bei sehr einfachen Themenfeldern. Normalerweise ist absolutes Expertenwissen nötig, um ein Thema zu durchdringen. Das hat Frank Schirrmacher nie verstanden und Bücher abgeliefert, die zwar den deutschen Diskurs häufig zumindest mitbestimmt hatten, aber das Papier nicht wert waren.
Eine kleine Warnung noch: Der Link verweist auf einen sehr schmierigen YouTube-Channel, habe das Video aber sonst nicht gefunden. Eine Relativierung der Bilder gibt z.B. die taz, was ich aber für nicht glaubwürdig halte.
Die Version von Luyendijks Buch, die ich habe, endet ja mit dem Einmarsch der USA-Truppen in den Irak 2003. 2015 hat der Verlag dann noch einmal eine »aktualisierte« Ausgabe unter einem anderen Titel veröffentlicht, die ich nicht kenne.
Luyendijks Beobachtungen basieren vor allem Erfahrungen vor dem Hype der Internet-Netzwerke. Nicht, dass es 2003 nicht Facebook oder Twitter gab, aber die Auswirkungen dieser Netzwerke waren damals noch nicht derart stark wie heutzutage. Insofern erscheinen einige seiner Einsichten heutzutage fast harmlos. Auch sein Ringen um Wahrheit und das Eingeständnis, dass man so etwas in einer Berichterstattung womöglich gar nicht vermitteln kann, müsste man vielleicht relativieren. Gleichzeitig ist aber der Eindruck sehr stark und wesentliche Punkte seiner Kritik haben sich verschärft (Zeitdruck; Konformitätsdruck; PR).
Der Reigen der selektiven Berichterstattungen beispielsweise seit den 1990er Jahren ist lang (Naher Osten [Irakkriege], Jugoslawien, Georgien, Ukraine – um nur außenpolitische Krisenherde zu nennen). Ob das von @Joseph Branco gepostete Video dazugehört, ist fast gleichgültig. Tatsächlich erschaffen Medien häufig genug die Ereignisse, über die sie dann berichten.
Die Ursachen für den Verfall der journalistischen Ansprüche liegt vor allem darin, dem potentiellen Publikum in Kurzfassungen Erläuterungen zu geben, die sie eigentlich selber aus »richtigen« Berichten herausdestillieren sollten. Statt den Rezipienten zu informieren damit dieser dann selber sein Urteil fällen kann, wird er mit vorgekauten Häppchen in die ein oder andere Richtung geschleust. Dies geschieht so geschickt, dass es nicht auffällt. Inzwischen ist es fast ein Gesetz, dass Journalisten »Haltung« zu zeigen haben. Der Journalist definiert also, was als »gut« oder »böse«, als richtig oder falsch zu sehen ist. Schon in der Bilderauswahl bei Politikern kann sich die »Meinung« der jeweiligen Redaktion über diese Person zeigen.
Wer sich mit dem Paternalismus des Mainstreams arrangiert, hat es einfach. Wer zweifelt, stösst am Ende häufig auf dubiose Webseiten oder Publikationen. Schließlich glaubt man entweder alles oder gar nichts mehr.
@Joseph Branco
Ringen um das Verstehen, ich denke, genau das ist es. Und es existiert nach wie vor, und leicht war es nie, es durchzuhalten und zu Ergebnissen zu kommen. Luyendijk verkörpert es, er hat versucht, diese Wahrhaftigkeit zu leben, das geht aus seinem Buch hervor, es hat die entsprechende Authentizität.
Es gibt einen Film, den ich ziemlich blöd finde, obwohl ihn alle gelobt haben, als er erschien, und wahrscheinlich in alle Ewigkeit loben werden: Lost in Translation. Diese Bequemlichkeit, mit der man die bis zum Überdruß eingeschliffenen westlich-romantischen oder ‑komischen Liebesgeschichten wiederholt und nebenbei Witze macht über eine fremde Umgebung, die man angeblich nicht verstehen kann. Natürlich kann man! Die Protagnisten sind halt zu bequem dazu. Diese Leute bezahlen Übersetzer, die die »translation« für sie erledigen, aber genau das wird verschwiegen. Und ebenso sind Journalisten tätig, die mitunter ihre Existenz in die Waagschale werfen, um etwas herauszubekommen und schreiben zu können.
Ich habe einige Kulturen und Sprachen kennengelernt, keine scheint mir so fremd wie die japanische, dieses Klischee trifft die Gegebenheiten. Aber genau das ist doch für einen Journalisten, Schreiber, Forscher, Übersetzer..., der diesen Namen verdient, die Herausforderung, die er braucht. Und wenn sie da ist und angenommen worden ist, äußert sich das in den journalistischen oder literarischen Texten als jene spezifische Spannung, die auch bei Luyendijk spürbar ist. Übrigens auch in seinem Banken-Buch, finde ich. Er war da zwei Jahre dran, glaube ich, und hat sich tief in dieses Milieu hineingebohrt, fast verbohrt. Daß die Ergebnisse am Ende dann doch wieder enttäuschen, liegt vielleicht eher am Milieu als am Journalisten. Zum Beispiel betont L. mehrfach, Gier sei nicht das, was die Banker in London in erster Linie auszeichnet, aber wenn man zu den Schlußfolgerungen kommt, ist die Gier dann doch wieder ein Faktor, der mit zur Krise von 2008 beigetragen hat.
Ich stimme auch zu, daß unsere aufgeklärten und (mehr oder minder) freien Gesellschaften, damit sie funktionieren können, die Praxis des wechselseitigen Vertrauens brauchen. Schon möglich, daß es in den gegenwärtigen Transformationen dabei ist, verloren zu gehen. Was soll unsereins dann? Zuschauen, kommentieren, immer noch verstehen versuchen, auch wenn es sinnlos wird, weil es keine Adressaten mehr gibt.
In Japan – das letzte Thema, mit dem ich mich auseinandergesetzt habe: die Widersprüche einer scheinbar einheitlichen und de facto in vieler Hinsicht wirklich einheitlichen Gesellschaft, in der gewisse Gegenkräfte und Differenzen wirksam sind, aber auf heimliche Weise. Die Geschichte der koreanischen Zuwanderung und wie sie heute fortwirkt. Da ich kein Investigationsjournalist bin, zehre ich bei solchen Arbeiten eher von oft ganz zufällig gemachten Erfahrungen, die sich über Jahre hinweg erstrecken und Verstehenszusammenhänge ergeben. Man braucht freilich die entsprechende Aufmerksamkeit, Neugier, Ausdauer – unser tägliches Brot.
Und noch ein letzter Versuch, kurz: Lost in translation sind wir immer, überall, gegenüber unseren Nächsten, die uns seit jeher »vertraut« sind, ebenso wie gegenüber dem Japaner oder (bei Luyendijk) Araber, der in völlig anderen Verhältnissen aufgewachsen ist. Wir kommen nie drum herum, Fremdheit zu konstatieren und Überbrückungsversuche zu machen. Die womöglich immer scheitern.
Zu Gregor K. noch: Zumindest theoretisch gilt im freien Journalismus ja immer noch die Trennung von Information und Meinung, Bericht und Kommentar. Es würde genügen, diese immer wieder einzufordern. In bestimmten Fällen finde ich es gar nicht schlimm, manchmal unvermeidlich, daß das eine ins andere übergeht, aber grundsätzlich sollte diese Trennung gelten. Das kann sich in einem konkreten Artikel auch so gestalten, daß der Journalist die Voraussetzungen (Wissen und Wertungen) kenntlich macht, ohne die er u. U. gar nicht zu Erkenntnissen kommen kann. Niemand kann sich an einen archimedischen Punkt begeben. Niemand kann vollkommen wertfrei agieren.
Im übrigen finde ich, daß der Verfall der Lesekultur unterschlagen wird. All diese so leicht zu empörenden Nutzer/Konsumenten schlagen genüßlich auf »Lügenpresse« und ihre Journalisten hin, aber daß sie vielleicht durch ihre eigene Verblödung zur Versumpfung der Medienlandschaft beitragen könnten, auf diese Idee kommen sie natürlich nie. Der Kunde ist König, über jeden Verdacht erhaben.
Natürlich ist ein Journalist fast nie voraussetzungsfrei und hat seine Meinung, die dann irgendwie auch immer in einen Bericht einfliesst. Aber inzwischen werden die kategorischen Meinungsbefürworter immer lauter (s. hier bei einer mehrfach ausgezeichneten Journalistin oder auch hier bei einem »Spiegel«-Kolumnisten [der in gewissen Kreisen einen hohen Status genießt]). Dies geht zumeist einher mit der Sakralisierung des Journalismus als »vierte Gewalt«, die, wenn man die Kriterien anlegt, als einzige gänzlich ohne Regulierung auszukommen habe (Stichwort: Meinungsfreiheit). Damit soll natürlich die verlorenen gehende Autorität als »Gatekeeper« irgendwie kompensiert bzw. wieder neu aufgebaut werden. Wie einst meine Großmutter das Buch verteufelte, so ist es heute »das Internet«.
Es ist diese Form der Abgehobenheit, der Selbstermächtigung, die die Rezipienten abstösst. Sie stösst ab, weil man zu oft mitbekommen hat, wie Fakten verbogen, gefiltert oder einfach nur weggelassen werden. Diese Maßnahmen fallen heute – im Gegensatz zu früher – auf.
Die Schuld beim Publikum abzuladen, ist mir zu einfach. Der Zusammenhang zwischen fehlerhafter und/oder tendenziöser Berichterstattung und einer »Versumpfung der Medienlandschaft« mag mir nicht einleuchten. Der »normale« Leser, Zuschauer, Zuhörer hat schlichtweg keine Zeit zwei, drei differierende Medien zu konsultieren, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Neulich ist mir ein Text in die Hände gefallen, von dem ich schon häufiger gehört hatte. Er ist von Hans Magnus Enzensberger, datiert aus 1957 (und wurde 1997 nochmals abgedruckt). Er beschäftigt sich mit der Sprache des deutschen Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«»Das Magazin hat die Macht, einen korrupten Beamten aus seinem Amt zu entfernen, einen Minister öffentlich anzugreifen, offizielle Zwecklügen dem allgemeinen Gelächter preiszugeben; es hat aber auch die Macht, die Meinungen von Millionen zu korrumpieren. Solange es von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, stellt es damit seine Legitimation, jene zu ergreifen, selbst in Frage.«
Ein Journalist, der es ernst meint, wäre demnach jemand, der Meinung nicht zur »Korruption« einsetzt. Hierfür bedarf es einer Berichterstattung, die dem Rezipienten alle Möglichkeiten lässt.
@Leopold Federmair
Die Figur, die Bill Murray in Lost in Translation spielt, fand ich auch sehr unangenehm, wie ein Kolonialherr, der sich über alles lustig macht, was er nicht kennt. Mit Natürlich kann man! setzen Sie das andere Extrem. Ist das wirklich so? Und wie lange dauert das? Die übliche Station eines Journalisten dauert zwei, drei oder max. fünf Jahre. Kann man in der Zeit das ganze Spinnennetz der gesellschaftlichen Verflechtungen übersehen? Ich habe eine Bekannte, die als Schülerin ein Jahr in Japan war und bis zum Schluss größte Probleme hatte, nur die Stimmungslage des Gegenübers zu erfassen. Von den Motivationen der Menschen ganz zu schweigen.
Ich finde es immer sehr interessant, wenn ausländische Reporter sich eine eigene Meinung über das deutsche Politgeschehen leisten und nicht nur bei den deutschen Kollegen abschreiben. Meist kommt dabei nur Unsinn heraus und sagt mehr über den Journalisten bzw. sein Heimatland aus, als über die Lage in Deutschland. Ich nehme an, dass dies umgekehrt genauso ist. Leider beherrsche ich nur die englische Sprache so gut, dass ich einer qualifizierten Berichterstattung folgen kann, versuche aber trotzdem einen Überblick über die Befindlichkeiten in anderen Ländern zu bekommen. Das ist vor allem dann interessant, wenn die gleichen Problemstellungen völlig unterschiedlich beantwortet werden, aber die Regierungen gleichzeitig dem TINA-Prinzip folgen.
P.S. Das Thema der wegen Überalterung langsam forcierten Zuwanderung nach Japan geht hier gerade durch die Presse (Abé verabscheut Ausländer).
ad Gregor K.: Zum Journalismus als Kontrollinstanz, kritisches Gewissen etc. sehe ich keine Alternative. Daß bei weitem nicht alle medialen Organe und einzelnen Journalisten entsprechend agieren, steht auf einem anderen Blatt, das muß man natürlich kritisieren (wie einst Karl Kraus die Medien seiner Zeit kritisierte). Daß sich die Technologie und Struktur der Massenmedien ändert, ist wieder etwas anderes. Journalismus in dem Sinn, den ich hier meine, findet auch im Internet statt, unter geänderten Voraussetzungen, die Printmedien haben das ja durchaus erkannt und versuchen zu reagieren. Der Digitalisierung wohnt aber wiederum eine eigene Problematik und Dynamik inne. Ob der Schritt von der Pressekonferenz, wo Journalisten – kompetent oder nicht – das Gesagte sieben, zum ständigen, ungefilterten Twittern ein Fortschritt ist?
Der Verfall der Lesekultur – ich meine jetzt nicht Literatur, sondern alle Arten von Texten und Kontexten – scheint mir doch auf der Hand zu liegen. Die Tendenz zur Visualisierung der Kommunikation und Reduzierung des Schriftlichen (Twitterstil, quasi-mündliche Emails...). Für die Literatur habe ich konstatiert: Immer mehr wollen Bücher veröffentlichen, immer weniger wollen Bücher lesen. An »Autoren« gibt es keinen Mangel, die Kunst des Lesens, also des Verstehens, wird immer mehr zum »Minderheitenprogramm« – um auch einmal eine dieser medialen Floskeln zu gebrauchen.
ad Joseph Branco: In Japan habe ich u. a. gelernt zu akzeptieren, daß wir einander nicht verstehen können. Ist auch nicht notwendig. Für die allermeisten Japaner kommt es darauf an, einen Ort im System zu haben und darin funktionieren zu können. Regeln, an die man sich halten kann. Formen und Formeln, die man benutzt. Ich glaube allen Ernstes, daß dieser Typus von Individuum für die Illusion wechselseitiger Durchdringung nicht so anfällig ist.
Gleichzeitig bleibe ich dabei, daß wir Verstehensprozesse beginnen können und müssen, jederzeit und überall. Wir müssen halt die entsprechende Arbeit auf uns nehmen. Denken (und also Verstehen) ist vor allem Mut. Und es erfordert eine Art von Fleiß.
Das Problem besteht m. E. darin, dass Journalisten von der »dienenden Funktion« (der Übermittlung, Berichterstattung) zur »gestaltenden Funktion« gewechselt sind. Bericht und Kommentar werden nicht mehr getrennt – und das durchaus bewusst. Die von mir vorgebrachten Beispiele sind mitnichten Einzelfälle. In anderen Kommentaren erwähnte ich die durchgängig tendenziöse Berichterstattung bspw. während der Jugoslawien-Kriege aber auch im Fall von Ukraine, Libyen, usw. Journalisten neigen dazu, sich zu Herden zusammen zu schließen. Die Ergebnisse sind dann bekannt.
Das Problem ist derart, dass nicht einfach das Gegenteil des Mainstreams richtig ist. Und ein Karl Kraus würde mit seiner Einseitigkeit und Polemik heutzutage ganz schnell gesperrt werden.
Der Verfall der Lesekultur hat natürlich auch mit dem Verfall journalistischer Standards zu tun. In Redaktionen sitzen Leute, die dem Publikum nichts mehr zumuten möchten. Komplexe Inhalte werden reduziert. So oft ich politische Talkshows sehe (was nicht oft passiert) wird derjenige, der Hintergründe beleuchten möchte mit dem üblichen »Das geht jetzt zu sehr ins Detail« abgebügelt. In der Gesellschaft ist es nicht mehr »schick« zu lesen. Und ich höre von Germanistik-Studenten, dass sie keine ganzen Romane mehr lesen »müssen« – nur noch Ausschnitte werden ihnen »zugemutet«. Das Twitter-Format ist zudem keine Erfindung von Trump.
@Gregor K.
Die Katze beißt sich in den Schwanz. Oder explikativ: Die Henne war (nicht) vor dem Ei.