Mi­chel Hou­el­le­becq: Se­ro­to­nin

Michel Houllebecq: Serotonin

Mi­chel Houl­le­becq:
Se­ro­to­nin

Es war gar nicht so schwer, all die Ur­tei­le und Kri­ti­ken zum neu­en Hou­el­le­becq zu igno­rie­ren. Zu­mal ich im­mer we­ni­ger die­ses Per­len­tau­cher-Efeu-Feuil­le­ton aus FAZ, Zeit, SZ, taz, und­so­wei­ter re­zi­pie­re, es in­ter­es­siert mich fast gar nicht mehr. Si­cher­lich, ich be­kam ei­ni­ge Schlag­zei­len mit und dann je­ne üb­li­chen Ver­däch­ti­gen, die sich stolz be­kann­ten, das Buch nicht ge­le­sen zu ha­ben, oder je­ne, die er­klär­ten, war­um man die­ses Buch nicht le­sen braucht, es sei von ei­nem »al­ten, wei­ßen Ty­pen«, so ei­ne Li­te­ra­tur­ak­ti­vi­stin, und man sol­le bes­ser an­de­re Au­torin­nen le­sen, z. B. Si­ri Hust­vedt, die aber, wenn man ge­nau nach­schaut, äl­ter ist als Hou­el­le­becq und eben­falls weiß und ich fra­ge mich nun, ob man Si­ri Hust­vedt als »al­te, wei­ße Typ­in« oder »al­te, wei­ße Frau« be­zeich­nen darf, oh­ne von der Sprach­po­li­zei ver­ur­teilt zu wer­den.

Schließ­lich gab es noch ei­nen Text, den ich auf Face­book ver­linkt fand, der im Teaser vor­schlug, das Auf­kom­men an Hou­el­le­becq-Be­spre­chun­gen und da­mit die Auf­merk­sam­keit für die­sen Au­tor be­wusst klein zu hal­ten, aber da­für muss­te auch die­ser Text erst ein­mal Auf­merk­sam­keit auf Hou­el­le­becq len­ken, um zu sa­gen, dass man auf kei­nen Fall Hou­el­le­becq Auf­merk­sam­keit schen­ken darf. Und dann, wie mir ein Freund sag­te, war da die­ser Zeit-Feuil­le­to­nist zu der Er­kennt­nis ge­kom­men, dass Hou­el­le­becq ein »neu­rech­ter Den­ker« sei (ver­mut­lich we­gen sei­ner dür­ren Speng­ler­re­de) und ich dach­te an die­sen dampf­plau­dern­den ehe­ma­li­gen Spie­gel-Ko­lum­ni­sten, der sei­ner­zeit Chri­sti­an Kracht als »Neu­rech­ten« dif­fa­mier­te und da­nach seufz­te ich ob der Le­bens­zeit, die man mit der Be­schäf­ti­gung sol­cher Seins-Nicht­se wie Diez oder So­boc­zyn­ski ver­schwen­det.

Die Er­kennt­nis, dass die mei­sten Feuil­le­ton­be­spre­chun­gen ins­be­son­de­re was Hou­el­le­becq an­geht, nicht das Pa­pier wert sind, auf dem sie ge­druckt wur­den, keim­te bei mir spä­te­stens nach »Un­ter­wer­fung« auf. Vie­le Re­zen­sen­ten woll­ten sich mit der in der Ge­schich­te an­ge­leg­ten po­li­tisch-ge­sell­schaft­li­chen Fra­ge, ab wann sich die De­mo­kra­tie so­zu­sa­gen sel­ber zum Scha­fott führt, nicht be­schäf­ti­gen, son­dern de­kla­rier­ten das Buch ein­fach zur »Sa­ti­re«. An­de­re be­schäf­tig­ten sich mit der un­plan­ba­ren Par­al­le­le zwi­schen Erst­ver­öf­fent­li­chung des Bu­ches und den An­schlä­gen auf die Ma­cher des Sa­ti­re­ma­ga­zins »Char­lie Heb­do«. Bei­des hat­te we­nig bis nichts mit dem Buch zu tun. Dass für der­ar­ti­ge Ar­beits­ver­wei­ge­run­gen die Zu­stim­mungs­ra­ten im­mer mehr sin­ken, darf nie­man­den mehr ver­wun­dern.

Nun al­so »Se­ro­to­nin«. Dem deut­schen Le­ser fällt auf: wie­der ein­mal Ste­phan Klei­ner als Über­set­zer. Ich glau­be, es gibt in­zwi­schen vier oder fünf Über­set­zer von Hou­el­le­becq ins Deut­sche und ich fra­ge mich, war­um es im­mer wie­der ein an­de­rer sein muss. Gibt es da­für Grün­de? Wird die Po­si­ti­on aus­ge­schrie­ben und der gün­stig­ste ge­nom­men? Aber viel­leicht ist das nur ein Ne­ben­gleis. Wie üb­lich wird ei­nem so­fort der »Held« des Bu­ches vor­ge­stellt: er heisst Flo­rent-Clau­de und hasst die­sen Vor­na­men (ich nen­ne ihn da­her nur noch Flo­rent), aber, und das ist durch­aus neu, er hasst sei­ne El­tern nicht, im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches spie­len die El­tern ei­ne wich­ti­ge Ne­ben­rol­le, aber da­zu spä­ter.

Flo­rent, der Ich-Er­zäh­ler, 46 Jah­re alt, lässt den Le­ser nicht ei­ne Se­kun­de dar­über im Zwei­fel dass er ein Ge­schei­ter­ter ist, ein »sub­stanz­lo­ses Weich­ei«, in »un­er­träg­li­che Lee­re« und »fried­voll, ge­fe­stig­ter Trau­rig­keit« le­bend, mit über­mä­ssi­gem Ni­ko­tin- und Al­ko­hol­kon­sum, aber eben in­zwi­schen auch ei­ne Ta­blet­te mit dem Na­men »Cap­to­rix« kon­su­mie­rend, ein neu­es Pro­dukt, wel­ches Stim­mun­gen auf­hel­len soll, ein An­ti-De­pres­si­va oh­ne die gän­gi­gen Ne­ben­wir­kun­gen die­ser Prä­pa­ra­te. Hier kommt Se­ro­to­nin ins Spiel, je­nes Hor­mon, dass vor al­lem für die Ge­las­sen­heit, den psy­chi­schen Aus­gleich zu­stän­dig ist, und so fühlt sich denn auch Flo­rent, ob­wohl er ei­gent­lich de­pres­siv ist und sich an­fangs bei­spiels­wei­se nur müh­sam zur Kör­per­pfle­ge auf­raf­fen kann.

Zu­nächst hat man den Ein­druck da er­zäh­le je­mand aus der Zu­kunft, denn die Prä­si­dent­schaft Macrons wird ein­mal als in der Ver­gan­gen­heit lie­gend ge­mut­maßt, aber die Rech­ne­r­ei­en, die Hou­el­le­becq dem Le­ser an­bie­tet le­gen den Schluss na­he, dass da je­mand aus der Per­spek­ti­ve des Jah­res 2018, viel­leicht 2019, er­zählt und Flo­rent ist da­mit 1972/73 ge­bo­ren, in gu­ten Ver­hält­nis­sen (der Va­ter war No­tar), be­hü­tet auf­ge­wach­sen. Er stu­dier­te auf ei­ner pri­va­ten Land­wirt­schafts­schu­le, ar­bei­te­te in gut do­tier­ten An­stel­lun­gen (bei Monsan­to und dann im fran­zö­si­schen Land­wirt­schafts­mi­ni­ste­ri­um). Obe­re Mit­tel­schicht al­so. Zu Be­ginn der Er­zäh­lung lebt er von ei­nem üp­pi­gen Ge­halt, wel­ches je­doch für Mie­te ei­ner gro­ßen Woh­nung in Pa­ris und das Aus­hal­ten sei­ner ja­pa­ni­schen Ge­lieb­ten na­mens Yu­zu zu 90% auf­ge­braucht wird. Da­ne­ben be­sitzt er ein Er­be, wel­ches ei­nen Kon­to­stand von rund 700.000 Eu­ro aus­weist.

Nach kur­zem Vor­spiel be­ginnt es mit der Schil­de­rung der Los­lö­sung von Yu­zu. In­ter­es­sant, dass aus­ge­rech­net sie die ein­zi­ge Prot­ago­ni­stin im Buch ist, die man als Pro­fi­teu­rin der Glo­ba­li­sie­rung be­zeich­nen könn­te, denn so­lan­ge sie in Frank­reich lebt, le­ben kann (ihr Ge­halt ist bei wei­tem nicht aus­rei­chend für ihr Lu­xus­le­ben), muss sie nicht zu­rück nach Ja­pan, wo wohl schon ei­ne ar­ran­gier­ter Ehe auf sie war­tet. Bei­de ha­ben sich je­doch ent­frem­det, er schläft schon län­ger nicht mehr mit ihr aber als er auf ih­rem PC por­no­gra­fi­sche Vi­de­os ent­deckt (vom Gang­bang in sei­ner Woh­nung bis zur So­do­mie ist al­les da­bei), be­schliesst er, sie zu ver­las­sen und so­zu­sa­gen rück­stands­los zu ver­schwin­den. Er gibt sei­nen Job auf, kün­digt die Woh­nung und be­sorgt sich bei ei­ner an­de­ren Bank ein neu­es Kon­to. Das geht bin­nen ei­nes Ta­ges. Schwie­ri­ger – drei Ta­ge! – ist es, ein neu­es Do­mi­zil zu fin­den. Der chro­ni­sche Ni­ko­tin­süch­ti­ge be­nö­tigt ein Rau­cher­zim­mer, was, wie sich her­aus­stellt, kom­pli­ziert ist, zu­mal auch noch der Pa­ri­ser Be­zirk der neu­en Wohn­statt nicht ganz un­wich­tig ist. Als er sein Ho­tel ge­fun­den hat, ver­schwin­det er aus sei­ner Woh­nung und lässt Yu­zu gruß- und mit­tei­lungs­los zu­rück.

Die in­di­vi­du­el­le Zer­streu­ung Sex, die in Hou­el­le­becqs Ro­ma­nen im­mer ei­ne wich­ti­ge Rol­le spiel­te, ver­flüch­tigt sich für den Prot­ago­ni­sten des neu­en Ro­mans. Der »Kern sei­nes Seins« schim­mert nur noch zu Be­ginn her­vor, wenn er an ei­ner Tank­stel­le in Spa­ni­en zwei jun­gen Frau­en hilft, den Rei­fen­druck ih­res Fahr­zeugs zu über­prü­fen und da­bei von ei­ner Erek­ti­on »be­fal­len« wird. Dies ge­schah vor der »Captorix«-Therapie, die zwar die la­tent dro­hen­de Selbst­tö­tungs­nei­gung bei An­ti-De­pres­si­va ver­hin­dert, da­für aber die Li­bi­do fast voll­stän­dig zum Er­lie­gen bringt. Das hin­dert Flo­rent zwar nicht von den ih­ren se­xu­el­len Vor­zü­gen sei­ner ehe­ma­li­gen Ge­lieb­ten zu er­zäh­len, aber der Held, so hat man das Ge­fühl, er­zählt von ei­ner sehr fer­nen Zeit, ähn­lich ei­nem Berg­stei­ger, der seit Jah­ren nicht mehr das Haus ver­las­sen hat. Da hel­fen auch die wuch­tig ein­ge­streu­ten Vul­ga­ris­men wie »Schlam­pe«, »Mö­se« oder ähn­li­ches nicht mehr – es bleibt maul­hel­den­haft und viel­leicht, so denkt man als Le­ser, möch­te der Au­tor nur ein biss­chen pro­vo­zie­ren und das dürf­te bei den blank­lie­gen­den Ner­ven der Sprach­kor­rek­ten ganz gut funk­tio­nie­ren.

Ge­blie­ben ist das letz­te Aben­teu­er der 10er Jah­re des 21. Jahr­hun­derts: Das Rau­chen. Es ist für Flo­rent ge­ra­de­zu ei­ne he­roi­sche Wi­der­stands­ge­ste ge­gen die Ge­sell­schaft, den Rauch­mel­der in Ho­tel- oder son­sti­gen Schlaf­zim­mern un­brauch­bar zu ma­chen und wo dies durch die Decken­hö­he von 4 Me­tern nicht geht bleibt nur die Über­nach­tung auf dem Bal­kon. Da ist sie, die Dis­kre­panz zum deut­schen Le­ser, der in den Dis­kus­sio­nen der letz­ten Mo­na­te als ul­ti­ma­tiv letz­te Frei­heit das Au­to­fah­ren oh­ne Tem­po­li­mit an­ge­dient be­kommt.

In ei­ner Mi­schung aus Sen­ti­men­ta­li­tät, Lan­ge­wei­le und Neu­gier be­gibt sich Flo­rent auf ei­ne Art Ab­schieds­tour­nee und sucht ehe­ma­li­ge Ge­lieb­te und Freun­de auf. Den An­fang macht ei­ne ge­wis­se Clai­re, ei­ne im­mer noch ar­beits­lo­se, in­zwi­schen dem Al­ko­hol ver­fal­le­ne Schau­spie­le­rin, mit der ihm, wie er fest­stel­len muss, nichts mehr ver­bin­det (wie ge­sagt: der Sex schei­det aus; Clai­re schei­tert). Dann geht er in die Nor­man­die und be­sucht Ay­me­ric, ei­nen Stu­di­en­freund, der sich ge­gen ei­nen gut be­zahl­ten Job in der In­du­strie ent­schie­den hat­te und nun Milch­wirt­schaft nach öko­lo­gi­schen Re­geln be­treibt. Mehr als ein Jahr­zehnt ist seit sei­nem letz­ten Be­such ver­gan­gen, und Ay­me­ric ist in­zwi­schen »ver­dros­sen, ver­stockt und ver­zwei­felt«, auch er Al­ko­ho­li­ker, die Frau ist mit den bei­den Kin­dern weg. Die Freun­de schwei­gen, trin­ken und be­rau­schen sich an ei­ner Auf­nah­me von »Child in Time« 1970. Ay­me­rics Idea­le sind noch da, die Kü­he wer­den von Hand ge­mol­ken, be­kom­men kein Tur­bo­fut­ter, die Ein­nah­men sind aber be­schei­den und auch die Bun­ga­low-Ver­mie­tung auf dem gro­ßen Grund­stück funk­tio­niert nicht (nur ein pä­do­phi­ler Deut­scher be­wohnt ei­nes der Häu­ser). Als die EU die Milch­quo­ten ab­schafft, ste­hen die Bau­ern vor dem Ru­in. Es kommt zum Tho­mas-Münt­zer-mä­ssig in­sze­nier­ten Auf­stand, zur Kon­fron­ta­ti­on mit der Po­li­zei. Zehn Land­wir­te ster­ben, Ay­me­ric bringt sich um. Flo­rents Schock­zu­stand ist von kur­zer Dau­er.

Im­mer­hin: Zwei Frau­en wa­ren da, zwei Mög­lich­kei­ten, sein Glück zu­ma­chen. Bei­de Ma­le ge­schei­tert. Da war Ka­te, mit der man »die Welt [hät­te] ret­ten kön­nen«, die er aber in ei­nem ent­schei­den­den Mo­ment ei­nen Au­gen­blick zu spät an­ge­ru­fen hat­te. Und dann Ca­mil­le, die ehe­ma­li­ge Prak­ti­kan­tin, zehn Jah­re jün­ger, mit der er fünf Jah­re zu­sam­men­ge­lebt hat­te, die »schön­sten Jah­re« sei­nes Le­bens. Vor­bei. Und das nur, we­gen Tam und ih­rem »hüb­schen klei­nen schwar­zen Hin­tern«.

Ca­mil­le hat sich als Tier­ärz­tin nie­der­ge­las­sen. Er fin­det und be­ob­ach­tet sie und ih­re Kin­der (un­ter an­de­rem ei­nen vier­jäh­ri­gen Jun­gen) nun über Wo­chen, traut sich nicht, sie di­rekt an­zu­spre­chen. Sie lebt al­lei­ne; kein Mann, kein Ge­lieb­ter in Sicht. Ir­gend­wie kommt er auf die Idee den Sohn zu er­schie­ßen um dann als emo­tio­na­ler Ret­ter auf­zu­tau­chen und da be­kommt das Buch für kur­ze Zeit ei­ne Wen­dung, die ei­nem fast das Blut in den Adern ge­frie­ren lässt, denn mit wel­cher per­ver­ser Schein-Lo­gik der Ich-Er­zäh­ler den Mord an dem Kind recht­fer­tigt als er den Klei­nen beim Puz­zle­spie­len auf der Ter­ras­se im Vi­sier sei­nes Ge­weht hat, ist wirk­lich schockie­rend, viel schockie­ren­der als das pro­vo­ka­ti­ve Her­um­ge­re­de über »Schwän­ze« und den Tou­ris­mus­gi­gan­ten Fran­co.

Der Re­zen­sent ist nun in dem Di­lem­ma die Auf­lö­sung mit­lie­fern zu müs­sen oder den Le­ser auf­zu­for­dern, nicht wei­ter zu le­sen. Denn zum Mord kommt es nicht, was man er­ah­nen kann, da für Flo­rent vor­her be­reits Schieß­übun­gen mit be­weg­li­chen Zie­len wie Vö­geln nicht mög­lich wa­ren. Er fährt in­des­sen nach Pa­ris, braucht ein neu­es Re­zept für sein Psy­cho­phar­ma­ka. Da ist der Ro­man auch schon fast zu En­de, noch 30 Sei­ten schleppt er sich da­hin, Hou­el­le­becq hat­te wohl kei­ne Lust mehr, lässt sei­nen im­mer mehr ver­fet­te­ten Prot­ago­ni­sten (noch ei­ne Ne­ben­wir­kung des Me­di­ka­ments) ei­ne Woh­nung in ei­nem an­ony­men Hoch­haus­vier­tel in Pa­ris be­zie­hen, wo er mit den noch ver­blie­be­nen 200.000 Eu­ro (die Ho­tel­auf­ent­hal­te!) sich buch­stäb­lich zur letz­ten Ru­he, in der nur noch der Sport und die Na­tur­do­kus im Fern­se­hen von In­ter­es­se sind (spä­ter nicht ein­mal mehr der Sport), nie­der­lässt aber im­mer­hin – ei­ne letz­te Ak­ti­on – ei­ne Wand mit Aus­drucken der Fo­tos sei­ner glück­lich­sten Au­gen­blicke ta­pe­ziert und er ima­gi­niert schon den Mak­ler nach sei­nem Ab­le­ben, wie er für ei­nen kur­zen Mo­ment er­staunt über die­se Fo­to­wand ist und dann den Auf­trag zur Ent­fer­nung gibt.

Man kann und muss die­ses Buch kri­ti­sie­ren, man kann es wo­mög­lich ab­leh­nen, kann die­se Spra­che furcht­bar fin­den, die Fi­gur er­bärm­lich, die EU- und Glo­ba­li­sie­rungs­kri­tik, die in Nu­an­cen durch­schim­mert, ba­nal, die in­fla­tio­när ein­ge­setz­ten Mar­ken­pro­dukt­na­men frag­wür­dig, die de­tail­lier­te To­po­gra­phie von Pa­ris und der Nor­man­die lang­wei­lig (und man kann, mit ein biss­chen Ge­schick, die letz­ten bei­den Stil­mit­tel auch er­klä­ren). Und ja, li­te­ra­risch ist es dürf­tig. Aber un­ter die­sen Schich­ten, zwi­schen die­sen Ti­ra­den bei­spiels­wei­se auf die Hol­län­der, die Deut­schen, Tho­mas Mann und Mar­cel Proust, das »Rind­vieh« Goe­the, die »um­welt­be­wuß­ten Klein­bür­ger«, kurz: auf Gott und die Welt, die­sem Ge­mau­le, das manch­mal an (den spä­ten) Tho­mas Bern­hard er­in­nert und sich dann doch so groß da­von un­ter­schei­det, denn Flo­rent ist wie auch bei­spiels­wei­se Bru­no aus »Ele­men­tar­teil­chen« oder auch die na­men­lo­se Haupt­fi­gur aus dem »Kampfzone«-Roman ein ver­deck­ter Ro­man­ti­ker, ein Sehn­süch­ti­ger, der nicht nur ver­zwei­felt ist, son­dern auch ver­zwei­felt ver­sucht, nicht in Zy­nis­mus ab­zu­drif­ten und das ist der Un­ter­schied zu den Fi­gu­ren Bern­hards, die mit ih­rem ein­gän­gi­gen Wit­zel­tum die Feuil­le­ton­stu­ben amü­sie­ren und ei­ne be­son­de­re Ver­ach­tung für den »Klein­bür­ger« dar­stel­len, dar­in sind sie sich ei­nig, Hou­el­le­becq und Bern­hard, frei­lich ei­ne fra­gi­le Ge­mein­sam­keit.

Wenn Flo­rent dann er­zählt von sei­nen El­tern, die­sem stil­len Ein­ver­ständ­nis zwi­schen den bei­den, dem, was man tri­vi­al oder tref­fend »Lie­be« nen­nen könn­te, und dann dem un­heil­ba­ren Ge­hirn­tu­mor des Va­ters (er ist 64, die Mut­ter 59) und de­ren ge­mein­schaft­li­cher Selbst­mord in Ste­fan-Zweig-Ma­nier, händ­chen­hal­tend, dann spürt man plötz­lich die­se Sehn­sucht, die­ses Ver­lan­gen nach dem Eins­sein mit ei­ner Welt und vor al­lem die Weh­mut über die ver­pass­ten Chan­cen mit Ka­te und Ca­mil­le, ei­ne Weh­mut, die man fast als Kitsch de­nun­zie­ren könn­te, aber sie ist so gut ver­steckt, dass sie kaum auf­fällt. Und dann ist der mit vul­gä­rer Vol­te vor­ge­brach­ter Rat­schlag an Ay­me­ric nicht mehr so ab­we­gig, die Milch­wirt­schaft und all sei­ne hoch­ge­steck­ten, aber von der Ge­sell­schaft eher gleich­gül­tig be­trach­te­ten Am­bi­tio­nen auf­zu­ge­ben, sich ei­ne Frau wer­weiss­wo­her (Mol­da­wi­en viel­leicht) zu su­chen und mit ihr und ih­ren be­schei­de­nen Glücks­be­dürf­nis­sen in Frie­den und Har­mo­nie in Sym­bio­se mit ei­nem ei­gent­lich ver­hass­ten Fi­nanz­ka­pi­ta­lis­mus zu le­ben.

Flo­rent ist, so wie ihn der Dich­ter schil­dert, ei­gent­lich ei­ne Spur zu klug für die­sen osten­ta­ti­ven Selbst­hass, was nichts we­ni­ger als das li­te­ra­ri­sche Un­ver­mö­gen des Dich­ters Hou­el­le­becq auf­zeigt, Si­tua­tio­nen und Stim­mun­gen zu zei­gen, zu evo­zie­ren, statt sie dau­ernd zu er­klä­ren, zu be­haup­ten. So macht er aus Flo­rent ei­nen Jam­mer­lap­pen, der sich in sei­nen selbst­er­fül­len­den dys­to­pi­schen Pro­phe­zei­un­gen ein­rich­tet. Es ist ein In­ner­lich­keits­ro­man, aber sei­ne In­ner­lich­keit ist an­ders lang­wei­lig wie die der In­ner­lich­keits­li­te­ra­tur in den 1970ern – sie ist vor­aus­be­re­chen­bar, fat­um­haft, aus­weg- und trost­los. Es ist na­tür­lich das gu­te Recht ei­nes Au­tors, sei­ne Fi­gur der­art vor­zu­füh­ren. Aber es ist schon fa­tal, dass da­mit Ent­frem­dungs­sze­na­ri­en der Ge­gen­wart der­art fahr- wie nach­läs­sig dif­fa­miert wer­den.

13 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich kann das hier aus­führ­lich Be­schrie­be­ne gut nach­voll­zie­hen, ver­ste­he aber den letz­ten Satz nicht recht: War­um wer­den Ent­frem­dungs­sze­na­ri­en dif­fa­miert, wenn sie li­te­ra­risch dar­ge­stellt wer­den?
    Vor ein paar Jah­ren hat ein­mal ein aka­de­misch Tä­ti­ger ei­ne Um­fra­ge un­ter Hou­el­le­becq-Über­set­zern ver­schie­de­ner Spra­chen ge­macht. Da­mals mein­te ich, Hou­el­le­becq sei ein Au­tor un­ter an­de­ren, al­so gar so be­son­ders auch wie­der nicht (und ich mei­ne da­mit, wenn ich es jetzt wie­der­ho­le, sei­ne Bü­cher seit »Pla­te­for­me«, nicht die bei­den er­sten Ro­ma­ne). An der knap­pen Re­ak­ti­on des Aka­de­mi­kers merk­te ich sein Er­stau­nen über mei­ne Äu­ße­rung.
    Un­längst ha­be ich in ei­nem Ar­ti­kel über die Auf­nah­me von H.s neu­em Ro­man in Frank­reich in der Ein­lei­tung ge­le­sen, er schrei­be »teuf­lisch gut« (und dann ka­men al­le mög­li­chen Abers, Po­li­tik und so). Ich fin­de es er­fri­schend, wenn Keu­sch­nig da­ge­gen fest­stellt, die Spra­che des Ro­mans sei »furcht­bar« , der Ro­man li­te­ra­risch »dürf­tig«. Zu »Se­ro­to­nin« bin ich noch nicht be­kom­men, aber »Un­ter­wer­fung« fand ich auch mä­ßig, man kann so­was ge­schwind le­sen, es bie­tet kaum Wi­der­ha­ken, li­te­ra­risch ist mir das zu glatt, die Pro­vo­ka­tio­nen schei­nen be­rech­net und wir­ken da­her – zu­min­dest auf mich (und auf Keu­sch­nig) – nicht als sol­che.
    Was Keu­sch­nig über H.s ro­man­ti­sche Sehn­süch­te schreibt, trifft m. E. zu, auch, dass sie im Ver­lauf von H.s Kar­rie­re in den Hin­ter­grund ge­rückt sind, un­ter­schwel­lig ge­wor­den sind. Ver­drängt, das ist mei­ne Er­klä­rung, ver­drängt durch me­di­en­be­zo­ge­nes Kal­kül (im­mer wie­der kom­men Me­di­en­ge­stal­ten vor, auch Po­li­ti­ker etc., die ent­we­der be­nannt wer­den oder iden­ti­fi­zier­bar sind). Das war bei H. am An­fang na­tür­lich nicht so, so­was kann man erst ab ei­nem be­stimm­ten Be­kannt­heits­grad ma­chen (auch Th. Bern­hard mach­te es, erst re­la­tiv spät, ich glau­be, er war schüch­ter­ner als H., krank­haft schüch­tern (und zu­gleich ar­ro­gant)). Im An­fang war bei H. (und bei Th. B.) ein of­fe­nes Lei­den an der Exi­stenz, ein Ge­fähr­det­sein, tie­fe Ver­let­zung. Aus die­ser Er­fah­rung her­aus schrei­ben sie, die­se Er­fah­rung ist die pa­ra­do­xe Kraft- und In­spi­ra­ti­ons­quel­le. Sie kann sich al­ler­dings er­schöp­fen, und wenn sie nicht durch an­de­res er­setzt wird, kann es sein, daß der Schmerz zu blo­ßem Res­sen­ti­ment wird, das die Krea­ti­vi­tät min­dert.
    Oh­ne den neu­en Ro­man ge­le­sen zu ha­ben: Wo­mög­lich ist die ro­man­ti­sche Sehn­sucht al­ters­wei­se ge­wor­den oder will das zu­min­dest sein, Phi­le­mon und Bau­cis, oder bes­ser, Can­di­de, nach an­stren­gen­der Le­bens­rei­se und Ge­sell­schafts­kri­tik sich in den Gar­ten zu­rück­zie­hen, den zu be­stel­len die letz­ten Freu­den vor dem En­de bie­tet. That’s life, boy!

  2. Mit »dif­fa­mie­ren« mei­ne ich, dass die Ent­frem­dungs­er­fah­run­gen von der Welt zu Gun­sten von Poin­ten und Pro­vo­ka­tio­nen so­zu­sa­gen »ge­op­fert« und sehr weit in den Hin­ter­grund ge­scho­ben wer­den. Ich möch­te da­mit na­tür­lich nicht den Welt­schmerz-Or­gi­en der 1970er-Jah­re und dem pla­ka­ti­ven Ak­ti­vi­sten­tum der Ge­gen­wart das Wort re­den, aber das ist mir dann doch zu glatt, zu sehr auf Af­fekt ge­bür­stet.

    »Un­ter­wer­fung« bot durch den Sub­text der sich selbst ab­schaf­fen­den De­mo­kra­tie ei­ne ge­wis­se Wi­der­bor­stig­keit. Und es wur­de der Op­por­tu­nis­mus der Mit­tel­schicht ge­zeigt, ein Op­por­tu­nis­mus, der sich all­zu leicht in An­pas­sung und Zu­stim­mung ver­wan­delt. In »Se­ro­to­nin« sind al­le Prot­ago­ni­sten Ge­schei­ter­te, selbst ein Haus­be­sit­zer, der Flo­rent ein Haus ver­mie­tet, outet sich als ge­schei­ter­ter Ar­chi­tekt. In­ter­es­sant wä­re es zu er­zäh­len, wie es zu die­sem Schei­tern ge­kom­men ist. Statt­des­sen wird dann »der Staat« oder »die Re­gie­rung« da­für ver­ant­wort­lich ge­macht. Das kann der Prot­ago­nist na­tür­lich glau­ben, aber es ver­schafft dem Le­ser kei­ne Be­frie­di­gung; die­se Form der Zu­ord­nung ist dann fast gro­schen­heft­ar­tig. Das fin­de ich scha­de, weil Hou­el­le­becq durch­aus ei­nen Nerv tref­fen könn­te, aber ich glau­be, dass er mit sei­nem li­te­ra­ri­schen Ver­mö­gen ent­we­der an sich sel­ber schei­tert (sic!) oder er es nicht möch­te.

  3. »Aus­wei­tung der Kampf­zo­ne« und »Ele­men­tar­teil­chen« hat­ten et­was Kru­des, au­ßer­ge­wöhn­lich Di­rek­tes, be­stimm­te Phä­no­me­ne, die je­der kann­te, aber nie­mand zu be­nen­nen wuß­te, wur­den re­gel­recht auf­ge­spießt. In der Kom­po­si­ti­on war das oft schräg, wag­hal­sig. Jetzt er­zählt er halt so da­hin, meist im Plau­der­ton, Mo­no- oder Dia­log. Er ist »zu gut« ge­wor­den, ver­ar­bei­tet Stof­fe, die ihm die Me­di­en zu­spie­len (oder zu­spü­len, wie die Dü­nung). So emp­fand ich es bei »Un­ter­wer­fung« oder »Kar­te und Ge­biet«, Ro­ma­ne, die bei mir nicht viel hin­ter­las­sen ha­ben. Ich weiß nicht, ob es Über­set­zer gibt, die sa­gen, nach­dem sie von ei­nem Au­tor ei­ni­ges über­setzt ha­ben: Die­ses neue Buch ma­che ich nicht, es reizt mich nicht, be­deu­tet kei­ne Her­aus­for­de­rung. Oder ob sie sich dar­um rei­ßen, ei­nen Au­tor zu über­set­zen, über den al­le Welt spricht. Mit­ver­die­nen tut man auf al­le Fäl­le, bei sehr ho­hen Auf­la­gen.

  4. »In »Se­ro­to­nin« sind al­le Prot­ago­ni­sten Ge­schei­ter­te«. Au­drey (nicht Hepb­urn) vom Ho­tel Mer­cure wird jetzt nicht sooo ne­ga­tiv dar­ge­stellt.

  5. Ja, stimmt, und der Chef des Ho­tel, der Flo­rent ei­ne Gna­den­frist für sein Rau­cher­zim­mer ein­räumt, ist es auch nicht. Aber Au­drey und ihr Chef sind kei­ne Haupt­fi­gu­ren...

    In­ter­es­san­ter wä­re die Fra­ge ob Ca­mil­le der­art ein­ge­stuft wer­den kann. Aus Sicht des Prot­ago­ni­sten si­cher­lich – man le­se die Schimpf­re­de auf die »Patch­work­fa­mi­lie«.

  6. Ich kann Ih­nen wei­test­ge­hend fol­gen, mei­ne aber noch ei­nen an­de­ren Aspekt ge­se­hen zu ha­ben.

    Weil ich es un­ge­fil­tert hö­ren woll­te, ha­be ich mir mal die »Vor­den­ker« der Iden­ti­tä­ren Be­we­gung (die ja aus Frank­reich kommt) im O‑Ton an­ge­se­hen. Die we­sent­li­chen To­poi sind ne­ben dem de­fi­nie­ren­den Eth­no­plu­ra­lis­mus die Vor­her­sa­ge des Un­ter­gangs der Ge­sell­schaft, auf den man war­ten muss, da­mit wie­der et­was Neu­es ent­ste­hen kann, die all­um­fas­sen­den Ein­schrän­kun­gen der per­sön­li­chen Rech­te, die Ein­schrän­kung der Mei­nungs­frei­heit.

    All das at­met das Buch, zu­min­dest hat es sich mir so auf­ge­drängt. Die un­ter­ge­hen­de Bau­ern­schaft, das als Be­vor­mun­dung emp­fun­de­ne um sich grei­fen­de Rauch­ver­bot, die Sprech­ver­bo­te und all das ge­würzt mit et­was Heid­eg­ger. Das soll jetzt nicht hei­ßen, dass Hou­el­le­becq ein Neu­er Rech­ter sei, aber er spielt mit den Ideen. Der Vor­wurf der Iden­ti­tä­ren an die Ge­sell­schaft ist, dass man zwar er­kennt, dass et­was falsch läuft, man sich aber nicht zur Wehr setzt, sich ar­ran­giert oder un­ter­geht. Nun ja, Flo­rent geht wie so vie­le An­de­re un­ter, legt sich wie ein ster­ben­des Tier in ei­nen Un­ter­schlupf. Da­zu passt der Mar­ken­fe­ti­schis­mus und die An­be­tung an den wohl­sor­tier­ten Su­per­markt. Das ist nicht mes­ser­scharf, ich mei­ne aber die­sen Sound ge­hört zu ha­ben.

    In der Kri­tik fand man na­tür­lich die üb­li­chen Ver­däch­ti­gen und ih­re Plat­ti­tü­den, aber auch er­staun­lich ab­ge­klär­te An­sich­ten. Vor al­lem hat mich die taz über­rascht, die ich nor­ma­ler­wei­se nur mit Herz­trop­fen er­tra­ge. Do­ris Akrap hat tat­säch­lich auf all das Er­wart­ba­re ver­zich­tet.

  7. Na­ja, der Text von Frau Akrap ist doch sehr im taz-Mei­nungs­tun­nel an­ge­sie­delt; ih­re In­ter­pre­ta­tio­nen wir­ken ein biss­chen auf­ge­setzt. Da west der Wunsch nach neu­en Män­nern für das Land durch. Und da ist sie sich ja so­gar ei­ni­ge mit Hou­el­le­becq.

    Es wür­de sich loh­nen die Speng­ler-Re­de Hou­el­le­becqs ein­ge­hend zu ana­ly­sie­ren. Sie ist nur im Be­zahl-Mo­dus der »Welt« les­bar und ich fürch­te, es wür­de den Ver­ant­wort­li­chen nicht ge­fal­len, wenn ich sie hier el­len­lang zi­tie­ren wür­de. Die Re­de ist m. E. sehr dürf­tig und be­dient tat­säch­lich ei­ne Mi­schung aus Welt­un­ter­gangs­lust und ‑leid. Es ist die­ser Span­nungs­bo­gen bei Hou­el­le­becq, der das halb­wegs er­träg­lich macht.

    Der Un­ter­gang der west­li­chen Ge­sell­schaft wur­de ja schon in »Un­ter­wer­fung« ex­pli­zit und lust­voll ver­zo­gen. Als Er­satz trat hier das al­te, neue Ver­spre­chen: die Re­li­gi­on (in Form des Is­lam). Die nahm man an, weil sie Vor­tei­le ver­sprach. Auch in den Bü­chern zu­vor war das So­zi­al­le­ben der west­li­chen Men­schen ei­gent­lich ka­putt und konn­te per­spek­ti­visch an künst­li­che Le­be­we­sen de­le­giert wer­den. Die Par­al­le­len zu den Iden­ti­tä­ren sind in »Se­ro­to­nin« si­cher­lich greif­bar. Wo­bei ich glau­be, dass Hou­el­le­becq den zwei­ten Teil des Plans, das »Neue«, nicht bes­ser fin­det. Ich fin­de, dass hat mehr mit Fin de Siè­cles zu tun als mit iden­ti­tä­rem Den­ken.

    Ich kann mir ge­ra­de über­haupt nicht vor­stel­len, wie das näch­ste Buch in vier oder fünf Jah­ren aus­se­hen soll. Und ob man es dann über­haupt noch le­sen will.

  8. In »Un­ter­wer­fung« wur­de die west­li­che Ge­sell­schaft von ei­ner frem­den Kul­tur ge­ka­pert. Die IB sieht eher das Sa­men­korn, das noch kei­men kann. Viel­leicht so wie Flo­rent in dem Re­stau­rant den Bau­ern Ay­me­ric als »un­se­ren Herrn« in den Mund legt. Und die Vi­si­on je­den Mor­gen in dem Haus am See auf zu­wa­chen, hört sich schon sehr pa­ra­die­sisch an (Sie schrie­ben bei Ca­mil­le von Kin­dern, ich ha­be nur von ei­nem Vier­jäh­ri­gen ge­le­sen).

    Die Chuz­pe ei­ner Vor­her­sa­ge ha­be ich nicht. Auf­grund des neu­en Fi­gu­ren­ty­pus der Ca­mil­le ist Al­ter­mil­de nicht mehr ganz un­mög­lich? Und Le­sen wer­de ich es auf je­den Fall.

  9. Ich ha­be ähn­lich wie Gre­gor in den äl­te­ren Bü­chern ei­ne li­te­ra­ri­sche Be­gren­zung ge­fun­den. Stim­mun­gen und Ge­müts­be­we­gun­gen er­schei­nen im­mer nur punk­tu­ell als Be­haup­tung, ich fin­de kei­ne Bö­gen, kei­ne At­mo­sphä­re, kei­ne Ent­wick­lung in den Si­tua­tio­nen.
    Es fehlt (ris­kan­te The­se) ei­ne Zen­tral­fi­gur, an die der Le­ser an­docken könn­te. Denn ein Ich-Er­zäh­ler stellt zu­nächst ei­ne kla­re Ein­la­dung dar, aber die Iden­ti­fi­ka­ti­on resp. Em­pa­thie fällt schwer. Wor­an das liegt, weiß ich nicht ge­nau. Viel­leicht ist das Gleich­ge­wicht zwi­schen Sen­ti­men­ta­li­tät und Einsamkeit/Entfremdung ja doch miss­lun­gen. Es feh­len kom­plett die »thy­mo­ti­schen En­er­gien«, al­so Stolz, Trotz, Ag­gres­si­on, Über­win­dung, etc. Die Par­al­le­le zwi­schen dem per­sön­li­chen und dem kol­lek­ti­ven Schei­tern wirkt pe­ne­trant und un­rea­li­stisch.
    Ich bin ein An­hän­ger der Theo­rie von De­leu­ze, dass im Ro­man ei­ne Fi­gur (sehr sel­ten zwei!) wich­ti­ger ist als al­le an­de­ren. In ei­nem sehr all­ge­mei­nen Sin­ne muss es ei­nen Hel­den ge­ben. Er oder sie kann auch ganz furcht­bar schei­tern, und teil­wei­se höchst un­an­ge­neh­me Ei­gen­schaf­ten ha­ben. Aber die Mög­lich­keit, den Hel­den zu mö­gen, muss ge­ge­ben sein. Die­ser An­ker fehlt, und die Fol­ge ist ei­ne Min­der­wer­tig­keit des ge­sam­ten Per­so­nals. Die Fi­gu­ren sind Zwer­ge, von Kli­schees um­la­gert, die feh­len­de »Mut­ter­lie­be« des Au­tors be­straft sie al­le glei­cher­ma­ßen.
    Das ist be­stimmt kein Kon­zept, kei­ne er­zäh­le­ri­sche Ab­sicht. Das ist ei­ne Be­schrän­kung.

  10. die_kalte_Sophie
    Na­ja, bei Hou­el­le­becq gibt es schon im­mer ei­ne, min­de­stens ei­ne (in »Ele­men­tar­teil­chen« zwei) Hauptfigur(en), die auch ziem­lich do­mi­nant ist. Und ich glau­be auch dass das Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­ti­al ins­be­son­de­re bei männ­li­chen Le­sern sehr gross ist. Ein biss­chen spielt er auch mit der po­li­ti­schen Un­kor­rekt­heit, was zu­sätz­lich ei­ner­seits Plus­punk­te bringt, an­de­rer­seits Pro­te­ste pro­vo­ziert.

    In »Se­ro­to­nin« wech­selt bei mir das In­ter­es­se zwi­schen Mit­leid und Un­ver­ständ­nis. Und dann na­tür­lich das Ge­fühl, es noch nichts so dreckig zu ha­ben wie Flo­rent. Ge­ne­rell wä­re aber die Fra­ge in­ter­es­sant, war­um und was an Ver­lie­rern in der Li­te­ra­tur in­ter­es­sant ist. (Es zu be­nen­nen wä­re die Kunst; nicht ex ne­ga­tivo zu ant­wor­ten wie »Ge­win­ner sind lang­wei­lig«.)

    PS: die in­ter­es­san­te­ste Fi­gur ist sein Freund Ay­me­ric. Er macht ei­gent­lich al­les, was das »kor­rek­te« Frank­reich von ihm ver­langt: nach­hal­ti­ge Land­wirt­schaft, Fa­mi­li­en­le­ben, öko­no­mi­sche In­ve­sti­tio­nen. Und hier ist es der Staat, der ihm sei­ne Grund­la­gen ent­zieht: Der Milch­preis wird nicht mehr ga­ran­tiert – die Ba­sis sei­ner Exi­stenz zer­brö­selt. Den Rest er­le­digt er dann sel­ber noch. Sei­ne Auf­ruhr ist ei­ne Mi­schung aus Wil­helm Tell und Tho­mas Münt­zer. Als er sieht, dass der Staat zur Not auch auf ihn schiesst, zieht er die Kon­se­quenz für sich sel­ber.

  11. Die Idee, ei­nen Ver­lie­rer zum Hel­den zu ma­chen, ist ei­gent­lich ganz gut. Ich ha­be ja vor­sich­tig for­mu­liert: nur die Par­al­le­le zwi­schen dem per­sön­li­chen und dem kol­lek­ti­ven Schei­tern ist tückisch. Wir müs­sen die Haupt­fi­gur ja dies­be­züg­lich be­fra­gen. Wor­an ge­nau schei­tert Flo­rent?!
    Man denkt un­will­kür­lich an die al­ten Buch­ti­tel: Fal­sche Ver­spre­chen! Die Ver­spre­chen der Be­schleu­ni­gung, der Frei­heit, der Par­ti­zi­pa­ti­on, der Selbst­op­ti­mie­rung, des Lust­prin­zips, so­gar das Ver­spre­chen der »In­di­vi­dua­li­tät«, al­so ei­ner mut­maß­li­chen Un­ab­hän­gig­keit des Egos vom so­zio­öko­no­mi­schen Kom­plex.
    Die­se Fi­gu­ren­ab­strak­ti­on fin­de ich zwar psy­cho­lo­gisch in­ter­es­sant, aber sie geht wie ein Feu­er­werks­kör­per nach hin­ten los. Ich wä­re der Er­ste, der ap­plau­diert, wenn’s ge­lingt, aber der Be­zugs­rah­men die­ser »west­eu­ro­päi­schen Manns­per­son« ist zu weit ge­spannt.
    Ay­me­ric wä­re (als Haupt­per­son) schon eher be­herrsch­bar, Hou­el­le­becq hat so­gar das nö­ti­ge Hin­ter­grund­wis­sen da­für.
    Ver­blüf­fend, dass die Land­wirt­schaft ei­ne Dop­pel­rol­le spielt, sie hat ei­nen öko­no­mi­schen Prot­ago­ni­sten, eben Ay­me­ric, und ei­nen bür­ger­li­chen Prot­ago­ni­sten, eben Flo­rent. Ein Rea­lo und ein Fun­di, im Sin­ne des Be­den­ken­trä­gers. Sie schei­tern bei­de, aber der Bür­ger­li­che ist von An­fang an der ka­put­te Typ. Sieht so aus, als wür­de H. nicht vor dem Un­ter­gang der Na­ti­on war­nen, son­dern schlicht und ein­fach vor dem En­de des Staa­tes als ge­mein­schafts­bil­den­de Ord­nungs­macht.
    Wer hät­te nicht schon dar­an ge­dacht, dass all die par­ti­ku­la­ren und sub­ver­si­ven Mäch­te ir­gend­wann den gro­ßen Rie­sen stür­zen könn­ten?!

  12. Ich ha­be mich nach et­was zeit­li­chem Ab­stand von der Lek­tü­re (in Ori­gi­nal­spra­che) von »Se­ro­to­nin« an ei­ner Kurz­re­zen­si­on ver­sucht:
    Der An­ti­held be­rich­tet von sei­ner ver­zwei­fel­ten Su­che nach se­xu­el­ler Be-fried-igung und auch sonst Zu-frie­den-heit in ei­nem re­du­zier­ten Ge­mein­schafts­le­ben in­ner­halb der heu­ti­gen Welt in Frank­reich.
    Die­se be­schreibt er „en pas­sant“ auf sen­si­ble Art kri­tisch, wo­bei er al­le emo­tio­na­len Re­gi­ster ver­wen­det.
    Sein Cha­rak­ter so­wie die Zu­stän­de in die­ser west­li­chen Welt er­lau­ben ihm je­doch nicht, ein für ihn le­bens­wer­tes Le­ben zu fin­den.