Ungeordnete Bemerkungen zu Anke Stellings »Schäfchen im Trockenen«
Es gibt sie noch, die Literaturkritik, die es schafft, Lust auf die Lektüre eines Buches zu erzeugen. Überraschend ist vielleicht, dass ein Verriss war, der mich auf Anke Stellings »Schäfchen im Trockenen« neugierig machte. Die lobenden Worte, die ich in den Teasern von den üblichen Verdächtigen las und auch der Preis der Leipziger Buchmesse genügten hierfür nicht. Es bedurfte der furiosen Philippika von Iris Radisch (leider jetzt hinter einer Paywall). Vor allem, weil hier von »Gesinnungsästhetik« die Rede ist, vom »vulgärsoziologischen Grund«, der diese Prosa mit dem »wichtigste[n] Literaturpreis des Frühjahrs« bedenkt.
Der Vorwurf der Gesinnungsästhetik fällt immer dann, wenn ein Buch nicht aufgrund seiner literarischen Vorzüge gelobt und ausgezeichnet zu werden scheint, sondern der politische, gesellschaftliche Deutungsrahmen des Inhalts dominiert. Gesinnungsästhetik fungiert dabei vor allem als Urteil über die Rezeption bzw. die Kritik. Es handelt sich also im weitesten Sinn um Medienkritik. Selten, dass einem Autor gesinnungsästhetisches Schreiben dahingehend unterstellt wird, dass er einen politischen und/oder gesellschaftlichen Mainstream bewusst bedient.
Dabei wird übersehen, dass nahezu jedes Urteil über ein literarisches Werk gewissen gesinnungsästhetischen Strömungen unterliegt. So ist der kleine Bruder der Gesinnungsästhetik der Zeitgeist. Der Unterschied zwischen Zeitgeist und Gesinnungsästhetik besteht darin, ob die Auszeichnenden, die Lobenden um die Priorisierung ihrer Urteilskriterien wissen. Zeitgeist geschieht, Gesinnungsästhetik ist bewusst. Ausgezeichnet wird dann etwas gerade wegen seiner außerliterarischen Bezüge, beispielsweise weil in einem Roman eine bestimmte politische Richtung positiv dargestellt wird oder weil es eine Frau geschrieben hat oder ein Mann oder ein Einheimischer oder eine Person mit Migrationsvorder- oder –hintergrund oder was auch immer als relevant herangezogen wird.
Zuletzt kursierte der Vorwurf der Gesinnungsästhetik in großem Stil in den Feuilletons der 1990er Jahre als es um die nachträgliche Bewertung der Dichtungen aus der DDR ging. Der Auslöser war Christa Wolfs Novelle »Was bleibt«. In der sich immer mehr vom Text abkoppelnden Diskussion ging es am Ende darum, ob beispielsweise Wolfs Werk aufgrund ihres Status als Autorin der DDR zu positiv rezipiert worden sei. Man hätte hieraus eine interessante Diskussion um Schriftsteller und deren politische Kompetenz führen können – aber wie so häufig entglitt das Thema. Bezeichnend, dass Wolf vor allem von Günter Grass in Schutz genommen wurde. Man hätte durchaus auch Grass, der halb freiwillig halb erzwungen zum »Gewissen der Nation« stilisiert wurde, als gesinnungsästhetisch bewerteten Autor heranziehen können, aber aus irgendwelchen Gründen unterzog man nur die DDR-Autoren der Kritik.
Radisch verwendet die Bezeichnung der »populären Gesinnungsästhetik«. Damit kritisiert das, was man grob vereinfachend als gängige Preis- und Stipendiatenprosa bezeichnen könnte. Es ist eine Prosa, die das richtige schreibt und denkt, sich dem Mainstream angepasst hat. Der Vorwurf der Gesinnungsästhetik ist daher auch als Kritik an den literarischen Urteilen generell zu verstehen.
Das Verblüffende nach der Lektüre von Stellings Buch ist, dass man Radisch in fast allen Punkten zustimmen muss. Der Inhalt des Romans ist schnell erzählt. Es ist ein Brief der Mittvierzigerin Resi an die 14jährige Tochter Bea. Und es ist eine gross-inszenierte Wutrede der sich politisch links nennenden Mutter von vier Kindern, geboren und aufgewachsen in Stuttgart, jetzt lebend in Berlin, Noch-Prenzlauer-Berg. Sie ist Schriftstellerin, der Mann, Sven, ein kiffender Maler, ausgestattet mit dem, was man inzwischen »Haltung« nennt. Die Freunde nennt er denn auch »Arschgeigen«. Seine Kompromisslosigkeit schützt zuverlässig vor finanziellen Einnahmen. Sven ist, so Resi, »authentisch«. Früher war Prinz Eisenherz das Vorbild, heute Prinz Gleichmut.
Gegen Ende des Buches zeigt sich ein Erfolg für Resi, ihr Buch erhält einen Literaturpreis und sofort fürchtet sie vom Betrieb vereinnahmt zu werden. Als Protest dagegen pinkelt sie mit ihrem Verleger auf die Strasse – sie im Rinnstein, er an der Hauswand. Reminiszenz an eine Frau, die sich einst im Aufzug erleichterte. Heldentum kann so einfach sein.
Dazwischen philosophiert Resi über ihre Herkunft, ihre soziale Schicht, die sie Klasse nennt und die sie nicht überwinden kann und selbst dann, wenn man ihr anbietet, sich einzukaufen in das Projekt K23, einer Art Eigentümergemeinschaft von Freunden, dann sieht es als Übergriff, als Einkauf, ja sogar als Verhöhnung. Das Geld käme von einem Freund, man müsste ihm die Wohnung abzahlen – undenkbar für die stolze Resi.
Das Elend beginnt mit dem PVC-Boden der Kindheit (»Der Fußboden war der Fußboden. Wenn Leute einen anderen hatten, lag es daran, dass sie andere Leute waren.«), setzt sich fort mit dem Blockflötenunterricht (andere spielen Geige und Klavier) und, als hätte man nicht schon genug Mitleid mit dieser furchtbaren Kindheit und Jugend, mit dem Eis-am-Stil, welches eben nur die anderen Mitschüler hatten – der elterliche Kühlschrank nicht.
Der Auslöser für diesen Brandbrief an die Tochter ist die Wohnungskündigung, die sie von Frank, einem aus jener Freundesclique in dessen Wohnung sie zur Untermiete wohnt, erhält. Weniger die Kündigung an sich als die Art und Weise schockiert sie: Frank hat ihr lediglich eine Kopie seiner Kündigung an den Eigentümer mit einem Stempel »Zur Kenntnis« geschickt – ohne ein Wort der Erklärung. Immerhin benötigt sie fast 200 Seiten (und einige Tage – oder sind es Wochen?), um ihrem Mann das Schreiben zu zeigen. Die Reaktion ist vorhersehbar: Man solle sich nicht mit diesen »Arschgeigen« abgeben. Sagt jener Sven, der einem für ewig in Erinnerung bleiben wird als exzessiver Holzhacker beim gemeinsamen Ferienhausurlaub in den 00er Jahren im Berner Oberland. Sozialistischer Realismus in Adelboden.
Der Bruch mit den »Freunde[n] mit Festanstellung«, die, wie sie von nun an immer wieder neu betont, gar keine sind, gar keine sein können, begann mit einem Artikel, setzte sich dann mit einem Buch fort. In beidem sehen sie sich verhöhnt, ungerecht behandelt. Die Distanzierung bestärkt Resi nun ihrer Erregung. Irgendwann sagt oder schreibt sie an einen ihrer (ehemaligen?) Freunde: »Ich denke, wir haben extrem unterschiedliche Voraussetzungen gehabt und das tunlichst ignoriert, und ich denke, dass das immer noch so ist oder noch mehr und dass es mehr denn je ignoriert wird, schlimmer noch, bemäntelt mit neoliberalem Geschwätz von Aufstiegschancen und weiß man doch, und ich wage kaum, das zu sagen, weil du auch eingestimmt hast in dieses fiese Lied mit dem Vorwurf, ich würde mich zum Opfer stilisieren, und ich glaube durchaus, dass ich Schuld trage und andere unter mir leiden, aber dass ich trotzdem noch das Recht habe, über Ursachen nachzudenken und auch darüber zu reden, weil es nämlich zu einfach ist, mich zum Sündenbock zu machen und für unzurechnungsfähig zu erklären.«
Das Zitat ist so lang, weil es den Tenor des Buches ziemlich gut wiederspiegelt. Nichts hat Bestand für sie, alles ist Schimäre, die Familie »ein Hort der Neurosen« mit ihr selber als »Herrscherin«. Das Wochenende ist eine einzige »Wochenendlüge«, die Herbstferien eine »Herbstferienlüge«. Überall falsche Versprechungen. Auch an die »Inszenierung[en] eines bunten, aufgeklärten Miteinanders« glaubt sie nicht. Die Samenspende im Freundeskreis nebst Patchworkidyll verhöhnt sie als »bunte Wahl- und Genverwandtschaft«. Dabei entlarvt sie sich durchaus selber, wenn sie aus der Prenzlauer-Berg-Schickeria, die sie ja so hasst, nicht wegziehen möchte; bloß nicht nach Marzahn, zum Unterschichtenviertel. Aber auch die 15.000 Euro Preisgeld helfen da nicht (nebenbei: Antizipation des Buchpreispreises?).
Resi badet mit ihrer stetigen Selbstreflexion im Drachenblut ihrer vermeintlichen Kritikerinnen. Sie klagt sich immer auch ein bisschen selber an. So bleibt Vera, der einstigen besten Freundin, nach 40 Jahren Freundschaft nur die E‑Mail, um sich von Resi loszusagen. Die Mail endet mit dem Bekenntnis zur Liebe. Resi nimmt das sofort auf, lehnt es ab. Liebe, Familie, Moral – alles nur Instrumente, um die Klassengegensätze aufrecht zu halten. Resi ist – das ist sehr dezent vorgebracht, aber für jedermann lesbar – tatsachlich eine Linke reinsten Wassers, keine identitäts-grünlinke Aktivistin..
Manches kommt gekonnt satirisch daher, vieles erstickt dann doch in moralinsaurem Dinkelbrei. Dafür geht sogar ins Jahr 1955 zurück, als Resis Mutter von deren Vater mit dem Kleiderbügel verprügelt wird, weil sie nicht auf ihre kleinere Schwester aufgepasst hat. Später lernt die Mutter einen reichen Verehrer kennt, der ihr erster Liebhaber wird. Aber die Klassenverhältnisse und der Vater des Galan sind dagegen. Und wird Raimund Resis Vater. Resis pränatale Belastungsstörungen (vielleicht zum Patent anmelden?).
Radischs Ablehnungsfuror erklärt sich aus ihrer Lebenserfahrung als dreifache Mutter, die dennoch im Berufsleben reüssierte, die nicht klagte, sondern anpackte (Resi würde Radisch ihren Pragmatismus als Opportunismus, ja, als Verrat, auslegen). Aber die Kritikerin vergisst in ihrem Zorn auf den Gesinnungsästhetizimus, der bestimmt hat, dass dies das Buch der Saison sein soll (obwohl es bereits im Herbst 2018 erschienen war) sich der Literarizität des Objekts zu widmen. Literaturhistorisch kann man Stellings Roman sehr gut einordnen. Er ist nichts anderes als die Weiterentwicklung des Neuen Subjektivismus der 1970er Jahre. Konkret kommt einem da Karin Strucks Roman »Klassenliebe« von 1973 in den Sinn, ein in Tagebuchform gefasster Assoziationsstrom der 25jährigen Studentin Karin, die ihre gesellschaftliche Position in der Bundesrepublik suchte. Es ist eine wild daherkommende, am Ende jedoch sehr präzise-literarisch komponierte Suada, zum Teil in für damalige Verhältnisse schonungslosem Ton. Bei allen Unterschieden sind die Parallelen erstaunlich. In beiden Büchern werden Kindheit und Jugend als Schicksale der ökonomischen Verhältnisse reflektiert, das Verhältnis zu den Eltern kritisch befragt. Beide Frauen sind verheiratet, Karin hat ein Kind. Beide Frauen sind Intellektuelle, hadern mit »der Gesellschaft«. Auch Karin fühlt sich gefangen in ihrer Klasse (daher der Titel des Buches). Sie sieht sich unfähig dort alleine auszubrechen – und flüchtet sich in ein Verhältnis mit einem Dichter (zugegeben, ein anderer Verlauf). Mit den Maulhelden-Linken, die auf abstrakten Modellen herumreiten, die nichts mit der Realität zu tun haben, kann sie dann wieder wie Resi nichts anfangen.
Strucks Roman galt damals als indezent, zumal die Protagonistin den gleichen Vornamen wie die Autorin selber hatte. Der Schluss von der Protagonistin auf die Autorin war zu verlockend. Inzwischen sind solche Parallelen nicht nur standardisiert, sondern scheinen nahezu notwendig zum Verständnis des Textes zu sein.
Stellings Buch ist also sehr wohl in einer literarischen Tradition anzusiedeln – von Struck über Jelinek und Streeruwitz. Aber »Schäfchen im Trockenen« ist weniger Selbstsuche und ‑reflexion denn Anklage und in dem Maße wie Resi bestreitet, sich nicht in die Opferrolle zu stellen, umso mehr geschieht dies. Ihr fehlt – bedauere – die Sprache. Die Wut genügt nicht, denn fast alles mündet in einen posierenden Narzissmus-Tsunami von Resis Selbsthass. Das reicht für das Wohlwollen einer Jury, die sich einerseits prächtig unterhalten fühlt (vermutlich die höchste Beleidigung für die Autorin: ihr Buch als »unterhaltsam« zu bezeichnen), andererseits ihren gesinnungsästhetischen Ansprüchen Genüge tun kann.
Indem nichts Bestand hat und sich die Protagonistin auch selber nicht schont, nimmt diese Prosa dem Leser größtenteils sogar noch die Empörung ab. Man lehnt sich irgendwann zurück und nickt dort heftig, wo es einem am wenigsten selber wehtut (herrlich, diese Stelle, in der Resi von der Journalistin interviewt wird und deren Fragen seziert). Die literarische Subjektivität, die 1973 »neu« genannt wurde, ist in die Jahre gekommen. »Schäfchen im Trockenen« könnte auch in der »Brigitte« stehen.
Es ist erstaunlich, dass sich eine Kritikerin wie Iris Radisch darüber noch derart echauffieren kann. Man kann natürlich all die Lobeshymnen auf Stellings Buch als exemplarisch für den virulenten Gesinnungsästhetizismus des Literaturbetriebs auffassen. Und womöglich ist ihr, der ZEIT-Redakteurin, die auf zeitonline erschienenen Kritik von Carolin Ströbele, die als »Würdigung« rubriziert wurde, sauer aufgestossen. Bereits der Titel »Schweigen am Prenzlauer Berg« ist kokett, denn Resi ist alles, nur keine Schweigerin. Und es ist im natürlich interessant wie eine ähnliche »Momentaufnahme der Gegenwart« (Jurybegründung zu Stellings Buch) 2017 zu einem breit angelegten Feuilletonstreit führte. Vielleicht weil es um Simon Strauss’ »Sieben Nächte« ging? Hier vermisste der 30jährige Wohlstandsknabe eine »Initiation«. Stelling weiss, was das bedeutet: »Bea ist jetzt vierzehn und gehört initiiert.« Man staunt.
Aber einmal Hand aufs Herz: War es jemals anders? Waren die Lobeshymnen (seltener die Verrisse) nicht immer mindestens subkutan außerliterarisch begründet? Wer blieb schon beim Text, wenn man auch persönlich werden konnte? Sicher, inzwischen nimmt der Konformitätsdruck zu. Da werden Romane von »umstritten« deklarierten Autoren untersucht, ob sie nicht eventuell abweichende und damit zu verdammende Gedanken oder falsche Wörter enthalten. Die Kritik entlastet sich damit natürlich vom Lesen vielleicht etwas sperriger Lektüre. Wer nicht im Gesinnungsstrom liegen und trotzdem Beachtung will, kann nur noch provozieren. Der Rest ist – vanillefarben (die Anspielung versteht nur der Leser von Stellings Buch).
»Man kann auch Journalist werden, um Macht zu erreichen, Schreiben muss nicht zwangsläufig Ausdrucksmittel gebeugter Figuren und stotternder Redner sein, es kann auch betrieben werden, um Pflöcke einzuschlagen, Meinungspfosten, Deutungspfeiler.« So Resi an einer Stelle. Wie Recht sie hat. All diese Meinungspfosten. Und am Ende wird dann wieder der Bedeutungsverlust des Feuilletons, der Literaturkritik und eben – leider – auch der Literatur beklagt. Dabei wollen doch alle nur das Beste.
Aber es ist trotzdem schön, wenn sich eine dreifache Mutter und Literaturkennerin im Namen der Literatur echauffiert (und nicht diese erbärmliche Gelassenheit an den Tag lägt, die auch längst zum Mainstromstil gehört), oder nicht?
Ja, es ist schön, dieser Furor und Radisch liegt sehr oft richtig damit (nur nicht bei Handke – selbst wenn sie ihn lobte, war es halb vergiftet).
Die »erbärmliche Gelassenheit« wäre ein eigener Text wert. Meine These geht dahin, dass es in der Kritiker-Routine fast nur noch so geht. Sie müssen heutzutage über hunderte von Büchern pro Jahr mindestens suggerieren, so etwas wie einen Überblick zu haben. Sie müssen den Durchblicker spielen. Wie soll da noch Emphase aufkommen?
Gelassenheit, tatsächliche, sehe ich fast nirgends. Ich halte sie für ein hohes Gut, gerade weil sie Widerpart der überall präsenten Erregung ist (und ich denke, dass sie Enerviertheit und Zorn nicht ausschließt, sondern berechtigten kultiviert). Ein Stil ist sie allerdings nicht, vielleicht erklärt das den Dissens.
Die Macher von dem, was die Empörungsfreudigen als »Mainstreammedien« bezeichnen, machen auf gelassen, auf- und abgeklärt, ironisch. Beides und der Kampf dazwischen prägt die derzeitige Gesellschaft.
Nunja, den Begriff »Mainstreammedien« benutze ich auch – ohne dass ich empörungsfreudig bin. Oder mindestens nicht empörungsfreudig um der Empörung willen.
Tatsache ist nun einmal, dass es eine »erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen« gibt, wie der empörte damalige deutsche Außenminister Steinmeier (heute Bundespräsident) bereits 2014 feststellte. In seinem Buch »Mainstream« definierte der Medienwissenschaftler Uwe Krüger 2014 den medialen Mainstream »zunächst einmal, ganz wertfrei« als »Phänomen, dass zu einem Zeitpunkt die Mehrzahl der Leitmedien ein bestimmtes Thema behandelt oder eine bestimmte Meinung vertritt«.
Der Terminus der Gelassenheit in Bezug auf Literaturkritik ist vielleicht nicht ganz treffend. Man könnte vielleicht eher von einer gewissen Routine sprechen, die schnell in Gleichgültigkeit übergeht. Dem gegenüber stehen natürlich die skandalsuchenden (und meist auch ‑findenden) Kritiken. Die haben haben eben auch nur die Intention, den Skandal zu provozieren.
Wenn ich den Begriff von Radisch richtig verstehe, dann ist die Abwertung sowohl auf den Text als auch die Gefälligkeit der Kritiker anwendbar.
Die eigentlich literaturtheoretische Frage hat Gregor mit dem Verweis auf die Sprachqualität entwickelt. Es mag ja sein, dass ein Autor nicht aus seiner Haut kann. Er oder sie ist verdammt, uns über seine/ihre politischen und moralischen Ansichten zu unterrichten. Bis zum Exzess oder bis zur narzisstischen Selbstentleibung. Darin liegt aber keine primäre Beschränkung der ästhetischen Dimension, höchstens eine gewisse Gefahr, nämlich die Vernachlässigung derselben.
Vielleicht ging das auch schon Radisch durch den Kopf. Je mehr die Gesinnung die Motivationsquelle für die Schreibarbeit abgibt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, die Sprache zu »instrumentalisieren«, d.h. in ästhetischer Hinsicht zu vernachlässigen. Ich finde, man soll den Autoren durchaus die Pflicht zur Arbeit an der Sprache auferlegen, bzw. man erkennt an der Vernachlässigung doch sehr schnell die Präferenz.
Das Ästhetische ist politisch; das stimmt schon immer. Es gibt aber keinen Bonus für Banalität, nur weil die politische Haltung so unendlich wichtig ist.
Wenn kein Mehrwert bei den Gestaltungsmitteln sichtbar wird, muss man eigentlich von einer ästhetisch minderwertigen Arbeit sprechen.
Diese Bewertungen kollidieren natürlich: richtige Gesinnung, ästhetisches Banausentum. Aber selten ist diese Koinzidenz ja nicht.
Woran das liegt, wäre zu erörtern.
Einige Tage nach dem Verfassen des Textes ist mir eingefallen, dass es auch Radisch war, die Martin Walser 2005 bei Erscheinen des autobiographischen Romans »Ein springender Brunnen« vorwarf, dass im Roman über die Hauptfigur Johann (im gleichen Alter wie Walser) kein einziges Mal Auschwitz vorkommt. Walser verteidigte sich dahingehend, dass die Figur (bei Kriegsende 18; in der Bodenseeprovinz lebend) eben nichts davon gehört habe. Da wurde also merkwürdigerweise eine gewisse »Haltung« bzw. Beobachtung als notwendig vorausgesetzt.
Ich wollte – auch schon hinsichtlich einer der vorangegangenen Besprechungen – eigentlich auf eine andere Instrumentalisierung von Sprache hinweisen: Kann es sein, dass der Roman mehr gemacht ist, als geworden?
@metepsilonema
Ich glaube, das kann sein, wie vermutlich viele literarische Produkte heute. Das ist auf der Produzentenseite die Crux, der die Abgeklärtheit und fallweise Empörung auf Rezipientenseite entspricht. Wie soll man sich zu einer solchen Diagnose verhalten? Abgeklärt? Empört? Ein Teufelskreis...
@Leopold Federmair
Reine Empörung ist doch jenseits dessen, dass jeder seine wunden Stellen hat, ein Mangel an kultureller Formung. Das bedeutete nicht, dass der Empörte im Unrecht ist, sehr wohl aber, dass er mit seinen Affekten irgendwie hilflos dasteht; er schreit sie heraus. Manche Entwicklungen, die kulturellen, machen mich melancholisch, traurig, ratlos; die politischen treiben mich hoch, enervieren, bisweilen jedenfalls. Gute Frage wie man sich verhalten soll. Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall so, dass man dabei selbst lebendig bleibt, also nicht dort hinein gerät, wo – sozusagen – der Rest schon ist.
Der Affekt der Empörung ist in der Tat eine subtile Form von Hilflosigkeit. Aber es ist eine Hilflosigkeit, die begründet ist in der (empfundenen?) Notwendigkeit, mit einem »reinen« Einwerfen von Argumenten nicht mehr durchzudringen. Empörung ist immer auch eine Form der Eskalation, eine Reaktion auf das Ungehörtbleiben des Sachlichen. Der Empörte verstärkt damit das, was er eigentlich nicht möchte.
Die Empörung ist die kleine Schwester der Provokation. Sie ist die Währung in all dem Dschungel des Geschwafels überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Hätte Radisch ihre Rezension in nüchternem Stil geschrieben, wäre sie verhallt und von den Loben ringsum aufgesogen worden.
Empörung ist eine Reaktion auf etwas, sie entspringt einer Art Betroffenheit, sie ist spontan und nackt (weitgehend unverstellt). Ein empörter Text reflektiert seine Empörung nicht, in dem Sinn, dass sie geformt (und überführt) wird. Empörung als Einsicht nicht mehr durchdringen zu können, ist eine gemachte, beabsichtigte, die man im Einzelfall wohl nicht immer scharf von der tatsächlichen unterscheiden kann. Ich möchte bestreiten, dass Radisch sich empört; der Text ist eine nüchterne Polemik, nicht sachlich im strengen Sinn, aber er ist nicht wütend, nicht affektgeladen, ich spüre das beim Lesen jedenfalls nicht...
»Und am Ende wird dann wieder der Bedeutungsverlust des Feuilletons, der Literaturkritik und eben – leider – auch der Literatur beklagt. Dabei wollen doch alle nur das Beste.«
Tragisch? Komisch?
Zwei der besten Romane der letzen Jahre wurden von Rechten geschrieben: »Land der Wunder« und »Liquide«. Von Klonovskys ganz erstaunlichem Schelmenroman »Land der Wunder« über das Ende der DDR und den Anfang des wiedervereinigten Deutschland ist außer bei Klonovsky selber – im Mai macht er ein Abendprogramm damit im Münchner Gasteig – hehe: nur Lumpen sind bescheiden – - ist außer bei Klonovsky selber nirgends was zu lesen. Seltsam. Solche Bücher sind selten! Und Rainer »Don Alphonso« Meyer (Meyer sieht sich nicht als Rechten wird aber so wahrgenommen – Künstlerpech...) wird sowieso nicht als Literat behandelt. Oooch seltsam. Schreiben kanner.
Meyers Blogs – bei der FAZ, jetzt auf weLT-online sind manchmal dolle Feuilletons, manchmal verrätselte Briefe, manchmal aufklärerische Essays, manchmal Reisebreichte. Klonovskys Essays in seinen Jahresbänden »acta diurna« suchen ihresgleichen.
Jedenfalls lasen und lesen sich beider Bücher und Blogs sehr gut. Meyer gibt eine Innenansicht des erst boomenden und dann crashenden Neuen Marktes in seinem Roman »Liquide«. Witzig, milieusicher, schnell – Leserherz, was willst Du mehr? – – – Offenbar will das Kritikerherz neben Qualität auch Bestätigung seiner Weltsicht.
Enzensbergers letzte Essays – hahah – nix kam. Außer den ziemlich verpeilten Lobeshymnen der offenbar großartigen Reiterin und Pferdekennerin v. Lovenberg erinnere ich kaum Bezugnahmen. Jaja, ich weiß, ein paar Ausnahmen jibbet. Aber verrückt ist das doch, wenn ich bedenke, was da an Stoff bewegt wird. – Freilich: Auch Enzensberger ist ja nun ein Rechter. Es gibt eine diskursive Erschöpfung auf Seiten der Linken – hat auch der – hehe – - – Rechte – - – brillante und oft gutgelaunte Douglas Murray (The Strange Death of Europe) zu spüren bekommen.
Es fehlt bei der Zeit z. B. eine Stimme, die derlei aufgriffe. Fast hat Ulrich Greiner diese Rolle eingenommen, aber dann ging er in Rente. Weidermann kann das beim Spiegel offenbar nicht, Minkmar schon gar nicht und bei der FAZ passiert unter Julia Enke auch nicht viel. Hm.
@metepsilonema
Sicherlich betreibt Radisch keine »Écriture automatique«, wenn sie sich empört aber im Vergleich zum Sozialarbeiterduktus der zeitgenössischen Literaturkritik ist das schon etwas Besonderes. Und das sogar, wo sie falsch liegt.
@Dieter Kief
Naja, die beiden von Ihnen genannten Bücher sind in die Jahre gekommen. Meyer fand ich anfangs ganz amüsant, inzwischen langweilt mich seine Verbissenheit. Letztes Jahr riskierte ich noch hier und da einmal einen (1,99 € teuren) Blick auf seinen Welt-Blog, der vor Narzissmus nur so überquillt. Auf Twitter postet er Fahrrad- oder Oldtimerfotos. Da ist man auch trotz der ein oder anderen Volte nicht versöhnt. Soviel Lebenszeit hab’ ich nun doch nicht mehr.
Der Gegensatz zwischen »linker« und »rechter« Publizistik langweilt mich. Etiketten ist was für Flaschen.
»Der Gegensatz zwischen »linker« und »rechter« Publizistik langweilt mich. Etiketten ist was für Flaschen.«
Naja, Gregor Keuschnig, Sie haben – auch mit Blick auf eigene Urteile – davon gesprochen, dass das links-rechts »Schema« (Michael Rutschky) ihr Urteil durchaus beeinflusst hat. Ich halte diese Einteilung für real und betrachte sie nach wie vor als eine sozialpsychologische und ästhetische Tatsache von erheblichem Einfluß. Der einstmals gefeierte und hochdekorierte Wächter-Preisträger Klonovsky kriegt eindeutig keine angemessene Resonanz mehr, gerade weil er nun ein böser rechter Bube ist.
Don Alphonso lässt nach. Stimmt. Das war aber bei Karl Kraus genauso. – Eine Parallele: Beide sind vom Betrieb weitgehend abgekoppelte Einzelgänger/Kämpfer und tendieren vielleicht auch deshalb zum Monologisieren. – Der Literaturbtrieb ist eben auch eine institutionelle Stütze für die geistig Produzierenden. Er bewahrt sie davor , ganz allein zu sein. Das ist keine der geringen Funktionen eines Verlages mit Chef/Chefin/Lektorat, Büroleuten, na usw: Sie bilden ein soziales Umfeld; wie gesagt: Nicht zu unterschätzen.
»Gegen Ende« von Rutschky – ein hartes Buch. Da geht es viel um diese Dinge: Die soziale Seite der intellektuellen Produktion – aber auch des Lebens des intellektuellen Produzenten.
Ich habe kein Wort über Rutschky verloren; Sie müssen mich da verwechseln. Don Alphonso in einem Atemzug mit Karl Kraus zu nennen ist ungefähr so als würde ich Maggi-Würze in einem Sternerestaurant bestellen.
Das Links-Rechts-Schema ist eine modrig gewordene Holzkrücke. Was einst »links« war, ist plötzlich »rechts« und umgekehrt. Für oberflächliche Zu(recht)weisungen allenfalls noch zu gebrauchen – mehr auch nicht.
Ein Missverständnis Gregor Keuschnig. Ich habe oben nicht behauptet, dass Sie über Rutschky geurteilt hätten.
Aber ich erinnere mich, so ca. dass Sie ihr ursprüngliches Urteil über Enzensbergers Wanderungs-Essay ickjloobe revidiert haben, oder relativiert oder wenigsten abgmildert, und in dem Kontext sprachen Sie auch vom links-rechts “Schema” (Rutschky).
(Ich mache hier das gleiche wie oben: Ich mache das Wort Schema als Rutschky-Referenz kenntlich, indem ich es in Anführungszeichen setze. Vielleicht führte das zu Ihrem Missverständnis, ich hätte hier von Ihnen in Bezug auf Rutschky gesprochen. Das täte mir Leid).
PS
Dinge, die Sie langweilen können bedeutsam sein – nur halt nicht für Sie persönlich, das verstehe ich wieder.
PPS
Die Begeisterung beider für Prostituierte – also Meyers und Kraus’ ist ein einigend’ Band zwischen denen. Ich halte aber Kraus für weniger wichtig als Jonathan Franzen, z. B.
Derzeit hat Meyer/Don Alphonso einen guten Artikel auf weLT online zu den Enteignungsforderungen – Wer Enteignug sagt, sagt Meyer, muss bitte auch Gulag sagen.
PPS
Es gibt Sterne Köche, die Maggi-Würze verwenden. Maggi-Würze ist cum grano salis nix anderes als Soja-Sauce – cf. Ernst Köhlers noch immer antiqaurisch erhältliches ganz gelungenes Wagenbach-Taschenbuch über die Arbeiterstadt Singen/Hohentwiel: »Die Stadt und ihre Würze – ein Bericht aus dem Süden unseres Sozialstaates«. So betitelt, weil Singen d i e Maggi-Stadt ist – bis heute.
Wer Enteignug [sic!] sagt, sagt Meyer, muss bitte auch Gulag sagen.
Das ist, mit Verlaub jener Blödsinn, den man nur dann goutieren kann, wenn man im Erregungskarussell auf der höchsten Stufe durchgedreht wird.
@Gregor
Radisch hat, wie es scheint, noch keinen Keil zwischen sich und ihr Schreiben getrieben, und bringt das, was Sie enerviert in eine Form. So sollte es denn auch sein (allerdings widerspricht es dem Betrieb).
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Ein Einwurf zu den politischen Richtungszuschreibungen, jenseits eines bloßen links-rechts-Schemas: Die werden fruchtbar, wenn man sie inhaltlich (das Historische eingeschlossen) bestimmt, von einander abgrenzt und auf gegenwärtige Entwicklungen bezieht.
# 18
Enteignungen als Lösung des Berliner Mietwohnungsproblems – das wird da ernsthaft und tausendfach – zuletzt auf einer großen Demo – gefordert. Besonders von den Antifanten, von der Linkspartei und den Jusos – aber auch von allerlei Kulturschaffenden an den Berliner Theatern z. B., die sich gleich massenhaft solidarisierten.
Dabei gab es ja öffentlichen Wohnungsbau in großem Umfang in Berlin – aber die Korruption in der – damals – ÖTV und der Berliner Bank und der SPD usw. hat das zunichte gemacht – Stichwort “Teure Heimat«. (Die FR als Gesamtpaket ist vergleichbar – Wolfram Schütte könnte da vielleicht einiges erzählen.)
Rutchkys “Gegen Ende” passt hierher, weil Rutschky da durchblicken lässt, dass das linksliberale Milieu, für das er – gerade in Berlin! – intellektuell zusammen mit Kurt Scheel/Merkur einstand, ab spätestens ‘89 komplett die Bindung zur Berliner Realität der kleinen Leute, also der genuinen SPD-Klientel verloren hatte. Komplett. Und es geht auch in seinem eigenen Hinterkopf andauernd um Status, mediale Anerkennung, Spaltenzahlen, Sendezeit, Sex und Körper (Körper, Körper, Körper, Körper). Bzw. um Haustiere – es geht da zehnmal so oft und ausführlich über Haustiere, alsüber die Arbeitswelt und die Wohnsituation des Durchschnittsberliners.
Bei Don Alphonso kommt der Durchschnittsberliner aber durchaus vor.
Sein Artikel heute in der Welt ist, was die Immobiliensituation und den Mietwohnungsbau in Berlin angeht, von geradezu detailfreudiger Kennerschaft. – Wer schriebe sowas noch? – Wüßte gar niemand.