»Zusammenkunft« lautet der Titel dieses Buches von Walle Sayer. Im Untertitel passend: »Ein Erzählgeflecht«. Es ist Bündelung und Zusammenfassung der Prosaschriften des Autors von 1986 bis 2009, die zum Teil überarbeitet sein sollen. Und am Ende gibt es noch ein bisschen Unveröffentlichtes.
Wenn man Walle Sayer bisher noch nicht kannte, ist man dankbar für dieses Buch. Zeigt sich doch eine Stimme ganz eigener Intensität in den meist notizähnlichen Gedankensplittern. Insbesondere die Notate über Kindheit und Jugend demonstrieren eine Meisterschaft in der Evokation der Stimmung der jeweils heraufbeschworenen Zeit. Etwa als »sie« (die Kinder diesen Alters) gefragt wurden, was sie einmal werden wollten, so als seien wir noch nichts. Bei Fragen zur Zukunft wurden wir auf früher vertröstet. Dies waren Zeiten, als Kinder noch Kinder sein durften (und nicht »Kids« genannt wurden), die Kindheitsschätze in einen Brustbeutel passten, leere »Dolviran«-Röhrchen wie ein Fernrohr gehalten wurden und der Vater in einem scheinbar unbeobachteten Augenblick den Kopf festhielt mit beiden Händen. Irgendwann bekamen dann beim Abendessen die Gespräche zwischen Vater und Sohn einen Verhörton.
Und dann die geradezu herzzerreißend-komischen Erinnerungen an den Tanzkurs: Den Stolpersteinen zwischen den Schrittfolgen auszuweichen, ohne auf die Füße der Partnerin zu treten, das nannte man Walzer. Oder wenn er sich fragt wozu man eigentlich verreisen soll, wenn ich dem Drachen nachsehen kann, den die Kinder steigen lassen. Ein »Stubenhocker«-Notat endet mit einer Beschreibung des Raums: Überm Sessel, im frühen Herrgottswinkel meiner Ahnen, da hängt mir das Luftbild eines Autobahnkreuzes. Zeiten, an denen man keine Beziehungen einging, sondern Liebschaften.
Schließlich weicht das Verharren im Augenblick dem polyperspektivischen Blick: Um Elf Uhr weckt das Kreischen einer Holzsäge die letzten Langschläfer. Aus den Küchenfenstern wehen duftende Fahnen. Krankgeschriebene graben Gartenbeete um. Staubsaugervertreter klingeln vergeblich an Haustüren. Erdrosselte Wolken hängen weiß über den Fensterbrettern der Schlafzimmer. Immer häufiger werden Assoziationssprünge gewagt, Verknüpfungen angedeutet und benannt, die auf den ersten Blick absurd anmuten, bevor man in ihnen dann, beim nochmaligem Lesen oder einfach nur Aufschauen und Nachdenken, eine poetische Kraft entdeckt. So findet keine profane Idyllisierung einer früheren Zeit statt, weil gleichzeitig auch die Reflexionsperspektive der Gegenwart präsenter wird. Etwa wenn es ein bisschen altklug heißt: Im unsrigen Alter hat man sich abzufinden damit, daß alles so ist, wie nichts gewesen war, nichts sein wird. Und fast programmatisch geht es dann weiter: Die Linealstriche unserer Schulzeit, die auswendiggewußten Antworten: laßt uns lieber die Erinnerung fälschen, so wie die Unterschrift der Eltern im Klassenarbeitsheft.
Mehr und mehr erweitert Sayer das Erzählen um das Assoziieren. Da ist vom blühenden Größenwahn des Frühlings die Rede: Wer jetzt morgens aus dem Fenster schaut, fühlt sich schon verführt. Die Pointen werden gewagter. Etwa, wenn die Rentnerrunde sich mit ihren immer himmelslastiger[en] Ansichten trifft. Dann kramen sie in ihren Gedächtnissen, kennen sich nicht mehr aus in den Friedenswirren, der Fortschritt hat für sie das Tempo eines durchgedrehten Pferdegespanns. In der Bahnhofsgaststätte haben die Stuhlbeine schon Wurzeln geschlagen und inmitten der Ankunfts- und Abfahrtszeiten verspottet das Dasitzen der Reisenden im Durchzug die Geschäftigkeit und die halbstündigen Verspätungen.
Ein Höhepunkt des Buches sind die Kürzest-Erzählungen über und mit den Bewohnern eines Altenheimes. Sayer, der hier vermutlich autobiographische Erlebnisse verarbeitet, seziert zwar die Verhaltensweisen der Protagonisten, macht sie dabei jedoch niemals lächerlich. Da singt Frau Bleckmann bei Volksmusiksendungen im Fernsehen so entsetzlich falsch, daß man diese Lieder zu mögen beginnt aber die Frau leidet an Demenz und da erscheinen diese Momente plötzlich leuchtend. Oder Frau von der Pohl, die von den Enkelkindern ihres Sohnes erzählt, von denen sie aber bisher noch nicht einmal die Namen erfahren hat und die glaubt, wenn sie damals in Baden-Baden beim Roulette weitergespielt hätte, wäre alles anders gekommen…in ihrem Leben. Und von Frau Wolker prallen die Amorpfeile ab von ihrer Brust, die gepanzert war mit einem Filmplakat von Johannes Heesters. Sie schaut mit dem Erzähler fern und beide können dieselben Politiker nicht leiden, sie sieht dabei die Erscheinung und er hört das Gesagte dazu. Die Alten zählen ihre Baldriantropfen wie noch verbleibende Jahre. Da ist dann manchmal auch »etwas herzhaft Pathetisches, Verkünderisches« (Peter Handke über Hermann Lenz’ Erzählung »Jung und Alt«) in Sayers Ton, mit dem man in diesem Augenblick vollkommen einverstanden ist.
Für die Annäherung an die Gegenwart entwickelt Sayer zuweilen etwas längere, dennoch dichte erzählerische Passagen, wie die von der Odyssee eines Eherings oder der Klofrau, deren Einnahmen eine Majestätsbeleidung für jeden Bettler darstellen. Oder das Leben der verkrachte[n] Existenz im Dorf, von dem niemand so recht weiß, von was er lebt, ein Einsiedler am Dorfrand, um die fünfzig, lediggeblieben, der vor Jahren einmal Vorarbeiter hätte werden können in der Gießerei und nun statt dessen Brieftauben züchtet, einen Gemüsegarten hat, an hellichten Werktagen Spaziergänge macht, dabei aus Neugier einer Schneckenspur folgt, sich seine Haare selber schneidet und zu keinen Wahlen und in keine Kirche mehr geht.
Eine Melancholie ohne falsche Rührseligkeit, wie dieses ausgeräumte Zimmer und der Staub vom Einzug, der noch in den Ecken liegt und unterm Fenster sitzt, wo das Sofa stand, die Katze verstört auf dem Teppichboden. Ohne Vorhänge ist es kein Hinaussehen mehr, die kahle Glühbirne nur noch lichtlose Helle. Mit den Schattenflecken der abgehängten Bilder schauen die Wände das Zurückgelassene an. Da ist der verstorbene Freund, der plötzlich am Nebentisch in der Kneipe sitzt, wo die Stuhlbeine in den Boden wachsen (noch einmal also dieses Bild). Und irgendwann ist der Autor im Wissenskostüm seiner Bildung vierzig geworden, ein halbrunde[s] Greisenalter und die (Feier-?)Runde gerät ins Reden. Jemand wirft etwas fälschlicherweise Richtiges ein. Ein Anderer beginnt mit einem erfundenen Selbstzitat. Was ich denn studiert habe, will mein Nebenmann, ein Neuling, wissen. Die Gesichter der Kinder am Zeugnistag, höre ich mich sagen.
Bei aller Verknappung eröffnet Sayer einen epischen Kosmos, der es in sich hat. In den schönsten Momenten weicht der leise Weltschmerz, der ab und an kempowskihaft durchschimmert, einem sanften Blick auf die Schönheit der Welt: Ganz alleine über den Zebrastreifen gehen und nur aufs Weiße treten […] Die bunten Schirmchen, mit denen Eisbrecher verziert sind: sie sammeln, ohne zu wissen, wofür. Der dort im Zidanetrikot, der kaum den Ball richtig stoppen kann, ihn aber an die Hauswand hindrischt, gegen das Garagentor donnert. Das Zimmer pink streichen und sich so jemanden, der keine Vorbilder braucht, zum Vorbild nehmen. Dieses Prosa-Vademecum ist ein luftiges, helles, wunderbar unspektakuläres und zutiefst menschenfreundliches Buch.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
„Dieses Prosa-Vademecum ist ein luftiges, helles, wunderbar unspektakuläres und zutiefst menschenfreundliches Buch.“ Ja, und Deine einfühlsame Rezension macht diese Zusammenfassung an jeder Stelle spürbar. Das ist ein Buch nach meinem Geschmack und steht nun auf der „Bitte-mitbringen«-Liste für den nächsten Besuch ganz oben.
»Die Lesung im Hegelhaus in Stuttgart mit Walle Sayer war gut. Richtig gut.
Ich hörte und sah vor meinem inneren Auge die »gestochen schöne Handschrift eines Stotterers« ... sprach dem Autor in Gedanken nach, nur um dem »Klang nachzuhorchen: ein Unze Kohlenstaub«, um endlich zu erahnen, worum es geht bei der Beschaffenheit des Staunens.
Heute, in meiner Mittagspause, lese ich nochmals die Miniatur »Zusammenkunft«, in der Walle Sayer dem Leser u.a. die Fragen stellt: « Woran zerbricht ein Brecheisen? Womit vertreibt die Zeit sich die Zeit?«
Meine gestrige Zeit hatte eine Verabredung mit der Zeit der Autors. Neunzig Minuten lauschen auf die Stimme eines Meisters des Filigranen.
»... Einer, der im Detail das Ganze aufspürt und so in seiner Welt die ganze Welt.« ( Südwestrundfunk, Klappentext)
Es hatte sich sehr gelohnt!
Die kursiv geschriebenen Textstellen sind dem im Klöpfer & Meyer-Verlag erschienenem Erzählgeflecht »Zusammenkunft« (2011) von Walle Sayer entnommen.«
Diesen Eintrag hatte ich März 2011 auf FB gepostet und kopiere ihn hier für Begleitschreiben. Ihre Rezension ist Ihnen gelungen, Gregor, und ich kann nur zustimmen, dieses Buch »ist ein luftiges, helles, wunderbar unspektakuläres und zutiefst menschenfreundliches Buch.« (GK)
vielen dank für die emphatische kritik.
sie macht lust aufs lesen.
ich kannte den autor bisher nicht und glaube nun, etwas verpasst zu haben, was mich angeht. ich werde mir den band besorgen.
alles gute, uwe.