Selten passte ein Titel so präzise zum Duktus des Buches: »Sanftes Monster Brüssel« steht dort in großen, roten Buchstaben. Der Zusatz »oder Die Entmündigung Europas« ist dann schon der Beginn eines Missverständnisses. Muss es nicht heißen »Die Entmündigung der Europäer«? Wie wird »Europa« entmündigt? Was ist das überhaupt – »Europa«?
Sanft und mit feiner Ironie kommt Hans Magnus Enzensberger daher. Wie sollte er auch anders? Ein deutscher Intellektueller, der eine scharfe Schrift gegen »Europa« bzw. die Europäische Union hinlegt – undenkbar. Sofort würden die gängigen Etiketten hervorgeholt. »Europaskeptisch« bedeutet in Deutschland noch mehr als in anderen Ländern rechts, dumpf und antimodernistisch. Wer möchte das schon sein? Das Problem sieht Enzensberger sehr wohl, denn hinter dieser Rhetorik macht er eine Strategie aus, die…gegen jede Kritik immunisieren soll. Wer ihren Plänen widerspricht, wird als Antieuropäer denunziert. Dies erinnere von ferne an die Rhetorik des Senators Joseph McCarthy und des Politbüros der KPdSU. Wenngleich er an anderer Stelle den Vergleich der EU mit totalitären Regimen als abwegig feststellt und somit nivelliert.
Bürokratie und Akronyme
Zunächst preist Enzensberger die lange Friedenszeit und Reisefreiheit, die einem die europäische Vereinigung gebracht habe. Dann widmet er sich der Regulierungsmechanismen, derer sich die EU bedient. Die Beispiele, er anführt, sind die leidlich bekannten. Von der Gurkenrichtlinie über die Vereinheitlichung von Traktorsitzen bis zum Euro-Stabilitäts- und Wirtschaftspakt, der ausgehöhlt wurde und inzwischen die Euro-EU zur Transferunion deformierte. Und bei der Schilderung der »Harmonisierung« des EU-Zahlungsverkehrs sitzt Enzensberger spürbar der Schalk im Nacken, etwa wenn er von den zukünftigen 31stelligen Kontonummern der Malteser schwärmt: 414.000 Einwohnern stünden dann 3.100.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Kontonummern zur Verfügung. Das alles kann man in 1.400.000 Dokumenten der Rechtsvorschriftensammlung »EUR-Lex« nachschlagen.
Zwischenzeitlich unterlaufen dem Autor einige erstaunliche Schnitzer. Beispielsweise in Bezug auf die Politik- und Lebensbereiche, die schon alle von der EU dominiert werden sollen. Hier wird die Energiepolitik mit aufgeführt, was unpräzise ist, denn es gibt ja beispielsweise – wie neulich schmerzhaft festgestellt wurde – keine einheitlichen Kriterien zum Betrieb von Atomkraftwerken. Auch wenn Enzensberger herausstellt, dass sich Großbritannien, Norwegen und die Schweiz einer Währungsunion aus ökonomisch-politischen Gründen nicht angeschlossen hätten, ist dies eine Merkwürdigkeit, da Norwegen und die Schweiz als Nicht-Mitglieder der EU gar keine Möglichkeiten einer Teilnahme hätten (die letzten Ablehnungen, der EU beizutreten resultieren aus den Jahren 1994 bzw. 1992). Und auch den Weg hin zur EU, wie üblich mit Abkürzungen gepflastert, ist ungenau skizziert. Nach Enzensberger führte er von der EWG, der EAEC und der EFTA über den EWR und die EWU zur heutigen EU. Er übersieht dabei, dass die Europäische Wirtschaftsunion (EWU; bzw.: Europäische Wirtschafts- und Währungsunion EWWU) keine Zwischenstufe zur EU ist, sondern parallel in ihr existiert (ähnliches gilt von der EAEC, der Europäischen Atomenergiebehörde, die 1957 gleichzeitig mit der EWG mit den gleichen Mitgliedern gegründet wurde).
Mit Wonne stürzt sich Enzensberger auf die Verflechtungen und den einzelnen Institutionen, Organisationen und Organe der EU, die schon in den Bezeichnungen Verwirrung stiften. Etwa wenn von »Europäischen Rat« und dem »Rat der Europäischen Union« die Rede ist – wohl gemerkt: es sind zwei verschiedene Organisationen. Oder vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Gericht der Europäischen Union (EuG). Schließlich gibt es noch den EGMR oder EuGHMR, der allerdings nichts mit der EU zu tun hat. Die Akronyme haben es ihm besonders angetan: FAC, ECOFIN, JHA, COMP, ENVI, EXC, TTE und CAP. Grosses Vergnügen bereitet die Aufdeckung der jeweiligen Anzahl der Generaldirektionen, Generaldirektoren und Direktoren nebst Stimmrechten oder eben nicht. Und so arbeiten 3645 Mitarbeiter des Europäischen Auswärtigen Dienstes an der Errichtung ihres eigenen Gehäuses.
Die Methode Monnet
Reichlich verblüfft scheint er, wenn Robert Menasse in seinem Essay vom Mai 2010 der EU-Bürokratie durchaus Effizienz und Kompetenz attestiert, wenngleich auch er die Beamten in der zweiten Reihe als fachkompetenten Köpfe herausstellt und über den zumeist nur aus Proporzgründen ernannten Kommissare (ein wenig arg künstlich die Aufregung um den »Kommissar«-Begriff, der dann im weiteren Text aus dem französischen kommenden erklärt wird) und Direktoren stellt.
Die feuilletonistische Sanftmut Enzensbergers schreitet in den historischen Exkursen fort. Insbesondere die über den Haager Kongress 1948 und den französischen Politiker Jean Monnet sind leicht eingängig. Die »Methode Monnet« praktiziert die EU bis heute: im Konsens getroffene Eliteentscheidungen. Dem Wahlvolk werden diese Entscheidungen mitgeteilt, wobei die stetig sinkende Beteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament die Verantwortlichen in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg nicht besonders zu tangieren scheint. Ungerührt sehen sie dem Schwinden ihrer Legitimationsgrundlage zu. Die Vermutung ist nicht weit hergeholt, daß Ihnen das sogar ins Konzept passt; denn für jede machtbewußte Exekutive ist die Passivität der Bürger ein paradiesischer Zustand. Auch die beteiligten nationalen Regierungen haben daran wenig auszusetzen. Zu Hause behaupten sie achselzuckend, gegen die Brüsseler Beschlüsse hätten sie sich leider nicht durchsetzen können. Umgekehrt kann sich die Kommission darauf berufen, daß sie nur den Absichten der Mitgliedsstaaten folgt. Letzteres konzediert Enzensberger selber: Nicht unwesentlich trügen die einzelnen Mitgliedsstaaten und deren nationalen Interessen zur Bürokratisierung bei. Und schließlich gäbe es noch die Lobbyisten, die wie eine Art unabwendbare Naturkatastrophe betrachtet werden.
Störungen in Form von Rückfragen, Einwänden, Verbesserungen sind vom Apparat per se unerwünscht, was zum das leidlich bekannten »Demokratiedefizit« der EU führt, das er süffisant als chronische und offenbar schwer zu behandelnde Mangelkrankheit kommentiert, die allerdings durchaus beabsichtigt und sozusagen »europa«-immanent sei. Für die Herrschaftsform der Europäischen Union gäbe es kein Vorbild. Ihre Originalität besteht darin, daß sie gewaltlos vorgeht. Sie bewegt sich auf leisen Sohlen. Sie gibt sich erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser Bestes. Wie in gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, daß wir selber wissen, was gut für uns ist; dazu sind wir ihnen in ihren Augen viel zu hilflos und zu unmündig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden. Mangelnde Gewaltenteilung und Demokratiedefizit sind also gewollt; ein vornehmer Ausdruck für die politische Entmündigung der Bürger.
Die Tyrannei des »gütigen Vormunds«
Die beiden Totschlagargumente gegen Kritik lauten »Nationalismus« und »Populismus«. Dessen macht sich schuldig, der die Sorgen und Nöte dieses Wahlvolkes wie auch immer artikuliert. Dass in vielen EU-Ländern die Zustimmung zu Protestparteien gegen den Politikstil der »TINA«-Argumentation (»There Is No Alternative«) in fast exponentialer Rasanz zunimmt und der Bürger nur noch auf diesem Weg seinen Widerspruch zu artikulieren vermag, thematisiert Enzensberger nicht weiter. Macht er sich gar die Konklusio Menasses zu Eigen? Dieser schrieb: »Ja, die Demokratie: klingt gut, sie organisiert Legitimation – aber wofür? Internationale Konzerne üben Druck auf nationale Regierungen aus, um ihre globalen Interessen durchzusetzen, und die Regierungen machen diese Interessen zu nationalen Anliegen, mit denen sie die supranationale politische Entwicklung torpedieren. Das ist der Punkt, an dem man vielleicht bereit sein müsste zuzugeben, dass es heute ein Fortschritt, ein Befreiungsschritt ist, wenn über die Rahmenbedingungen unseres Lebens eben nicht mehr wesentlich durch Volkswahlen abgestimmt wird.« Wer hier glaubt, es handele sich um ein provokantes Gedankenspiel wird bei der weiteren Lektüre widerlegt. Menasse scheint das tatsächlich Ernst zu meinen, wenn er schreibt, »dass die klassische Demokratie, ein Modell, das im 19. Jahrhunderts zur vernünftigen Organisation von Nationalstaaten entwickelt wurde, nicht einfach auf eine supranationale Union umgelegt werden kann, ja sie behindert. Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus. Wenn dieser gegen die von Massenmedien organisierten Hetzmassen nicht mehr mehrheitsfähig ist, wird Demokratie gemeingefährlich.«
So einfach ist das also. Statt der »Fixierung des Menschen in der Erniedrigung durch Trivialkommunikation« (Peter Sloterdijk) durch entsprechende Maßnahmen entgegen zu treten, statt für eine Europäische Union und deren Institutionen und Errungenschaften zu argumentieren, wird der unter Duldung seiner politischen Klasse(n) »aufgehetzte« Bürger für unmündig erklärt. Es sind diese Momente, in denen einem die EU-Befürworter noch mehr Angst machen als die grausigen EU-Gegner.
Was ist eigentlich eine Europäische Union wert, die ihre Autorität fast ausschließlich durch Drohungen, Denunziationen und Diskussionsverbote aufrecht erhalten kann? Besonders herausragend zeigt sich hier der luxemburgische Premierminister Jean Claude Junker, der Diskussionen als »ungesund« und »uneuropäisch« betrachtet (zu Recht weist Enzensberger darauf hin, dass ein Politiker, der politische Äußerungen beispielsweise als »undeutsch« bezeichnen würde, sofort diskreditiert wäre) und allen Ernstes die Gefahr eines Krieges heraufbeschwört, sollte der Euro auseinanderfallen (»Ein Tag Krieg in Europa ist teurer als uns die ganze Euro-Rettungsaktion jemals kosten wird«). Hierzu gibt es eine kleine Bemerkung bei Enzensberger zu Überdehnungen von Weltreichen und ein Zitat von Hannah Arendt, die eine »entpersönlichte Übermacht« von in »anonymen Büros« agierenden Bürokratien als »bedrohlicher…als die empörendste Willkür von Tyranneien in der Vergangenheit« ausmachte (sie sagte dies 1975 in einer Rede zu einem Preis, der Enzensberger 2010 verliehen wurde).
Menasse glaubt, die EU sei als » ‘Friedensprojekt’ « für ihren Paternalismus ausreichend legitimiert. Aber dieser Frieden kommt als gemaßregelte Friedhofsruhe daher. Wie verräterisch der Gedanke es entfalte sich vielleicht irgendwann durch die langsame, aber stetige Aushöhlung des Nationalstaates eine Art von neuer Demokratie, die »als Checks and Balances–System zwischen einem echten europäischen Parlament der Regionen und dem aufgeklärten, josephinistischen Beamtenapparat der Kommission« agiert. Es ist eine Schwäche, dass Enzensberger diese These gänzlich unkommentiert lässt, zumal er sich ja mit Menasses Text beschäftigt. So plätschert dieses Büchlein, das man nur irrtümlich einen Essay nennen kann (denn versucht wird hier nichts), dahin und sein Autor schwankt zwischen veritablem Respekt und leiser Entrüstung. Zum Beleg seiner Aufmüpfigkeit gegen Regulierungen aller Art wird die alte Rechtschreibung verwendet (auch Zitate werden entsprechend transformiert). Und am Ende gibt es ein fiktives (Selbst-)Gespräch mit Monsieur *** aus der Kommission und dem Verfasser in der Fattoria del Chianti in der Rue Archimede in Brüssel. Der Leser erfährt, dass der Ossobuco dort vortrefflich sei. Es gibt Leute, denen das etwas zu wenig ist.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Hab’ das Büchlein eben gelesen, und ich stimme zu: es ist zu wenig, viel zu wenig. Hatte mehr erwartet, weniger Sanftmut, mehr Biss.
Letztlich, so scheint’s, hofft Enzensberger auf die »Überdehnung« des Gebildes, Rom grüßt.
Im Übrigen fehlt ein genauerer Blick auf die Lobbyisten.
Kritik an Europa ist ok, zu kritisieren gibt es sicher genug. Ich habe als ehemaliger DDR-Bürger aber noch gut den Zustand von vor 22 Jahren im Gedächtnis, da ist der heutige Zustand allemal besser. »Friedensprojekt« trifft es ganz gut – wobei ich mir dafür weniger militärisches Engagement der Mitgliedsländer durchaus noch vorstellen könnte.
Es gibt kein richtiges Vorbild für diesen Superstaat, insofern ist auch nicht klar, in welche Richtung man die Organisationsstrukturen entwickeln sollte. Man kann auch darüber nachdenken, wie die Organisationsstrukturen unterhalb der europäischen Ebene aussehen sollten. Aus dem Bauch heraus würde ich vermuten, dass man zwei niedrigere Ebenen braucht: Eine, die sich annähernd an den Sprachgrenzen orientiert, die wäre dann ungefähr mit den heutigen Nationalstaaten identisch. Darunter eine, in der Lokalpolitik gemacht wird, also so etwas wie die deutschen Landkreise. Eine Erhaltung der der deutschen Bundesländer erscheint mir in diesem Modell weitgehend überflüssig.
@Köppnick
Das Problem ist, dass sich die Nationalstaaten nicht trauen, einen Bundesstaat EU zu implementieren. Sie belassen es bei einem Staatenbund, der aber schon deutlich mehr ist als nur eine lose Vereinigung. In den letzten rd. 12 Jahren sind zwei große Fehler begangen worden: 1. Man hat die EU zu schnell erweitert, ohne die Innenstrukturen vorher neu zu definieren. Und 2. hat man die Bürger nicht »mitgenommen«. Beide Punkte potenzieren geradezu die Abneigung in weiten Teilen der Bevölkerung, die noch zunehmen wird.
Der deutsche Föderalismus war einst von den Alliierten gewollt, die kein zentralistisches Deutschland wollten. Außerdem entsprach es den historischen Fakten (Stichwort: »Flickenteppich«). Ich bin inzwischen auch der Meinung, dass die Bundesländer ihre Funktion in einer EU, die weitgehend schon die Gesetze bestimmt, verloren haben. Ministerpräsidenten sind nur noch überflüssige Duodezfürsten. Damit sie überhaupt noch eine Funktion haben, hat man ihnen beispielsweise die Schulpolitik überlassen, was ein Riesenfehler ist. Ansonsten sind sie nur noch Durchlauferhitzer von Geldströmen zwischen Bund und Kommunen, wobei sie einen größeren Teil für ihre eigene Administration verbrauchen.
Die Überdehnung wird sicherlich eintreten. Meines Erachtens hält die EU in dieser (politischen) Form nur noch maximal zehn Jahre. Auch die EWWU, der ich eigentlich eine längere »Laufzeit« konzediert hätte, dürfte bald an ihre Grenzen stoßen. Man kann nicht eine Gemeinschaftswährung einführen und niemand hält sich an die entsprechenden Kriterien. Die Frage ist nur noch, wieviel Geld bis dahin vernichtet ist, denn ohne eine Währunsgreform größeren Ausmasses dürfte das nicht zu lösen sein.
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Dass mit den Lobbyisten habe ich nicht vermisst, da ich das für ein Problem der Politik generell halte. Mir hat noch niemand einleuchtend erklären können, warum Lobbyisten eine solche Macht haben sollen. Sie bekommen die Macht erst durch den Machterhaltungstrieb der Politik(er). Beispielsweise habe ich bis jetzt nicht verstanden, warum ein Bundesgesundheitsminister der Kraft der Pharmalobby nicht widerstehen kann. Was können diese Leute Schreckliches anrichten, außer Parteispenden nicht mehr fließen zu lassen?
Der Begriff des Lobbyismus impliziert viel zu schicksalsgläubig ein Ausgeliefertsein der Politik. Ich sehe das nicht. Lobbyismus ist legitim. Wenn die Politik einem bestimmten Lobbyismus nachgibt, ist nicht der Lobbyismus schuld, sondern die Politik und ihre Kontrollmechanismen haben versagt (also letztlich die Personen, die diese Politik betreiben).
Wenn eine wissenschaftliche Arbeit begutachtet wird, dann sucht man im Regelfall Leute, die sich in dem entsprechenden Fachgebiet auskennen, einfach sie geeigneter sind, die Arbeit zu verstehen. Auf den Lobbyismus gemünzt: Ein Politiker ist ein Gutachter, der aber von vielen Fachgebieten keine (wenig) Ahnung hat, muss aber entscheiden ob er Studien, Informationen, Positionen, Argumenten, etc. vertrauen kann. Das ist ein Problem das tatsächlich existiert: Wie kann ich mir sicher sein, dass Einwände oder Vorschläge gerechtfertigt sind? Dort liegt m.E. ein tatsächliches Problem (in allem anderen würde ich Dir zustimmen).
@Metepsilonema
Minister (oder auch Kommissare) haben in der Regel das Fachpersonal in ihren Behörden sitzen. Da braucht es eigentlich nicht mehr der »Begutachtung« von außen, zumal wenn deutlich wird, in welche Richtung dieses Urteil zielt.
Meines Erachtens ist der Lobbyismus in den Medien mindestens genau so schlimm. Kein »Experte«, der zu einem Thema befragt wird, wird hinsichtlich seiner Beweggründe durchleuchtet. Stattdessen wird suggeriert, dass da jemand »neutral« Auskunft gebe. In den meisten Fällen ist das aber nicht der Fall; im Gegenteil. Diese Form des versteckten Lobbyismus ist viel schlimmer als wenn ein Unternehmenssprecher sein Statement absondert – welches sofort als das eingeschätzt werden kann, was es ist.
Mein Verdacht ist, dass der Lobbyismus als Ausrede speziell in der politischen Klasse gilt, dass man schlampig gearbeitet hat. Noch einmal: In einem funktionierenden politischen Gemeinwesen ist nicht der Lobbyismus an sich das Problem, sondern die Politik, die sich – vermeintlich getrieben – dessen bedient. Hierfür gibt es m. E. keine Entschuldigung.
Was kann man erwarten, wenn man die EU an ihrem Motto (in Vielfalt geeint) misst? Nimmt man es ernst, dann bleibt ein Widerspruch zwischen der Einheit und Vielfalt bestehen, der als ein Wert für sich aufzufassen und nicht aufzulösen wäre; vermutlich ein Staatengebilde in dem Freiheit eine große Rolle spielt, weniger Effizienz, Zentralität oder Reaktionsgeschwindigkeit.
Ich wußte gar nicht, dass es ein »Motto« bzw. Motti der EU gibt. Das passt aber irgendwie. Sprüche statt Aussprache.
die efta war ja auch eher als konkurrenzmodell der eg gedacht, ein äußerer, loser verbund mit gb an der spitze; an der währungsunion können sehr wohl staaten teilnehmen, die nicht direkt mitglied der eu sind, sieh vatikanstaat etc. insges. scheint es, als ob hme altbekannte kritik neu präsentiert, das wäre wirklich wenig überzeugend – auch wenn ichs noch nicht gelesen habe...
Ich weiß es auch erst seit heute, ich kannte nur den Satz (und dachte er stünde in der Präambel zur Verfassung).
Ich dachte auch eher an gewöhnliche Parlamentarier (ähnlich vielleicht Gutachten und Gegengutachten vor Gericht – ich kann mir schon vorstellen, dass es manchmal sehr schwierig ist sich richtig zu entscheiden). Ich meine nur, dass es auch solche Fälle gibt/geben kann – das heißt nicht, dass ich Deinen letzten Absatz für falsch halte.
Ja, gerade weil Experten in unseren komplexen, demokratischen Gesellschaften eine große Rolle spielen müssen (der Einzelne überblickt nur mehr wenige Details).
Ich habe in einer unseren früheren Diskussionen darüber ein Zeitdossier verlinkt, das einen Fall sehr gründlich recherchiert hatte – das könnte man sich z.B. exemplarisch ansehen (leider bin ich auf die Schnelle nicht fündig geworden).
Sie haben Recht, dass Vatikan, Monaco, Mayotte, Saint-Pierre und Miquelon und San Marino den Euro verwenden dürfen. Mit diesen Ländern bzw. Gebieten bestehen Abkommen mit der EU. Sie sind jedoch nicht Mitglied der EWWU, d. h. sie haben keinerlei Mitbestimmungsrecht und brauchen auch die Konvergenzkriterien nicht zu erfüllen. Eine ähnliche Konstellation ist für grössere Nicht-EU-Länder wie Norwegen und Schweiz unvorstellbar, da sie praktisch auf ihre Währungssouveränität verzichten würden. Wenn Enzensberger nun suggeriert, Norwegen und die Schweiz wüssten schon, warum sie nicht den Euro einführen würden, ist dies – mit Verlaub – Unsinn. Eine entsprechende Initiative gab es weder von seiten der Regierungen noch der EU. Eher im Gegenteil: die EZB möchte nicht, dass der Euro offiziell in anderen, ökonomisch relevanten Ländern als Zahlungsmittel eingeführt wird. Die Gründe dürften klar sein.
(Anders sieht es mit Ländern wie Montenagro und dem Kosovo aus, die den Euro ohne Abkommen mit der EU als offizielles Zahlungsmittel verwenden.)
... krankt häufig daran, dass die Kritiker vom Objekt ihres Grolls zu wenig wissen. Ob jemand den Europarat (der mit der EU nichts zu tun hat) von den EU-Institutionen Europäischer Rat und Rat der Europäischen Union unterscheiden kann, ist wohl eher nebensächlich und allenfalls für das korrekte Beantworten der 64000-Euro-Frage bei Jauch oder Assinger von Relevanz.
An der EU gibt es viel auszusetzen, aber die zumeist erwähnten Kritikpunkte erinnern ein bisschen an den Vorwurf, den man der katholischen Kirche des Jahres 2011 wegen der Hexenverbrennungen macht.
Enzensberger hat Recht, wenn er der nationalen Politik vorwirft, dass sie viel zu oft Brüssel als Sündenbock vorschiebt. Denn alle Kompetenzen, die die EU heute hat, beruhen auf ausdrücklichen Ermächtigungen durch die Mitgliedsstaaten. Und auch wenn der EuGH im Zweifel zu einer eher extensiven Interpretation der EU-Zuständigkeiten neigt, so könnten doch die Mitgliedsstaaten durch Vertragsänderung bzw sog authentische Auslegung klarstellen, welche Kompetenzen die EU haben soll bzw diese Kompetenzen sogar reduzieren.
Was die sekundäre Rechtsetzung (also die Verordnungen und Richtlinien) betrifft, so ist nicht die vielgescholtene Kommission, sondern der Rat (= Minister der nationalen Regierungen) und das Parlament (= von den Bürgern zu wählende Abgeordnete) der Gesetzgeber. Das heißt, an den vermeintlichen und wirklichen Missständen, die uns die EU eingebrockt hat, ist nicht ein anonymer Krake in Brüssel schuld, sondern Politiker, die von den Bürgern der Mitgliedsstaaten direkt oder mittelbar gewählt wurden. Wer also gegen die EU wettert und dann bei der EP-Wahl zu Hause bleibt und bei den nationalen Wahlen nicht oder »falsch« wählt, handelt in gewisser Weise inkonsequent.
Woran die EU wirklich krankt, ist mE die Verstrickung ihrer Institutionen mit der nationalen Politik. Irland sei Undank wird es auch in Hinkunft noch so viele Kommissare geben wie Mitgliedsstaaten, und das obwohl die Aufgabe der Kommission die Förderung und Wahrung der Interessen der EU (und nicht der Mitgliedsstaaten) ist. Und das Parlament wagt von seiner durch den Lissabon-Vertrag gewonnenen Macht noch nicht recht Gebrauch zu machen, zweifellos aus Rücksicht auf die Parteifreunde in den Mitgliedsstaaten und allfällige eigene Karrieren im Heimatland.
Und wer die Wahlerfolge EU-kritischer Parteien als Beleg für einen sich ausweitenden EU-Skeptizismus wertet, der sollte bedenken, dass die betreffenden Gruppierungen ja auch andere Positionen vertreten, mit denen sie als Opponenten der classe politique erscheinen. Der Bürger will letztlich der nationalen Führungsriege, die er von sich und von der er sich entfremdet fühlt, einen Schuss vor den Bug verpassen. EU-Kritik ist dabei nur eine Komponente unter anderen.
Ihr Einwand, dass die EU-Protestgruppen und ‑parteien in anderen Ländern auch andere Positionen vertreten, ist zweifellos für einige Gruppierungen richtig. Aber es ist doch interessant, dass sie insbesondere wenn sie die EU-kritische (oder ‑feindliche) Karte spielen, eher reüssieren, als würden sie sich auf rechts- oder linksextremistische Thesen konzentrieren.
Das EU-Parlament suggeriert eine Bürgerpartizipation nur. In Wirklichkeit hat es kein Initiativrecht für Gesetze. Das EP hat nur beratende Funktion; in bestimmten Politikfeldern überhaupt kein Mitspracherecht (das nennt sich wohl: Rechtssetzungsbefugnisse). Ich möchte nicht behaupten, dass das EP ein zahnloser Tiger ist, aber die Schneidezähne sind gekappt.
Die Diskussionen um die Versorgung des Herzinfarktpatienten Euro spülen immer mehr Hintergrundinformationen über die Gründung und Ausstattung der Maastrichter Verträge in die Öffentlichkeit. Demnach wird immer deutlicher, dass der Euro ein geopolitisches Projekt war, kein finanzpolitisches. Und die Aktionen der heutigen Politiker zeigen, dass man von diesem Standpunkt immer noch nicht abgerückt ist.
Die EU krankt daran, dass man sich nicht eindeutig als mittel- oder langfristiges Ziel einen Bundesstaat vorgenommen hat. Dies aus Rücksicht extrem europaskeptischer Nationen wie Großbritannien oder auch – was die nationale Souveränität angeht – Frankreich. Also hat man einen Moloch ins Leben gerufen, der es allen recht machen will und demzufolge ein Zwitterwesen von Bundesstaat und Staatenbund (mit Tendenz zum Staatenbund) darstellt. Diese bürokratisierte Form bietet weder Identifikationspotential, noch schafft sie dauerhaft die Lösung der systemimmanent erzeugten Probleme. Stattdessen gibt es Durchhalteparolen, Halbwahrheiten und die Entwicklung haltloser Schreckensszenarien.
Dass das EP nur beratende Funktion habe, ist nicht richtig. Seit dem Lissabon-Vertrag ist das Mitentscheidungsverfahren, in dem sich der Rat nicht über das EP hinwegsetzen kann, das ordentliche Gesetzgebungsverfahren in der sekundären Rechtsetzung. Und das EP könnte außerdem per Misstrauensvotum die Kommission zu Fall bringen. Warum die Abgeordneten von ihren Kompetenzen so wenig Gebrauch machen, habe ich ja bereits angedeutet.
Weiters glaube ich, dass hinsichtlich der betreffenden politischen Gruppierungen für den (Protest-)Wähler das Gesamtpaket zählt, sprich (um es markant zu formulieren): Der Nexus aus EU- + Fremdenfeindlichkeit macht da das Kraut fett. Oder um es noch mehr zuzuspitzen: Kontrollen an dänischen Grenzen richten sich in erster Linie wohl nicht gegen den deutschen Nachbarn.
Womit Sie allerdings vollkommen Recht haben: Die EU in ihrer jetzigen Wasch-mir-den-Pelz-aber-mach-mich-nicht-nass-Form hat etwas Halbgares an sich. Symptomatisch dafür ist der Bennenungsnotstand: Für einen Staatenbund ist die EU zu verwoben, für einen Bundesstaat zu wenig verstrickt. Man könnte mit dem Bundesverfassungsgericht von einem Staatenverbund sprechen, wobei dieser Neologismus auch alles offen lässt. Das Problem ist: Es gibt wirklich keine Alternative zu einer – sagen wir mal – Verklammerung der europäischen Staaten; allerdings gibt es sehr wohl eine Alternative zur derzeitigen Form.
Das Halbgare der EU zeigt sich eben in einer Institution wie dem Europäischen Parlament. Dort wird dann zwar über Roaming-Bedingungen bei handy-Verträgen entschieden, aber nicht über eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik. Die Sitzfläche uaf landwirtschaftlichen Geräten wurde geregelt – bei Atomkraftwerken gibt es keine einheitlichen Standards. Zum EWWU hat das EP nichts zu sagen.
Natürlich ist das von den jeweiligen nationalen Regierungen so gewollt. Und in Deutschland gab es immerhin sieben Jahre Rot-Grün. Eine Initiative, Standards für AKWs EU-weit wenigstens anzudenken, ist mir da nicht untergekommen. – Das alles immunisiert jedoch nicht, das kritisieren zu dürfen und zu müssen.
Dass das EU-Parlament seine Kompetenzen scheinbar nicht ausschöpft, hat natürlich damit zu tun, dass die Abgeordneten dort wenig bis kein Interesse haben, ihre restlichen Jahre in übergrossem Ärger zu verbringen. Zumal die Strukturen, mit denen sie sich anzulegen haben, nicht ganz übersichtlich sind. Sie haben vermutlich ihre Machtlosigkeit der Vergangenheit zu stark verinnerlicht.
Mein Fazit: Die von Ihnen ebenfalls egsehenen Alternativen zum Jetzt-Zustand sind nicht gewollt. Das sollte man klar benennen und nicht am Sonntag anders reden als werktags. Hieraus entsteht der Überdruss, der sich entlädt. Wenn man so weiter macht, wird die EU implodieren.
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