Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑6/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Pe­ter Hand­ke ge­hört zu den Au­toren, von de­nen ich je­de Neu­erschei­nung frü­her oder spä­ter le­se; manch­mal spä­ter, wenn die Er­schei­nung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kri­ti­ker kann ich mir das er­lau­ben. Den Ak­tua­li­täts­streß, die Hy­ste­rie des Pu­bli­zie­rens, den mar­tia­li­schen Kon­kur­renz­kampf um Auf­merk­sam­keit, all das ha­be ich in mei­nem Sayon­a­ra-Es­say be­schrie­ben. Ich le­se im­mer wie­der mal die »User­kom­men­ta­re« in den Fo­ren von Ta­ges­zei­tun­gen und stel­le dann fest, wie sehr ein Teil des Pu­bli­kums die­se Hy­ste­rie ver­in­ner­licht hat: Jour­na­li­sten sind beim klei­nen Mann un­ten durch, wenn sie ein, zwei Stun­den spä­ter als an­de­re Jour­na­li­sten in an­de­ren Me­di­en an ei­nem »Er­eig­nis« dran sind. Als gin­ge es ih­nen nicht um den In­halt ei­ner Nach­richt, son­dern dar­um, er­ster zu sein, der das Ding – meist feh­ler­haft in der On­line-Aus­ga­be – in die Ta­sta­tur klap­pert. Und dar­um geht es dem User auch, die Nach­richt selbst er kaum, nur den Reiz der Groß­buch­sta­ben nimmt er auf. Das In­ter­net, die di­gi­ta­le Ver­füg­bar­keit, po­ten­ziert sol­ches Ver­hal­ten, da je­der je­der­zeit ALLES »ver­glei­chen« kann.

Ge­nau das sind die neur­al­gi­schen Punk­te, an de­nen un­ser­eins Ab­stand und Lang­sam­keit ein­for­dern müß­te (Stif­ter- oder Hand­ke-Lek­tü­re kann Be­reit­wil­li­ge ein we­nig da­für schu­len). Ich konn­te mich nach der spät ge­wor­de­nen Lek­tü­re der Obst­die­bin nicht dar­an hin­dern, doch wie­der mal ei­ne Art Kri­tik zu schrei­ben, als Nicht­kri­ti­ker so­zu­sa­gen. Ge­nau ge­nom­men ist es je­doch ein iro­nisch-dia­lek­ti­scher Es­say ge­wor­den, den man in der Li­te­ra­tur­zeit­schrift ma­nu­skrip­te (Heft 224) nach­le­sen kann – ei­ne In­halts­an­ga­be will ich hier nicht lie­fern. Als Ti­tel hat­te ich mir »Im Wech­sel­bad der Ge­füh­le« ein­fal­len las­sen, und ha­be da­mit zwei Be­deu­tungs­ebe­nen ein­ge­zo­gen: die er­ste be­trifft den Text und sei­ne Mach­art, die zwei­te mei­ne Ge­füh­le bei der Lek­tü­re. Zwei Flie­gen auf ei­nen Schlag so­zu­sa­gen.

Der Sittich der spanischen Übersetzerin dieeses Buchs hat hier seine Spuren hinterlassen © Leopold Federmair

Der Sit­tich der spa­ni­schen Über­set­ze­rin die­ses Bu­ches hat hier sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen © Leo­pold Fe­der­mair

Es kommt beim Le­sen nicht sel­ten vor, daß die Ge­füh­le un­si­cher und wech­sel­haft sind; gu­te, ris­kan­te, her­aus­for­dern­de oder neu­ar­ti­ge Li­te­ra­tur ruft sie eher her­vor als ge­fäl­li­ge, die be­strebt ist, den Le­ser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, wäh­rend ich die­sen Text ab­schrei­be, le­se, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Her­tha Pau­li, ein Er­in­ne­rungs­buch an den An­schluß Öster­reichs an Deutsch­land, an Ödön von Hor­vath und Jo­seph Roth, an Flucht und Exil in Pa­ris, ist ge­fäl­lig, span­nend, jung­mäd­chen­haft, gut­ge­launt trotz al­ler Schick­sals­schlä­ge. Ich le­se es gern, wiß­be­gie­rig, mit Zu­nei­gung zu den mei­sten Fi­gu­ren, aber ins Schwan­ken bringt es mei­ne Ge­füh­le und Ur­tei­le nicht.1) Li­te­ra­tur­kri­ti­ker ver­schwei­gen sol­che Ge­füh­le in der Re­gel, sie müs­sen zu ei­ner Be­wer­tung kom­men, drei Ster­ne von fünf, oder doch drei­ein­halb… Bei an­de­ren Au­toren ist der Wech­sel der Le­se­ge­füh­le über die lan­ge Rei­he ih­rer Bü­cher ver­teilt, ei­ni­ge da­von ge­fal­len mir, an­de­re nicht. Bei Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi ist die­se Un­si­cher­heit selbst ein Grund, im­mer wie­der et­was von ihm zu le­sen. Kaf­ka am Strand fand ich sehr gut, ein post­mo­der­ner, viel­schich­ti­ger und trotz­dem leicht­le­bi­ger Mix, pu­ber­tä­re Li­te­ra­tur à la Her­mann Hes­se, mag sein (Mu­ra­ka­mis Held ist der Pu­ber­tät ge­ra­de eben ent­wach­sen); Karl-Mar­kus Gauß, ei­ner der tap­fer­sten und aus­dau­ernd­sten Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, hat sich in die­sem Sinn ge­äu­ßert, aber ich ha­be mich bei der Lek­tü­re gut un­ter­hal­ten und Zu­nei­gung zu ein­zel­nen Fi­gu­ren ge­faßt.2 Gut mög­lich, daß Mu­ra­ka­mi sei­ne Fi­gu­ren, auch die Bö­se­wich­te, zu sehr liebt, daß er sie ver­hät­schelt und manch­mal ver­dirbt: ty­pi­scher Fall von amay­a­ka­su, von ka­wai­ga­ru – bei­de Wör­ter ver­wei­sen auf ja­pa­ni­sche Stär­ken, die sich un­merk­lich in Übel ver­wan­delt ha­ben: ka­waii und amae, die klei­nen hüb­schen Din­ge und das Lieb-und-an­ge­paßt-Sein. Die Lek­tü­re von Kaf­ka am Strand hat mir durch­aus Mo­men­te der Er­kennt­nis ge­währt, in de­nen Zu­sam­men­hän­ge auf­ge­gan­gen sind, ja, so­gar et­was wie Er­leuch­tung ahn­bar ge­wor­den ist.

Jah­re spä­ter nahm ich mir die Zeit und las 1Q84, fand das Buch aber ge­schwät­zig, die Sei­ten­zahl von ca. 1600 ist eher die­ser Plau­der­haf­tig­keit (be­son­ders na­tür­lich in den Dia­lo­gen) ge­schul­det als ei­ner über­quel­len­den Sub­stanz. All­zu gro­ßes Ver­trau­en in die Ge­läu­fig­keit des ei­ge­nen Schrei­bens scha­det of­fen­bar je­ner Sub­stanz, über die Mu­ra­ka­mi zwei­fel­los ver­fügt; oder ist es wirk­lich so, daß er bloß – be­wußt? – he­te­ro­ge­nes Ma­te­ri­al und flüs­si­ge Ge­schich­ten um ein lee­res Zen­trum her­um an­ord­net? So lau­tet die Do­nut-Theo­rie, aber man könn­te auch auf das lee­re Zen­trum der Shin­to-Hei­lig­tü­mer ver­wei­sen. Mu­ra­ka­mis Er­zähl­werk, ein west-öst­li­cher Di­van, pro­du­ziert mit Hil­fe ame­ri­ka­ni­scher fic­tion-skills. Zu­letzt ha­be ich Wil­de Schafs­jagd ge­le­sen, weil ein be­gab­ter Stu­dent, den ich ei­ne Zeit lang be­treu­te, be­vor er nach Deutsch­land ging und ich ihn aus den Au­gen ver­lor, mir ge­stand, das sei sei­ne Bi­bel. So drück­te er sich aus, »mei­ne Bi­bel«. Nun denn, ei­ne Bi­bel soll­te man im­mer wie­der le­sen, dar­in blät­tern, mal die­ses, mal je­nes Ka­pi­tel auf­su­chen; ein sol­ches Le­se­ver­hal­ten ent­spricht die­sem he­te­ro­ge­nen Buch, dem Buch der Bü­cher, be­stehend aus ei­ner Viel­zahl von Bü­chern, auch »Di­van« könn­te man da­zu sa­gen, es ge­stat­tet und for­dert das Blät­tern. Zur Wil­den Schafs­jagd wer­de ich al­ler­dings nicht zu­rück­keh­ren, da ha­be ich zwar die Flüs­sig­keit ge­nos­sen, die­sen epi­schen soft drink (pas­send zu do­nuts), und – wie üb­lich – die Fi­gu­ren sym­pa­thisch ge­fun­den, aber ge­nau das, was an Mu­ra­ka­mi so oft ge­lobt und be­wun­dert wird, die Kunst des Plots – the art of plot, klingt nicht schlecht? – sucht man hier ver­geb­lich, oder bes­ser ge­sagt: Der grund­le­gen­de Plot die­ses Ro­mans, ei­ne dunk­le, ya­kuza­mä­ßi­ge Macht, la piov­ra, die ih­re Kra­ken­ar­me nach ein­zel­nen Men­schen aus­streckt und bald die gan­ze Ge­sell­schaft zu um­schlin­gen droht, konn­te mich gar nicht über­zeu­gen, die­se dunk­le, in Wahr­heit aber nur un­aus­ge­go­re­nen Ver­schwö­rungs­ge­schich­te. In 1Q84, knapp drei­ßig Jah­re nach Wil­de Schafs­jagd er­schie­nen, spinnt Mu­ra­ka­mi ei­nen ganz ähn­li­chen Plot aus, dies­mal nicht durch die Ya­ku­za, son­dern durch ei­ne re­li­giö­se Sek­te »in­spi­riert«. Das Er­geb­nis ist breit, brei­ig und amü­sant; wie­der ein­mal ha­ben sich dunk­le Mäch­te ver­schwo­ren.

Japanische Zeile in meiner provisorischen Bibliothek © Leopold Federmair

Ja­pa­ni­sche Zei­le in mei­ner pro­vi­so­ri­schen Bi­blio­thek © Leo­pold Fe­der­mair

Ri­car­do Pi­glia hat oft dar­auf hin­ge­wie­sen, daß die Idee ei­nes Kom­plotts der Mo­tor zahl­rei­cher Er­zäh­lun­gen der ar­gen­ti­ni­schen Li­te­ra­tur­ge­schich­te ist. Dunk­le Mäch­te, boh­ren­de Ver­däch­te – aus Äng­sten und Mut­ma­ßun­gen wer­den li­te­ra­tur­fä­hi­ge Ge­schich­ten. Die­ser Me­cha­nis­mus ist si­cher nicht nur in Ar­gen­ti­ni­en an­zu­tref­fen, er war und ist in vie­len Ge­gen­den der Welt­li­te­ra­tur am Werk. Mei­ne der­zei­ti­ge Ab­nei­gung da­ge­gen, auch ge­gen Pi­gli­as Theo­rie, hat mit der all­sei­ti­gen Be­liebt­heit von zu­meist voll­kom­men idio­ti­schen Ver­schwö­rungs­theo­rien zu tun, die den An­spruch er­he­ben, kom­ple­xe Sach­ver­hal­te auf ei­nen ein­zi­gen Punkt zu re­du­zie­ren, mit der Ten­denz, die gan­ze Welt mit ein paar ra­schen Ge­sten zu er­klä­ren. In den In­ter­net­fo­ren kann man nach­le­sen, wie hart­näckig und oft gro­tesk, Schiff­brü­chi­gen gleich, sich vie­le Leu­te – ich fürch­te, die Be­völ­ke­rungs­mehr­heit – an sol­che Er­klä­rungs­plan­ken klam­mern. Nach dem zwei­ten Welt­krieg konn­te man ein paar Jahr­zehn­te lang den­ken, Kom­ple­xi­täts­to­le­ranz ha­be sich nicht nur im ober­sten Über­bau durch­ge­setzt (Pop­per, Ha­ber­mas, um nur zwei Na­men zu nen­nen), son­dern auch in den Mas­sen­me­di­en, die die Mas­sen – und mich in der Men­ge – in ge­dul­di­ger Ta­ges­ar­beit auf­zu­klä­ren und zu ver­bes­sern ver­stan­den, so daß kom­ple­xes Den­ken zwar nicht im­mer nach­voll­zo­gen, aber we­nig­stens mit ge­sell­schaft­li­chem An­se­hen be­dacht wur­de. Im ein­zel­nen will ich hier nicht aus­ein­an­der­set­zen, wes­halb mich der Me­cha­nis­mus des Kom­plotts ge­ra­de in den er­wähn­ten Ro­ma­nen Mu­ra­ka­mis nicht über­zeugt. Ich fürch­te, ich ha­be die­sen Me­cha­nis­mus als Schrei­ben­der manch­mal selbst be­dient. Die­ser Fra­ge müß­te ich nach­ge­hen, aber ich will hier ei­gent­lich gar nichts er­klä­ren und mich nicht noch mehr in den Ver­zwei­gun­gen des wil­den Den­kens ver­lie­ren, son­dern die trans­ver­sa­len Aben­teu­er des mehr oder min­der be­frei­ten Le­sens schil­dern.

Mi­chel Hou­el­le­becq. Auch ihn muß ich im­mer wie­der le­sen, weil ich sei­nen er­sten Ro­man über­setzt ha­be, Aus­wei­tung der Kampf­zo­ne: ein Stein, der et­was ins Rol­len ge­bracht hat, so­wohl in der lär­men­den Öf­fent­lich­keit als auch bei der stil­le­ren Le­ser­schaft und bei mir selbst. Was nicht heißt, daß ich je das Be­dürf­nis ver­spürt hät­te, mich zu Hou­el­le­becq zu be­ken­nen. Ihn zu ver­tei­di­gen, das ja, wie ei­nen frem­den Bru­der. So ei­nen ver­läßt man nicht, und auch an­ders­rum: man wird ihn nicht los. So­u­mis­si­on, »Un­ter­wer­fung«, tat­säch­lich trifft er wie­der mal ei­nen Nerv, nicht nur we­gen der schlei­chen­den Is­la­mi­sie­rung, die qua­si den Plot dar­stellt, wie­der­um ei­ne Art Ver­schwö­rung von dunk­len, un­greif­ba­ren Mäch­ten, mit ei­ner Ga­li­ons­fi­gur, de­ren osten­ta­ti­ver Gut­wil­lig­keit man nicht trau­en kann, ei­ne vor­sätz­lich über­zeich­ne­te Dar­stel­lung ge­sell­schaft­li­cher Ver­hält­nis­se, die auf an­de­re, ge­wöhn­li­che­re und gar nicht be­un­ru­hi­gen­de Wei­se oh­ne­hin längst eu­ro­päi­scher All­tag sind, da Leu­te, die dem is­la­mi­schen Kul­tur­kreis ent­stam­men, in Macht­po­si­tio­nen ge­wählt wur­den, wie Sa­diq Khan, seit 2016 Bür­ger­mei­ster von Lon­don (So­u­mis­si­on war an­dert­halb Jah­re vor­her er­schie­nen, am 7. Ja­nu­ar, dem Tag des blut­rün­sti­gen An­griffs is­la­mi­sti­scher Ter­ro­ri­sten auf die Wo­chen­zei­tung Char­lie Heb­do in Pa­ris), oder neu­er­dings Al­ma Zadic, die jun­ge Ju­stiz­mi­ni­ste­rin der öster­rei­chi­schen Re­gie­rung. Bei der Lek­tü­re von Un­ter­wer­fung ha­be ich mich ge­fragt, wie man ein Buch, das in der na­hen Zu­kunft – 2022 – spielt, in die­ser na­hen Zu­kunft, wenn sie dann Ge­gen­wart ist, le­sen wird: Et­wa den Fin­ger auf Stel­len le­gend, Prä­si­dent­schafts­wahl­er­geb­nis­se zum Bei­spiel, die von der Wirk­lich­keit be­stä­tigt oder wi­der­legt wur­den? Aber nicht nur mit dem im Grun­de ge­nom­men leicht kal­ku­lier­ba­ren Spiel mit den Äng­sten vor ori­en­ta­li­scher Über­schwem­mung des We­stens trifft er ei­nen Nerv und bringt ihn zum Schmer­zen, son­dern auch und mehr noch, für mich je­den­falls trif­ti­ger und dring­li­cher, in der er­zäh­le­ri­schen Ex­tra­po­la­ti­on ei­ner neu­en Un­ter­wür­fig­keit wei­ter Be­völ­ke­rungs­tei­le (ein­schließ­lich der Uni­ver­si­täts­do­zen­ten) un­ter mo­ra­li­sche Vor­ga­ben, Ar­beits­dis­zi­plin und Ver­füg­bar­keits­for­de­run­gen, ver­nünf­telnd-ir­re Sprach­re­ge­lun­gen, Al­ter­na­tiv­lo­sig­keits­dog­men, all die Zwän­ge der »post­hi­sto­ri­schen«, ach so frei­en spät­ka­pi­ta­li­sti­schen Ge­sell­schaft, die uns der Ter­ror der Öko­no­mie, wie es ei­ne hell­sich­ti­ge Au­torin einst nann­te, ein­ge­träu­felt hat.

Auf die­se Wei­se ent­steht ein be­son­de­rer Rea­lis­mus-Ef­fekt, ei­ne Art Ak­tua­li­täts­an­spruch, der in den er­sten bei­den Ro­man Hou­el­le­becqs nicht da war und der li­te­ra­ri­schen Qua­li­tät wo­mög­lich nicht gut­tut: Un­ter­wer­fung liest sich wie ein Kol­por­ta­ge­ro­man, li­te­ra­risch auf­ge­päp­pel­ter Jour­na­lis­mus. Ich schrei­be »Kol­por­ta­ge«, col à por­ter, Hau­sie­rer­li­te­ra­tur, aber viel­leicht soll­te ich bes­ser »Kon­fek­ti­ons­ro­man« sa­gen. In­du­stri­ell ge­macht (Kon­fek­ti­on)? Viel­leicht, ein we­nig au se­cond de­gré: nach Mu­stern ge­strickt. Cock­tail­ro­man, In­gre­di­en­zi­en­mix. Wie Mu­ra­ka­mi? Glo­ba­les Re­zept.

Und dann Na­bo­kov. Der be­zeich­ne­te Faul­k­ners Ro­ma­ne als »corn­cob chro­nic­les«, Mais­kol­ben­chro­ni­ken. »Ku­kuruz­li­te­ra­tur«, wür­de ich lie­ber sa­gen. Wird in Yo­kna­pa­taw­pha Coun­ty nicht Ku­kuruz an­ge­baut? Ach ja, Na­bo­kov dürf­te da­bei eher an den se­xu­el­len Miß­brauch ei­nes sol­chen Dings als Pe­ne­tra­ti­ons­in­stru­ment in ei­nem von Faul­k­ners Ro­ma­nen ge­dacht ha­ben. Faul­k­ner ist ihm zu bom­ba­stisch, zu spät­ro­man­tisch. Der Ri­chard Wag­ner der ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­tur. Ich wer­de den Ver­dacht nicht los, daß selbst der gro­ße Na­bo­kov manch­mal von Neid­ge­füh­len ge­streift wur­de: Faul­k­ner er­hielt 1950 den No­bel­preis, ge­nau in die­ser Zeit ka­men ihm sei­ne Bü­cher Na­bo­kov erst­mals un­ter die Au­gen. Aber klar, Spät­ro­man­tik, man könn­te auch sa­gen: Shake­spearia­nis­mus, so­was paßt nicht zu Na­bo­kovs Ge­schmack und Selbst­ver­ständ­nis. Da ist er viel zu sehr Iro­ni­ker zu. Des­il­lu­sio­niert, d. h. mit al­len Was­sern ge­wa­schen. Re­ve­nu de tout, si­cher auch ein we­nig bla­siert, wie es sich für ei­nen Ade­li­gen ge­hört. Im Ran­king der New Yor­ker Mo­dern Li­bra­ry für die be­sten Ro­ma­ne des 20. Jahr­hun­derts liegt Lo­li­ta an vier­ter Stel­le, knapp vor Faul­k­ners Schall und Wahn Freut sich Na­bo­kov im Grab dar­über? In ei­ner ähn­li­chen Li­ste von Le Mon­de, die je­doch auf ei­ne Um­fra­ge zu­rück­geht und nicht, wie die der Mo­dern Li­bra­ry, durch ei­ne Ju­ry zu­stan­de ge­kom­men ist, lie­gen Ca­mus und Proust vor­ne, dann erst kommt Kaf­ka, zwei wei­te­re »Aus­län­der« un­ter den er­sten zehn fol­gen auf Rang sie­ben und acht, Stein­beck und He­ming­way; Lo­li­ta und Ulysses un­ter »fer­ner lie­fen«, aber auch da be­nach­bart, Schall und Wahn et­was wei­ter hin­ten. So­viel zu den Ran­kings, die an­geb­lich die Welt­li­te­ra­tur spie­geln.3

Lo­li­ta ge­hört zu den Bü­chern, die ich mir in jun­gen Jah­ren zu le­sen vor­ge­nom­men hat­te, aber nie las. Vor­letz­ten Som­mer ha­be ich mich end­lich dar­an­ge­macht. Über die­sen Ro­man hat­te ich im­mer nur Gu­tes ge­hört, oft in den höch­sten Tö­nen. Und dann ging es mir so ähn­lich wie mit Faul­k­ner. Viel­leicht ist mei­ne Of­fen­heit, mei­ne Be­gei­ste­rungs­fä­hig­keit nicht mehr groß ge­nug, aber ir­gend­wie fand ich die­se end­lo­sen Jung­mäd­chen­ge­schich­ten, all die Ver­schro­ben­hei­ten und Ul­kig­kei­ten die­ses Mr. Hum­bert Hum­bert und auch das Macht­stre­ben und die Selbst­be­wußt­heit ei­ni­ger die­ser Fräu­leins – ich könn­te nicht sa­gen, wel­cher, sie sind mir al­le fern­ge­rückt, Schat­ten im Ne­bel der Er­in­ne­rung – an­stren­gend und über­trie­ben. Auf an­de­re Art bom­ba­stisch. Ich sa­ge das nicht, weil ich Na­bo­kov an Faul­k­ners statt ei­nen Schlag heim­zah­len will, son­dern weil es mir ähn­lich er­ging wie beim an­de­ren. Aber ich will mei­ne al­te Aus­dau­er nicht ver­lie­ren. Na­bo­kov wer­de ich wie­der le­sen (und wahr­schein­lich nicht wie­der­le­sen). Eben­so Faul­k­ner.

Tho­mas Bern­hard. Auch so ein Fall. Ich hat­te Lust, et­was von ihm zu le­sen, das ich noch nicht kann­te; ei­ni­ge Jah­re zu­vor hat­te ich Das Kalk­werk wie­der­ge­le­sen, mit ge­misch­ten Ge­füh­len, nach­zu­le­sen in mei­nem Es­say Als ich das Kalk­werk von Tho­mas Bern­hard las (ent­hal­ten in dem Band For­men der Un­ru­he). Die Bi­blio­thek der Uni­ver­si­tät, an der ich un­ter­rich­te, be­sitzt bei wei­tem nicht al­le Wer­ke von Tho­mas Bern­hard; hät­te ich Frost in ih­re Ka­ta­log ge­fun­den, ich hät­te wahr­schein­lich nicht wi­der­ste­hen kön­nen und hät­te Bern­hards er­sten Ro­man wie­der­ge­le­sen. So bin ich auf Be­ton ge­sto­ßen und ha­be das Buch vor der Baum­gren­ze, der Hun­dert-Sei­ten-Gren­ze zu­rück­ge­ge­ben. So hat­te ich mei­nen Bern­hard nicht in Er­in­ne­rung! Schlam­pig, lust­los, der ewi­ge Au­to­ma­tis­mus von Ge­gen­satz-Stei­ge­rung-Um­keh­rung, die­se rhe­to­ri­sche Lei­er. Lang­wei­li­ger als He­gels Dia­lek­tik-Ma­schi­ne. Ob die Schwe­ster je­nes Möch­te­gern­schrei­bers – wie hieß er noch gleich? Ru­dolf? Rich­tig, wie mein Bru­der – stö­rend (Ex­trem: ver­nich­tend) oder hilf­reich (Ex­trem: ret­tend) wirkt auf sei­ne »Ar­beit«, die­se wie­der­ge­käu­te Fra­ge ließ mich nicht nur kalt, sie hat mich är­ger­lich ge­macht.

© Leo­pold Fe­der­mair

→ Teil 7/8 folgt


  1. Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. 

  2. Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. 

  3. Selbstkommentar: Man merkt hier, wie du jetzt doch wieder bei Google Zuflucht nimmst. (L. F.)  

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  1. Ich fol­ge ger­ne Ih­ren ver­schlun­ge­nen Lek­tü­re-Schil­de­run­gen. Fast zu je­dem Au­tor fie­le mir auch et­was ein – zum Bei­spiel Mo­dia­no, von dem ich vor ei­ni­gen Jah­ren ei­ne gan­ze Rei­he von Bü­chern ge­le­sen ha­be, an­ge­fan­gen mit dem von Hand­ke über­setz­ten »Ju­gend«, das mich mit sei­ner Leich­tig­keit und Bei­läu­fig­keit be­zau­bert hat­te. Es war dann wie Se­ri­en-Schau­en, nur nicht mit den un­an­ge­neh­men Nach- oder Ne­ben­wir­kun­gen, wenn man die »Ma­sche« durch­schaut hat, bei Mo­dia­no ist es kei­ne Ma­sche. Fast kei­ne Se­rie ha­be ich hib­ge­gen dass bis zum En­de an­ge­schaut ha­be und der­zeit schaue ich über­haupt kei­ne Se­ri­en mehr. Der­zeit schaue ich Fil­me von Ko­ree­da und le­se Kent Ha­ruf. Bei­de er­zäh­len schlicht, aber mit sub­ti­len Zwi­schen­tö­nen, die wie­der­um zur Kom­ple­xi­tät hin­füh­ren. Ko­ree­da sagt in dem In­ter­view, das in dem schö­nen Be­gleit­heft zur DVD-Box ab­ge­druckt ist, ein west­li­cher Kri­ti­ker ha­be zu ihm ge­sagt, auf­fal­lend sei, dass er sei­ne Fi­gu­ren nicht ver­ur­tei­le. Das kann man auch von Ha­ruf sa­gen. Es schim­mert durch die Art, wie er­zählt wird, et­was Hu­ma­nes durch, et­was, was in der Rea­li­tät (mehr und mehr?) zu feh­len scheint.

    Auf dem Buch­rücken von Ha­ruf sind zwei Stim­men ab­ge­druckt: ei­ne von Chri­sti­ne We­ster­mann, die un­ge­fähr sagt, dass Ha­rufs Schlicht­heit ihr Herz er­grei­fe. Dann Bern­hard Schlink, der be­teu­ert, dass Ha­ruf ein gro­ßer ame­ri­ka­ni­scher Au­tor sei. Nun bin ich we­der von Chri­sti­ne We­ster­mann als Li­te­ra­tur­kri­ti­ke­rin be­gei­stert noch von Bern­hard Schlink als Au­tor. Al­ler­dings fra­ge ich mich, ob mei­ne li­te­ra­tur­kri­ti­schen Ur­tei­le sich nicht in­zwi­schen auf Chri­sti­ne We­ster­mann-Ni­veau be­we­gen, in­so­fern, als mich Bü­cher emo­tio­nal be­rüh­ren müs­sen, da­mit ich sie gut fin­de. Je­den­falls ir­gend­et­was mit mir in­ner­lich an­stel­len. Das nicht nur in­tel­lek­tu­ell, son­dern see­lisch, exi­sten­ti­ell oder wie im­mer man das nen­nen mag. So wie da­mals, als ich zum er­sten Mal Kaf­kas »Ver­wand­lung« las. In ei­ner Aus­ga­be, in der als Nach­wort ein Es­say Na­bo­kovs ab­ge­druckt war. Zu Na­bo­kov ha­be ich ein am­bi­va­len­tes Ver­hält­nis. So sehr ich sei­ne Pro­sa be­wun­de­re, sein Kön­nen, las­sen mich sei­ne Bü­cher doch eher gleich­gül­tig, viel­leicht mit Aus­nah­me »Der Ga­be«. Nun zu Schlink: Mir fällt auf, dass ich, wenn mich ein Au­tor be­gei­stert, nie sa­gen kann, ob es sich um ei­nen gro­ßen Au­tor han­delt, die Fra­ge stellt sich mir dann gar nicht.

    »Mein Le­ben als Le­ser« – und wie sich die Lek­tü­re mit dem ei­ge­nen Le­ben ver­bin­det und man sei­ne ei­ge­ne Le­bens­er­fah­run­gen im Spie­gel fik­tio­na­ler Wer­ke re­flek­tiert. Dar­aus könn­te man wie­der­um ei­nen Ro­man ma­chen. Je­den­falls ha­be ich mir im­mer Re­zen­sio­nen vor­ge­stellt, in de­nen dies the­ma­ti­siert wird.

    Hand­ke-Lek­tü­ren wa­ren ein Zeit­lang für mich in dem Sinn mehr als Li­te­ra­tur. So »Der lan­ge Brief ...«, »Die Stun­de der wah­ren Emp­fin­dung« und vor al­lem »Lang­sa­me Heim­kehr«. Aber auch die Ver­su­che. Ei­ne Zeit­lang ha­be ich ihn dann aus den Au­gen ver­lo­ren, aber ich ha­be ihn nie »aus­sor­tiert« wie man­che Au­toren; die­se Lek­tü­re­er­leb­nis­se blie­ben haf­ten, und vor ein paar Jah­ren ha­be ich ihn von neu­em ent­deckt. Ge­prägt hat mich Hand­ke au­sser­dem als ver­läss­li­cher Tipp­ge­ber. Da­zu ge­hö­ren: Her­mann Lenz, Wal­ker Per­cy, To­mas Tranströ­mer, Jan Sk­acel, Ger­hard Mei­er, John Chee­ver oder Pa­trick Mo­dia­no. Das ist ganz er­staun­lich. Das Er­staun­li­che ist, dass ich zu den Wer­ken die­ser Au­toren im­mer wie­der grei­fe wie sonst nur zu we­ni­gen; zu den We­ni­gen ge­hö­ren si­cher Kaf­ka und Ro­bert Wal­ser.

  2. Ja. Nur zu Ko­ree­da: Es gibt das ei­ne re­gel­rech­te Tra­di­ti­ons­li­nie im ja­pa­ni­schen Ki­no, die­ses schlich­te Bil­der­zäh­len von mensch­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten, meist un­spek­ta­ku­lär, aber ei­ne star­ke In­ten­si­tät ent­fal­tend: Ya­su­ji­ro Ozu, Sho­hei Ima­mu­ra, Hi­ro­katsu Ko­ree­da. Un­längst ha­be ich ei­ne Ver­fil­mung ei­ner Er­zäh­lung von Ji­ro Asa­da ge­se­hen, »Pop­poya«, auf deutsch et­wa »Der Bahn­vor­stand« (eng­lisch »The Sta­ti­on­ma­ster«, ich er­wäh­ne das Buch ir­gend­wo in mei­nem Es­say), mit groß­ar­ti­gen Schau­spie­lern, oben im Schnee­land spie­lend (Re­gie Ya­suo Fu­ru­hata). Mei­ne Toch­ter hat da­nach sehr ge­weint, ich auch ein biß­chen, bin bei Ja­pa­nisch oh­ne Un­ter­ti­tel et­was schwe­rer von Be­griff. Ich glau­be, es geht doch im­mer wie­der um die­se emo­tio­na­le Be­rüh­rung. Aber auch die­se Din­ge sind kom­plex, Wei­nen al­lein sagt noch gar nichts, die mei­sten Hol­ly­wood­fil­me lau­fen auch dar­auf hin­aus.

    Kent Ha­ruf kann­te ich gar nicht. Ist no­tiert.

  3. Trä­nen lü­gen nicht, heisst es doch; viel­leicht kann ja in dem al­ler­größ­ten Schund ein wah­rer Mo­ment ver­bor­gen sein oder ei­nen wah­ren Mo­ment evo­zie­ren. Re­la­tiv all­er­gisch re­agie­re ich, wenn ich den Ein­druck ha­be, ich soll emo­tio­nal ma­ni­pu­liert wer­den; bei Ko­ree­da ha­be ich den Ein­druck nicht, weil sich die Emo­tio­na­li­tät da eher in­di­rekt und de­zent ver­mit­telt. Ei­nen Film von Ozu ha­be ich mir letz­te Wo­che dann auch wie­der an­ge­se­hen. Und es stimmt, dass die­se Schlicht­heit ei­ne star­ke In­ten­si­tät ent­fal­ten kann, oder an­ders: es ist im­mer wie­der über­ra­schend, wie aus ei­nem ba­na­len Ge­sche­hen un­merk­lich exi­sten­zi­ell ver­dich­te­te Mo­men­te her­vor­ge­hen. Bei­des – das Ba­na­le und das Exi­sten­ti­el­le – schei­nen in die­sen Fil­men stär­ker ver­wo­ben. Mir hat sich auch die Fra­ge ge­stellt, was dar­an ist Ost, was West. Lässt sich das über­haupt so klar von­ein­an­der tren­nen? Von Ozu heisst es, er sei der ja­pa­nisch­ste Re­gis­seur, zu­gleich dass er west­li­chen Ein­flüs­sen of­fen ge­we­sen sei. Ko­ree­da sagt in dem In­ter­view, er ha­be mit sei­nen Fil­men ge­ra­de nicht west­li­che Er­war­tun­gen be­die­nen wol­len, al­so ei­ne Zen-Äs­the­tik der Lee­re – und doch ha­be er dies zu hö­ren be­kom­men. Par­al­le­len zu Ozu fin­de ich wie­der­um bei Bres­son und Drey­er. Von Ima­mu­ra ha­be ich noch kei­nen Film ge­se­hen, will es nun aber tun; »Pop­pa­ya« ist lei­der nicht er­hält­lich.

  4. Ich glau­be nicht, daß man Wer­ke wie die von Ozu all­zu­sehr kon­ti­nen­tal oder na­tio­nal fest­le­gen soll­te. In die­sen Fil­men spie­len die Fein­hei­ten im Ge­sichts­aus­druck der Schau­spie­ler, auch die Ge­sten ei­ne wich­ti­ge Rol­le (na­tür­lich auch in »west­li­chen« Fil­men). Mei­ne Toch­ter sag­te neu­lich zu »Pop­pa­ya«, die er­staun­li­chen Aus­drucks­än­de­run­gen bei Nah­auf­nah­men sei­en eben »ja­pa­nisch«, und ich glau­be, da hat sich recht. Ja­pa­ni­sche, ost­asia­ti­sche Ge­sich­ter wer­den von Eu­ro­pä­ern oft als starr an­ge­se­hen, aber wenn man da­mit ver­traut ist, sieht man, wie die Aus­drucks­ver­än­de­rung im Mi­kro­be­reich gro­ße Wir­kun­gen er­zeu­gen kann. Die Schau­spie­ler ge­hen na­tür­lich da­mit auf ih­re Wei­se um – hier ist dann si­cher der ört­li­che Kon­text, die Bio­gra­phie, die Ge­wor­den­heit des Kör­pers wich­tig. Das be­ste Bei­spiel ist Ryu Chis­hu, der in den mei­sten Fil­me Ozus mit­spielt. Wim Wen­ders hat ihn für sei­nen Do­ku­men­tar­film »To­kyo-ga« in­ter­viewt, er meint dort in ty­pi­scher Be­schei­den­heit, er ha­be al­les dem Re­gis­seur zu ver­dan­ken und im­mer nur ge­tan, was der ihm sag­te. (Ich glau­be, ein ähn­lich in­ni­ges Ver­hält­nis ent­wickelt Ko­ree­da zu sei­nen Schau­spie­lern, auch zu Lai­en­dar­stel­lern, Kin­dern, das kann er be­son­ders gut.) Ich könn­te stun­den­lang da­sit­zen und nur Chis­hus Ge­sicht an­schau­en. Oder Ryo­ko Hi­ro­sues Ge­sicht in »Pop­poya«.

  5. Was ich im vo­ri­gen Kom­men­tar auch noch sa­gen woll­te: Die­se ja­pa­ni­schen Fil­me zeich­net ih­re Sorg­falt aus. Und die ist tat­säch­lich Teil der ja­pa­ni­schen Kul­tur. Im Film bei al­len Be­tei­lig­ten, Schau­spie­ler Re­gis­seur Ka­me­ra­mann, wenn ich zum Bei­spiel an ei­ne Sze­ne den­ke, wo man lan­ge die ja­pa­ni­schen Pflau­men im Ge­gen­licht er­schei­nen, die dann ein­ge­legt wer­den sol­len (ich weiß nicht, mehr, in wel­chem Film von Ko­ree­da, und das spielt auch kei­ne Rol­le). »Mo­no no Awa­re«, das Herz­zer­rei­ßen­de der Din­ge, Be­rührt­wer­den von den Din­gen, das kann man in sol­chen Fil­men se­hen, und es gilt auch für mensch­li­che Ge­sich­ter. Das ist nicht »Zen«, der in Ja­pan nicht gar so ei­ne gro­ße Rol­le spielt, wie West­ler das oft glau­ben, es ist äl­ter, je­den­falls schon ein Um und Auf der Hei­an-Kul­tur, wie sich auch im Gen­ji-Mo­no­ga­ta­ri dar­ge­stellt ist. Üb­ri­gens auch im heu­ti­gen All­tag, aber meist oh­ne Wis­sen um die lan­ge Ge­schich­te.

  6. Ja, jetzt wo Sie’s sa­gen: Den­ke ich an den Ozu, den ich zu­letzt ge­se­hen ha­be, Autumn Af­ter­noon, steht mir das Ge­sicht des Haupt­dar­stel­lers vor, es ist, wie ich durch Goog­len er­fuhr, Chis­hu. Ich glau­be, die Sze­ne mit den Pflau­men ist aus »Un­se­re klei­ne Schwe­ster«.