Os­kar Roeh­ler: Der Man­gel

Oskar Roehler: Der Mangel

Os­kar Roeh­ler:
Der Man­gel

Ir­gend­wo im Frän­ki­schen, um 1960 her­um. »Die Hut«, ein Bau­ge­biet. Es sol­len Ein­fa­mi­li­en­häu­ser ent­ste­hen für Zu­ge­zo­ge­ne. Im Win­ter ist dort hart, ein »rie­si­ges Dach aus Glas«, ein An­stieg, fast nicht zu be­wäl­ti­gen. Ro­seg­ger­haf­te Bil­der von Men­schen, die Na­tur­ge­wal­ten trot­zen. Jah­re­lang wird ge­baut, im­mer wie­der Un­ter­bre­chun­gen, weil Was­ser von oben wie von un­ten ein­dringt, die Bau­fort­schrit­te im­mer wie­der zer­stört. Rie­si­ge Pum­pen, die nicht im­mer funk­tio­nie­ren. Feind­se­lig­kei­ten von den lo­ka­len Bau­ern, »stier­nacki­ge Bru­ta­li­tät«. Sie sind Flücht­lin­ge, kei­ne Kin­der des Wirt­schafts­wun­ders. Die Ein­hei­mi­schen sind ge­gen die Sied­lung. Ei­ne Par­zel­le für den Bau ei­ner Schu­le wird ver­wei­gert. Man haust lan­ge im Roh­bau, spät erst mit Elek­tri­zi­tät. Die Neu­en bil­den »sym­bo­li­sche Grup­pen des Schei­terns«.

Es gibt ei­nen Wir- spä­ter Ich-Er­zäh­ler, da­mals Kind, heu­te um die 60. Die Neu­an­sied­ler und ih­re »selt­sa­me Schwer­mut«. »Un­schein­ba­re, schweig­sa­me Män­ner«, von den un­ge­lö­sten Pro­ble­men auf­ge­zehrt. Es herrsch­te öko­no­mi­scher Man­gel. Man­gel statt Zu­ver­sicht – ganz ge­gen den Zeit­geist.

Man reibt sich die Au­gen. Hat das wirk­lich DER Os­kar Roeh­ler ge­schrie­ben? Das (so­zu­sa­gen) letz­te ver­blie­be­ne En­fant ter­ri­ble des deut­schen Re­gie­films, der mit sei­nem Ro­man »Selbst­ver­fickung« ei­nen klei­nen Skan­dal aus­lö­ste? Der Os­kar Roeh­ler, der zu­wei­len auf »Te­le 5« so­ge­nann­te Skan­dal­fil­me ana­ly­siert? (Es sind Ana­ly­sen, die meist bes­ser sind als die Fil­me da­nach.)

Ja, er ist es. »Der Man­gel« heißt das Buch. Ei­ne Rei­se in ei­ne Zeit, die un­end­lich weit zu­rück­zu­lie­gen scheint. Ei­ne Zeit, die wie­der des­il­lu­sio­niert wird; »un­se­re gol­de­nen Jah­re«, so hö­ren, le­sen wir, wa­ren kei­ne, es war nur Män­ner­herr­schaft und Spie­ßig­keit, so ur­tei­len oft ge­nug die­je­ni­gen, die sie nur in­di­rekt er­lebt ha­ben. Feind­bil­der braucht je­der.

Roeh­ler er­zählt an­ders. Sein(e) Er­zäh­ler (zu Be­ginn über­grif­fi­ges »wir«, ei­ne Art Freun­des­kol­lek­tiv) sind die Er­in­ne­rer, nicht die Kri­ti­ker, die Em­pa­thi­ker nicht die Ana­ly­ti­ker. Und auch spä­ter, wenn er vom »wir« zum »ich« kommt und sei­nen Weg von der Kind­heit bis heu­te als ei­ne Fol­ge von Krän­kun­gen, Prä­gun­gen und Zu­fäl­len er­zählt, wird er nie lar­moy­ant. Es ist der Ver­such die­ses Ge­fühl ei­ner In­itia­ti­on nicht zu de­nun­zie­ren aber auch nicht zu ver­klä­ren.

Wer sich durch die bild­ma­le­ri­schen Schil­de­run­gen der Hut durch­ge­kämpft hat, lernt des Er­zäh­lers El­tern ken­nen, den Va­ter, der wie hin­ein­ge­wor­fen wirkt in die­se ka­pi­ta­li­sti­sche Welt und aus Pflicht­er­fül­lung oder sonst­war­um Ver­ant­wor­tung über­nimmt, weil er es muss. Er ist der Pro­to­typ je­ner Vä­ter der ent­ste­hen­den Sied­lung, Män­ner, de­ren Wis­sen »ma­te­ri­ell nicht ver­wert­bar« war, »ge­bo­re­ne Me­lan­cho­li­ker«. Roeh­lers Cha­rak­ter­zeich­nun­gen sind bril­lant, mit zu­packen­der Zärt­lich­keit aber oh­ne fal­sche Be­schö­ni­gun­gen. Wie der Va­ter, trotz sei­ner me­lan­cho­li­schen Zü­ge ei­ne »un­heim­lich star­ke Au­ra« aus­strahl­te und ge­zwun­ge­ner­ma­ßen um­schult, den Füh­rer­scheint (mit Mü­he) macht und von nun an als Han­dels­ver­tre­ter für Märk­lin so »my­ste­riö­se Städ­te wie Frank­furt, Köln oder Düs­sel­dorf« auf­sucht. Ein »Mei­len­stein auf dem Weg sei­ner An­pas­sung«, ei­ner un­ge­lieb­ten An­pas­sung. Er war der ty­pi­sche Va­ter der Zeit: ei­gent­lich un­nah­bar; »wir wuss­ten nichts von ihm« heißt es ein­mal. Auf­bruch Mon­tag, dann die Rück­kehr, der al­les ent­schei­den­de Frei­tag, der die Stim­mung der Mut­ter bei der An­kunft über das Ge­lin­gen des Wo­chen­en­des ent­schei­det. Oft ge­nug wa­ren die »Östro­ge­ne in Auf­ruhr«, be­gann im un­gün­sti­gen Fall das Kri­ti­sie­ren über die un­ge­nü­gen­de öko­no­mi­sche Aus­beu­te des Va­ters. Sie, die Mut­ter, war die­je­ni­ge, die stets die wirt­schaft­li­che La­ge dra­ma­ti­sier­te. Und gleich­zei­tig hat­te sie Angst, ihn zu ver­lie­ren; Af­fä­ren gab es wohl auch.

Spie­ßi­ge Häu­ser wa­ren das und das klei­ne Gärt­chen mit Möh­ren und Kar­tof­feln wich­tig. Wie im Nou­veau Ro­man er­eig­nen sich die Er­in­ne­run­gen, Ima­gi­na­tio­nen, »ei­ne frü­he, kind­li­che Dro­ge«, ein Stück blau­er Tep­pich zwi­schen 4 und 5 Uhr nach­mit­tags im Licht ge­nüg­te zum Glück und da gab es noch das »durch­ge­ses­se­ne hell­blaue So­fa, […] aus der Aus­steu­er der Groß­mutter stam­mend und min­de­stens fünf­zig Jah­re alt«, wel­ches, »ob­wohl es so un­an­sehn­lich war, fast mit Ehr­furcht be­han­delt [wur­de], weil es ei­nen so lan­gen Weg hin­ter sich hat­te, von Schle­si­en bis hier­her, und ei­ne so al­te Ge­schich­te be­saß, die un­zäh­li­gen Stoff für Er­zäh­lun­gen ab­gab, wenn man nur da­nach frag­te«. So ein­fach war das da­mals.

Bil­dung galt nicht viel, die Le­bens­we­ge wa­ren vor­ge­zeich­net, die Kin­der soll­ten el­tern­seits das wer­den, was die Er­wach­se­nen schon wa­ren. Roeh­ler be­ginnt nun ei­nen Ent­wick­lungs­ro­man, ei­ne Art »Club der to­ten Dich­ter« der Fünf‑, Sechs­jäh­ri­gen mit ih­rem Leh­rer Beh­rend, An­thro­po­soph und Agrar­in­ge­nieur. Er ist die Licht­ge­stalt, bringt den Kin­dern, die stolz mit vier Jah­ren schon le­sen konn­ten, Li­te­ra­tur na­he. Und man staunt, was sie al­les ge­le­sen ha­ben wol­len, von Joy­ce ist die Re­de und Ste­fan Ge­or­ge, Keats na­tür­lich auch, Kaf­ka, Lem, der frü­he Tho­mas Bern­hard und vie­le mehr. Be­rauscht ist der Er­zäh­ler noch heu­te von die­ser Zeit, von der ein­ge­schwo­re­nen Ge­mein­schaft, von Beh­rends Kon­trast­set­zung in Li­te­ra­tur und Kunst, den An­sporn, Ge­dich­te oder Pro­sa zu schrei­ben, Li­te­ra­tur­ver­su­che, die ei­ni­ge der Mit­schü­ler bis hin­ein ins Stu­di­um und noch wei­ter ver­folgt hat­ten, ih­re Kar­rie­ren be­ein­fluss­ten, in­klu­si­ve sei­ner. Aus­flü­ge in Mu­se­en, auch die Pi­na­ko­thek, er­griff die Schü­ler, die ein »Ge­fühl der gren­zen­lo­sen Frei­heit« be­ka­men. Schon ko­misch denkt man, wenn man da­mals die »Bei­pack­zet­tel der Kunst­hi­sto­ri­ker« nie be­nö­tig­te.

Ir­gend­wann (oder erst jetzt?) ent­deckt er auch die Bru­ta­li­tät Beh­rends, die­ses Le­sers von Tho­mas von Aquin, aber »im Kern ein Fa­schist, der glaub­te, dass nur die Stärk­sten und Här­te­sten ein Recht hat­ten zu über­le­ben« und vom »Exil« der Grup­pe sprach; nicht eli­tär ge­nannt wer­den woll­te, aber es ge­nau war. Aber man war den­noch ei­ne »ein­ge­schwo­re­ne Ge­mein­schaft«.

Die Dich­ter- bzw. Künst­ler­bio­gra­phie ist à la longue ei­ne Spur zu of­fen­sicht­lich ge­zeich­net. Kin­der, die das lee­re Blatt Pa­pier als des Schrift­stel­lers Bür­de, als »Lei­chen­tuch« emp­fin­den? Er­zählt hier je­mand aus der Ge­gen­wart her­aus, de­li­rie­rend? Die Spann­kraft des Er­zäh­lens tritt im Ver­lauf des Bu­ches zu Gun­sten der Ge­schich­te um den Club der i‑Dötze in den Hin­ter­grund. Ein­mal ist da­von die Re­de wie das »Sinn­li­che mit dem Ab­strak­ten« ver­mengt wird. Ge­nau dies ge­schieht, aber es tut dem Ro­man nicht gut. Et­wa wenn er sich heu­te noch vor­hält, da­mals die wich­tig­ste Ei­gen­schaft des Künst­lers ver­ges­sen zu ha­ben: »die Selbst­lo­sig­keit, die die Vor­aus­set­zung für Spra­che war.« Und so »hock­ten wir« – die Vor­schul­kin­der – »um­sonst und blöd her­um, und uns fiel nichts ein«. Es wird so­gar ein biss­chen ok­kult, wenn vom »Dä­mon« die Re­de ist, der in den Kin­dern steckt. Und dann wie­der das ar­cha­isch-mo­nu­men­ta­le, sich zei­gend im selb­stän­di­gen, mit In­brunst vor­ge­nom­me­nen Bud­deln in ei­nem Gra­ben oder das Ge­hen in die Wäl­der (ex­akt da­tiert auf 1965), »in die wir so tief ein­ge­drun­gen wa­ren, bis es in un­se­ren Her­zen spuk­te und wir Ge­räu­sche zu hö­ren be­gan­nen, die es gar nicht gab.« Was wa­ren das für Kin­der?

Als sie sie­ben Jah­re alt wa­ren, än­der­te sich al­les. Die Schu­le wur­de er­öff­net; Beh­rend un­ter­rich­te­te nur noch sei­ne ei­ge­nen Söh­ne. Für den Er­zäh­ler ist wird es zu ei­nem Ort der Tor­tur; Frau Heid­rich (!), die Leh­re­rin, »mit ih­rem bö­sen, al­ten Ge­sicht, gleicht sie
eher ei­ner Ge­fäng­nis­wär­te­rin«, miss­han­delt ihn, weil er mit links schreibt und nicht an­ders kann und der Le­ser wird ge­quält mit sei­nen Qua­len und jauchzt auf als er sich end­lich wehrt, sie beißt und tritt. Der Vor­fall wird nie be­zeugt wer­den, aber er wird da­nach in die­se Schu­le nicht mehr ge­hen. Und über­haupt kommt al­les ganz an­ders. Der »rich­ti­ge« Va­ter kommt, nimmt ihn mit nach Ber­lin. Die »fal­schen« El­tern blei­ben zu­rück. Ein Selbst­mord­ver­such spä­ter. Und doch: Ret­tung durch Cha­os?

Die Schick­sa­le der Fi­gu­ren, der Mit­schü­ler, des Leh­rers Beh­rend, des­sen Schick­sals­schlä­ge (und sein Um­gang da­mit) neh­men den Le­ser dann wie­der mit und man hät­te ger­ne mehr ge­hört, wä­re noch tie­fer ein­ge­drun­gen, aber da ist das Buch zu En­de. Es ruft nach Fort­set­zung, der Jah­re beim »rich­ti­gen« Va­ter, die nur skiz­ziert wer­den.

Das Bild des Leh­rer­vor­bilds, prä­gend für das Le­ben, ist hin­läng­lich be­kannt. Hier ist es nicht ver­kitscht – die Fi­gur bleibt am­bi­va­lent, ja ge­gen En­de ei­ne Mi­schung aus dumm-na­iv und häss­lich. Der Aus­weg, die Flucht in die Li­te­ra­tur, die neue Man­gel­wirt­schaft, die Di­stink­ti­ons­ge­win­ne statt ma­te­ri­el­lem Wohl­stand er­zeugt, ein an­de­rer, be­kann­ter To­pos. Die In­itia­ti­on durch Beh­rend war am En­de nichts an­de­res das er­folg­rei­che Im­plan­tie­ren des Glau­bens an das ei­ge­ne Ge­nie.

»Der Man­gel« ist im Duk­tus des »rau­nen­den Im­per­fekt« (Tho­mas Mann) ge­schrie­ben, viel­leicht, wie es ein­mal von ei­nem frü­hen Text des Er­zäh­lers selbst­kri­tisch heißt, in »ei­ner sehr al­ter­tüm­li­chen Spra­che ver­fasst«. Mich hat es nicht ge­stört. Aber es for­dert den heu­ti­gen, an Pop- und/oder Schreib­schul­li­te­ra­tur ge­wöhn­ten Le­ser wo­mög­lich her­aus. Das al­lei­ne lohnt schon die Lek­tü­re. Ein Auf­at­men? Ja.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Schö­nen gu­ten Tag,

    das Buch klingt sehr in­ter­es­sant und tat­säch­lich nicht nach et­was, das ich von Os­kar Roeh­ler er­war­ten wür­de – aber ge­ra­de des­we­gen er­weckt die­se Re­zen­si­on mei­ne Neu­gier. Dan­ke für den Ein­blick!

    MfG,
    Mik­ka Gott­stein

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