Die Reaktorenkatastrophe in Japan hält zur Zeit die Welt in Atem. Alles übertrieben, tönt es da aus einer Richtung. Die Journalisten sind alle indoktriniert, schüren nur Panik. Wie ein Kettenbrief kursiert seit gestern in deutschsprachigen Facebook-Accounts der Aufsatz eines gewissen Josef Oehmen, der zunächst als Wissenschaftler des MIT vorgestellt wurde, was man dann später korrigierte: Oehmen ist das, was man gemeinhin einen Risikomanager nennt.
Zunächst gibt es eine Einführung in die Bau- und Arbeitsweise der Reaktorentypen, die in Japan gerade vor sich hinzuschmelzen drohen. Oehmen(?) beruhigt dann sehr schnell den Leser: »Es hat keine signifikante Abgabe von Radioaktivität stattgefunden und es wird auch keine geben! Mit »signifikant« meine ich eine Strahlungsmenge, die man – sagen wir mal – auf einem Langstreckenflug aufnimmt, oder wenn man ein Glas Bier trinkt, das aus einer Gegend mit hoher natürlicher Hintergrundstrahlung kommt.«
Die Kenntnisse, die Oehmen hat, sind erstaunlich. Er weiß beispielsweise, warum die Notstromversorgung irgendwann nicht mehr funktionierte – die Stecker passten nicht. Und er weiß – siehe oben – dass es keine signifikante Strahlungsdosis geben wird. Im weiteren Text gibt er allerdings zu, das er eine Menge nicht weiß: Er weiß nicht, welches Kühlsystem zu welchem Zeitpunkt ausfiel. Er weiß nicht, wie die Betreiber die Meerwasserkühlung vornahmen. Und ansonsten dominiert zumeist auch der Konjunktiv – zumindest in den Passagen, die er für die Beschreibung des Katastrophenvorgangs verwendet. Diese Unkenntnis ist dem Verfasser in keinem Fall anzulasten; vermutlich wissen derzeit nur wenige Menschen, was dort genau passiert. Oehmen macht aber dann das, was er den Journalisten vorwirft: Aus den Vermutungen und Annahmen leitet er Gewißheiten ab. Er weiß, dass die Anlagen sicher sind und sicher bleiben werden. Er weiß, dass es sich um einen lokalen Unfall handelt. Er weiß, welche Folgen damit verbunden sind (Japan steuert auf eine Energiekrise zu).
Die Verbreitung dieses Pamphlets ist sehr interessant. Gestern Abend war der Text auf der Webseite des »Europäischen Instituts für Klima und Energie« (EIKE) in der Übersetzung von Helmut Jäger zu lesen (der Original-Link funktioniert derzeit nicht). Vorsitzender des Insituts ist Holger Thuss – ein Forscher, der sich als hartnäckiger Leugner des Klimawandels profiliert hat. Heute nun macht sich – ohne Quellennennung – David Harnasch den Artikel zu eigen und veröffentlicht ihn in der »Achse des Guten«. Es gibt zugegebenermaßen kleinere Veränderungen. So heißt es beispielsweise im EIKE – Artikel »Die Anlage ist jetzt in sicherem Zustand und das wird so bleiben.« Bei Harnasch (Übersetzer unbekannt; dafür Spendenkonto): »Die Anlagen sind jetzt sicher und werden sicher bleiben.« In Zeiten des Guttenberg-Plags sollen andere entscheiden, ob das schon ein Plagiat ist – sicherlich beabsichtigt Harnasch wohl eher nicht, Minister zu werden.
Auch im englischen Original gibt es mehrere Autoren. Hier ist zunächst ein gewisser Barry Brook der Verfasser. Es fehlen lediglich Oehmens Schlußfolgerungen. Auch Brook ist kein Unbekannter. Sein Aufsatz ist auch auf der Webseite »theenergycollectrive« verlinkt, die sich »powered from SIEMENS« gibt. (»The Energy Collective’s mission enjoys the generous support of Siemens Corporation«). Dort schreibt Brook auch Artikel.
Die scheinbar so neutrale Darstellungsweise ist also gesponsert von der Energiewirtschaft. Zum Oehmen-Text wird das Pamphlet erst auf der Webseite »Nuclear Information Hub« des MIT. Den Hinweis auf eine Mitautorenschaft von Barry Brook unterbleibt dort. Bei EIKE ist es immerhin vermerkt. Bei der »Achse des Guten« fehlt sie wiederum.
Wer noch genauer die verschlungenen Wege nachzeichnen möchte, sei diese Webseite empfohlen. (UPDATE: Diese Webseite ist seit 16:45 Uhr »suspended«)
UPDATE 16.03.2011, 18.40 Uhr: Hier ist der Text nochmals kolportiert. Josef Oehmen wird hier als MIT-Wissenschaftler vorgestellt, was nachweislich falsch ist. In einem der Kommentare zweifelt der Herausgeber auch an, dass es einen Tsunami gegeben habe.
sofern ich das verstanden habe, hat Barry Brook allerdings auch nur eine Version des Artikels kopiert, Oehmen ist wohl der Hauptautor.
Allerdings bitte nicht wieder reflexhaft sämtliche Informationen aus dem Artikel ignorieren, das ist schon alles relativ richtig (einfach zu überprüfen weil die AKW-Grundlagen an keiner Stelle über Wikipedia-Wissen hinausgehen, nur halt in einfachere Sprache gefasst), die Risikoeinschätzung ist aber natürlich veraltet.
...wer in diesen Tagen mehr als andere weiß. Irgendwann habe ich mich in die mediale Isolation zurückgezogen – um im Auto das Radio anzuschalten. Dumm. Ich und das, was da kam.
Hast Du dich doch aufgerungen? gd&r
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Man könnte es sich jetzt zur Aufgabe stellen, alle diese Behauptungen zu sammeln, zu belegen und in paar Tagen vorzulegen. Vielleicht mit einer Sammelklage wegen Verniedlichung und zusätzlicher Gefährdung von Menschenleben.
Was mich betroffen macht, ist das Placement an einer MIT-Plattform. Die Updates halten sich ja sehr bedeckt mit Reaktor II, obwohl da sogar die Regierung schon zugegeben hat, dass da das Containment beschädigt ist.
Was doch unmöglich ist, wenn ich den Artikel richtig verstanden habe.
Ich verstehe ja schon, dass die Energiekonzerne solche Meldungen pushen müssen.
MIT könnte man dafür an den Eiern kratzen. Und Oehmen könnte man zumindest als warnendes Beispiel gegen jede Stellungnahme pro-Atom verwenden.
»Ja, ach so! Kann nichts passieren. Am 12. 3. veröffentlicht. Doch etwas passiert. Blöd gelaufen. Sie Arschloch. Sind Sie auch so ein Oehmen?« Wer immer da vis-a-vis sitzt.
Danke für die Hinweise. Erstaunlich, vor allem die Verbreitung.
Naja, erst mal abwarten, wie’s ausgeht.
Interessante Links, danke.
Ich danke Ihnen für diesen Überblick und werde auf meinem Blog darauf gerne hinweisen.
Ich zweifle die sachliche Darstellung gar nicht an – zumal ich kein Physiker bin. Eine Risikoeinschätzung, die mit dem Brustton der Überzeugung jedoch aus der physikalischen Funktion heraus behauptet, es werde nie zu einer Freisetzung von Radioaktivität führen, ist nicht veraltert, sondern schwachsinnig.
Alleine das darüber diskutiert werden muß, wer der »Hauptautor« ist, zeigt doch, wie lächerlich das ist.
Nicht die Strahlung selbst, die austritt, sondern das radioaktive Material ist doch das gefährliche! Im EIKE-Artikel hinter dem obigen Link, der so schön süffisant mit »Nuklearunfall Fukushima – einfach und genau erklärt!« überschrieben ist, wird das für den Laien nach meiner Sicht uneinsehbar verschleiert (Der relevante Abschnitt im Text wurde oben im Text schon zitiert).
Geradezu aufbrausend reagiere ich, wenn ich lesen muss, dass ja die ganzen radioaktiven Materialen nach dem Uranzerfall sehr schnell zu stabilen Elementen zerfallen sollen. Doch in den Brennstäben befindet sich nicht nur Uran-235, das spaltbare Isotop, sondern auch Uran-238, ein nicht spaltbares Isotop, das 99,2745% des in der Natur vorkommenden Urans ausmacht. In Brennstäben ist das U‑235 dann auf 2–4% angereichert (gegenüber dem U‑238). Und letzteres hat als Alpha-Strahler ja »nur« eine Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jahren...
Die folgenden Tochterelemente sind ja auch unerheblich, was sind denn schon 250.000 Jahre Halbwertszeit des Uran-234, des dritten Tochterkernes?
Was meinen Sie wohl, was in den berüchtigten gelben Tonnen in den vermeintlichen Endlagern gesammelt wird? Der radioaktive Rest der Brennstäbe! Und warum sind wir auf der Suche nach einer guten Endlösung, wenn die Zerfallsprodukte schon nach wenigen Sekunden zerfallen sollen? Richtig, weil wir das Uran-238 ausgeblendet haben!
Insbesondere, wenn wir radioaktive Präparate mit der Nahrung aufnehmen, kann das sehr gefährlich werden. Ich erinnere hierbei an den ehemaligen KGB-Agenten Alexander Litwinienko, der im November 2006 mit Polonium-210, auch einem Alpha-Strahler, vergiftet worden ist.
Das Stichwort ist wohl: Astroturfing.
Fefe meint, Siemens steckt dahinter.
Wo Informationen fehlen, haben Desinformation und Verschwörungsthorien Platz gefunden.
Ja, stimmt. Wobei ich nicht immer glaube, dass Informationen immer sinnvoll sind. Manchmal sind zuviele Informatioonen auch Ursprung der Desinformation.
Und in diesem Fall ist auch das Verlangen nach Information und der Druck zu informieren hoch.