Ein Aufbruch in ein neues Leben. Helen und Olav Ostrander, vielleicht irgendwo in den 30ern oder 40ern. Er, früher Inkassoeintreiber im Milieu, der Helen einst vor ihrem Ehemann beschützte, in dem er diesen krankenhausreif schlug. Das war unverhältnismäßig und gab anderthalb Jahre Gefängnis. Aber da schworen sich die beiden schon Treue, heirateten und als er aus dem Knast kam, musste Helen noch mal kurz weg. Sie kam zurück mit dem unverhofften Erbe des Onkels. Es muss viel Geld sein. Sie sahen im Internet in einem fernen, warmen, fiktiven Land (Karibik? Afrika?) ein Haus auf einer vorgelagerten Insel. Nein, es ist mehr als ein Haus, ein Traumhaus. Der neue Anfang. »Geld war das Material, mit dem sich die Existenz panzern ließ, war fast schon eine Droge gegen den Tod.«
So beginnt »Mondbeben« von Ludwig Fels. Fast ein bisschen wie diese Doku-Soaps über Auswanderer, die ihr Glück in fernen Ländern suchen. Aber es wird dann doch eher ein David-Lynch-Film. Helen und Olav sind ein bisschen wie Lula und Sailor – und doch ganz anders. Ihr schnippischer Dialogstil verbirgt nur oberflächlich die Sehnsucht, es geschafft und den richtigen gefunden zu haben. Der Rest des Lebens soll sorglos werden. Und so sind die gegenseitigen Beschwörungen des Glücks besonders am Anfang inflationär, immer wieder Versicherungen »wie schön dies geheime Glück war«, nämlich »zum Verrücktwerden schön«, denn »bald würden die Sterne ihre Lieder singen«.
Und dennoch schwingt von Anfang an so ein unheilvolles Gefühl mit. Sorge, dass es nicht so wird. Sicher, Olav trinkt ein bisschen zu viel, seine Hände zittern bisweilen. Die Hitze ist fast unerträglich und es ist das Land mit den weltweit größten Ratten. Als er im Hotel-Resort »Rosemilk«, in dem die beiden bis zum Bezug des Hauses untergebracht sind, der Prostituierten Assumpta, die von einem Gast geschlagen wird, hilft, bekommt der schöne Schein erste Risse. Der Vertreter der Immobilienfirma (der Mr Moses heißt – überhaupt: diese Namen!), ist Olav unsympathisch und er lässt es ihm auch anmerken. Helen ist ruhiger, möchte ihren Frieden. Ominös die Instruktionen zum Geldtransfer; der ihnen vorgestellte »Notar« wirkt halbseiden. Helen zahlt trotzdem. Und das Drama beginnt.
Dann prügelt sich Assumpta mit Helen, die dadurch schwer am Auge verletzt wird. Man besucht den Inselarzt, Dr Chalie (auch hier kein Punkt!), ein Zyniker, der sich in der einen Nacht, in der Helen zur Beobachtung im sogenannten Krankenhaus liegt, angeblich an ihr »reibt«. Der geplante Ausflug auf das Festland zur internationalen Klinik am nächsten Tag kann nur unter Aufbietung horrender Bestechungssummen stattfinden, da im ganzen Land bewaffnete Unruhen ausgebrochen sind. Aber die Klinik ist geschlossen. Schrecklich zugerichtete Leichen stapeln sich in den Straßen; das Gras färbt sich rot.
Der Geldempfänger ist nicht erreichbar, um den Erhalt zu bestätigen. Man wartet, schaut auf einem permanent defekten Schwarzweißfernseher im »Rosemilk« ominöse Fußballspiele wie Tschad gegen Panama oder Madagaskar gegen Tasmanien. Immerhin erlaubt die Immobilienfirma, dass Olav und Helen schon in das Haus einziehen dürfen. »Womöglich würde heute der schönste Tag ihres Lebens sein«, heißt es. Aber man ahnt: Er ist es nicht. Es gibt keinen Strom und kein Wasser, das Haus ist leer, das Gras verdorrt, der Swimmingpool leer und verdreckt mit Kot von denen, die dort vorher gehaust haben. Olav trinkt ohne Ende, pinkelt rote Tröpfchen, Helen ist verletzt am Auge, das Geld ist verschwunden und die Inselpolizei ist keine Hilfe; im Gegenteil. Die Immobilienfirma verlangt Miete und Kaution für das Haus. Sie hängen mit der Polizei zusammen. Marodierende Kinderbanden in der Umgebung.
Alles ist schmutzig, die Menschen verroht, »Zeit ist nur ein Abgrund zwischen den Träumen«. Wie kann man hier sein Glück suchen? »Sie gaben das in die Jahre gekommene Ehepaar«, heißt es einmal, »das weder Kosten noch Mühen scheute, gut zu leben und, so lange es ging, an die Wunder der Hoffnung zu glauben, also daran, daß alles so lange anhielt, bis es der Ewigkeit in die Falle ging«. Aber sie können diese Rolle nicht spielen. Für die Einheimischen sind sie keine Gäste, sondern Eindringlinge, die nur des Geldes wegen vorübergehend geduldet sind.
Als die Aufstände niedergeschlagen sind, ergreift Helen die Gelegenheit, nach Hause zu fliegen. Sie will sich dort behandeln lassen. Olav trifft sie noch am Flughafen, sie winkt ihm, als hätten sie sich verabredet. Es ist die rührendste, ergreifendste Szene im Buch. Helen will ihn überreden mitzukommen, aber Olav bleibt. Ein trotziges Durchhalten: »Nur darum ging es: Flüchten oder Standhalten, Erinnern oder Vergessen, Bleiben oder Gehen, Werden oder Vergehen, ein andauerndes Entweder-Oder und Jetzt oder Nie, nur darum ging es, aus seinem Leben etwas zu machen, etwas, wozu man keine anderen braucht.« Maxime eines Unglücklichen.
Wem etwas beweisen? Sich selber? Wozu überhaupt? »Nach der Angst gab es nur noch den Tod.« Einer dieser Sätze, die wie Einschläge wirken. Spät erfährt man von Svyra, Olavs Tochter mit einer anderen Frau, die früh an Krebs starb. Die letzten Worte, die das Kind hörte, war ein Streit der beiden Eltern. Jetzt weiß man, warum Olav keine Kinder mehr möchte.
Olav, einsam, krank und »waffenlos«, ertränkt sein sichtbares Scheitern in Unmengen Alkohol. »Ich habe keine Angst, ich fürchte mich nur…« sagt er einmal. Er wird drangsaliert von der Polizei, man feiert Partys in dem Haus, will ihn erpressen mit Assumpta und deren kleiner Tochter, an der er sich angeblich vergangen haben soll. Man lässt ihn bezahlen. So »verkauft« ihm die Kinderbande einen Affen, dem sie vorher die Hände abgehackt hatten. Irgendwann taumelt Olav mit einem Eimer, in dem das verstörte Äffchen mehr vegetiert als lebt über die Insel und es könnte eine Szene von Beckett sein aber eben ganz ohne Ironie.
Fels schwingt sich nicht zum moralischen Richter über seine Personen auf. Olavs durch das intensive Trinken gestörter, bisweilen dann verblüffend differenzierter, fast synästhetischer Wahrnehmungsapparat und die Demütigungen und Erpressungen der lokalen Inselbewohner, die allesamt nur nach Geld gieren, stehen nebeneinander. Dr Chalies Opportunismus scheint die einzige Überlebensmöglichkeit zu sein. Der Leser möchte sich abwenden, kommt sich wie ein Eindringling vor, wie ein Voyeur des Unglücks. Aber es entsteht eine Spannung, besonders als Helen wieder zurückkommt, mit Augenklappe. Und es kommt zu einem Showdown am Flughafen, dessen (ein bisschen enttäuschendes) Ende hier aber nicht verraten werden soll.
Was ist »Mondbeben«? Eine Parabel? Ein Lehrstück? Von allem etwas? Es kann bisweilen eine Stärke sein, dass sich eine Prosa nicht sofort kategorisieren lässt. Das die Fragen im Verhältnis zu den (vermeintlichen) Antworten überwiegen. Alles in der Schwebe bleibt. Und das einem die Personen so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen. Auch wenn das Buch schon längst im Regal steht.