Eine »feine Säure« ist da in der Luft. Und ein »Leises Brummen«. Unaufhörlich. Es regnet »Industrieschnee«. Regelmäßig gibt es Probealarm. Nein, nicht irgendwo im Ruhrgebiet – es ist Frankfurt, der »Industriepark«; ein Chemiepark. Dort wohnt eine (nahezu) namenlos bleibende Ich-Erzählerin, von der man nur den ersten Buchstaben des »K‑Namens« erfährt (»Frau A—«) und vernimmt, dass das »I« in ihrem Vornamen lange gesprochen wird. Geboren ist sie nach allem, was man sich zusammenlesen kann, Ende der 1980er Jahre. Die Mutter ist Türkin, die sich irgendwann aus einem »Fünfhundert-Seelen-Dorf an der Schwarzmeerküste« aufgemacht hat. Der Vater Deutscher. Er hat 40 Jahre 40 Stunden die Woche Aluminiumbleche in Laugen getaucht. Die Tochter kommt zu Beginn des Romans zu Besuch, man ist in der unmittelbaren Gegenwart. Sie wird fast erschlagen vom Rauch, der in den Räumen steht. Eine »ängstliche Teilnahmslosigkeit« macht sich in ihr breit. Die Mutter ist »gegangen«, aber das erfährt man erst viel später. Sophia und Pikka, die Freunde seit der Schulzeit, heiraten. Das ist der Rahmen für Denis Ohdes Erstling.
»Streulicht« ist ein Bildungsroman in doppelter Bedeutung: Ein Roman über das Bildungswesen in Deutschland (genauer: in Hessen) und damit eben auch über Vorurteile und Diskriminierungen, die subkutan präsent sind und bisweilen mit erschreckender Ehrlichkeit ausgesprochen werden. Denn die Ich-Erzählerin ist zwar formal Deutsche. Für viele und eben auch für Lehrer (und auch Lehrerinnen) ist sie jedoch eine Türkin, die es geschafft hat (oder, später dann, eben auch nicht). Und es ist auch ein nahezu klassischer Bildungsroman über die Formung eines Menschen durch und mit Bildung und über die Schwierigkeit eines Aufstiegsversprechens, aber das ist nicht nur die Schuld der anderen, sondern auch ein wenig die der Erzählerin.
Es wird rückblickend weitgehend chronologisch erzählt; nur manchmal gibt es Zeitsprünge, die allerdings mühelos zu bewältigen sind. Der Ton ist melancholisch, nie sentimental, bisweilen anklagend und auch schon einmal selbstanklagend. Die Erzählerin bewegt sich in einem engen, fast hermetischen Kosmos. Übermässig viele Sozialkontakte hat sie nicht. Bis auf flüchtige Bekanntschaften bleiben nur Sophia und Pikka als Freunde.
Eine Abrechnungs- oder gar Wutprosa ist »Streulicht« nicht. Das läuft subtiler, mit intensiven, bisweilen surrealen Stimmungsbildern, die die Tristesse (wenn der Ort Protagonist ist) oder die Verzweiflung (bei Menschen) nicht verbergen, sondern, paradox genug, erstrahlen lassen. Später, als sie zum Studium in einer fremden Stadt wohnt, vermisst sie all die Unzulänglichkeiten ihres Heimatortes und dann kommt einem die Genügsamkeit des Vaters in den Sinn, dass man »hier« doch »alles« habe.
Überhaupt die Erzählungen der Personen. Da ist der Vater mit einem fast Messi-ähnlichen Desorganisationsproblem – er kann nichts wegwerfen, kauft alles Mögliche, auch Ramsch. Dabei dann dieser »leidende Ausdruck im Gesicht«. Zweimal sei die Familie im Krieg ausgebombt worden – als sei es eine nicht korrigierbare Erbkrankheit. Wie auch die Phasen übermäßigen Alkoholkonsums mit bisweilen klirrendem Geschirr und Streitereien mit der Mutter. Diese wird als tatkräftig, hilfsbereit und lebensklug beschrieben; ein (organisatorischer) Wirbelwind. Als sie nach einem heftigen Streit kurz die gemeinsame Wohnung verlässt und sich separiert, kommt sie zwei, dreimal die Woche als Hilfe zum Haushalt für ihren Mann und dessen Vater, der im Erdgeschoss wohnt und ansonsten nichts mehr macht. Immer wieder kommt die Erzählerin mit spröder Zärtlichkeit auf Vater und Mutter zurück, versucht, ihnen gerecht zu werden.
Der Tod der Mutter wird als ein »Weggehen« erzählt. Ergreifend die Schilderung ihres letztes Ganges aus dem Haus: »ich sehe sie die Treppenstufen hinuntergehen und in einen grauen Schleier hinter sich herziehen; sie ließ das Licht brennen, obwohl sie wusste, dass es von allein nicht ausging. Es war die logische Konsequenz, eine letzte Reaktion auf die Zugkraft, die sie immer wieder zurückkehren ließ, damit sie Milchkartons brachte, die Pfandflaschen einsammelte, Vitamintabletten auflöste für sich und meinen Vater…und ihm die Stirn wischte wie eine Kriegskrankenschwester.« Sie wird nicht mehr zurückkommen.
Formal ist die Familie Mittelschicht, aber der Vater hat seinen »Arbeiterstolz«. Und Sophia, ihre Freundin? Nach der Schule beschäftigt sie sich mit Reitstall, Ballett und Kirche. Sophias Mutter strahlt ein »sicheres Frausein« aus, alles in ihrem Haus ist an seinem Platz. Mehrmals fragt man sich als Leser, wie die beiden Mädchen überhaupt befreundet sein können, so bisweilen abschätzig redet Sophia über ihre Freundin. Auch das alles nicht böse, aber nadelstichartig und daher fast noch verletzender. Immerhin: Einmal rächt sich die Erzählerin und klaut Sophia eine kleine Figur aus ihrem Schulranzen, eine Hexe. Es wird nicht aufgelöst, ob dies jemals herauskommt.
Der Roman mäandert irgendwann in das hessische Bildungssystem der 1990er Jahre. Die Erzählerin ist eine mittelmäßige Schülerin, geht aber – weil es die Mutter durchgesetzt hat – zum Gymnasium (der Vater ist fassungslos, denn er glaubt, da gehöre die Tochter nicht hin). Sie ist schockiert über das von den Lehrern vermittelte Bild einer »Elite«, die sie nun (zusammen mit Sophia und Pikka und den anderen) repräsentieren soll. Nach einigen Jahren wird noch einmal »ausgesiebt« und es entscheidet sich, wer Abitur machen darf und wer zurück muss in eine andere Schulform.
Tatsächlich fällt sie durch (als einzige, so wird suggeriert) und verfällt für Monate in Lethargie. Statt Stundenplan bestimmt der RTL-Sendeplan ihr Leben. Die Eltern lassen sie gewähren. Gibt es überhaupt ein Bildungsversprechen? Oder gilt dies nur für eine bestimmte Klasse? Wie sind die despektierlichen Bemerkungen der Lehrer zu verstehen? Es wird von einem Elternabend erzählt, bei dem der Vater mit dem Klassenlehrer für exakt 15 Minuten zusammenkam. Der Vater, ohnehin überfordert, glaubt seinen Ohren nicht zu trauen: die gesamte Zeit redet der Lehrer schwärmerisch über Sophia – so als wüsste er nicht, mit wem er gerade zusammensitzt.
Bezeichnend für die Familie, nein, für Vater und Tochter die Reaktion darauf: keine. Immer wieder erwischt sich die Erzählerin dabei, wie sie schweigt, die kleinen (und größeren) Gemeinheiten erträgt. Mit 12 muss sie trotz starker Menstruationsschmerzen am Sportunterricht teilnehmen. Das Ergebnis ist demütigend; die Schilderung prägt sich ein. Und als sie Jahre später über die Abendschule doch noch auf dem Gymnasium die Möglichkeit zum Abitur erhält, bekommt sie eine geringere Anzahl von Punkten als ihr eigentlich nach dem Resultat zustehen würde. Der Grund: weil sie fünf Jahre älter sei als ihre Mitschülerinnen und schon mehr wissen müsste. Und es ist typisch, dass sie auch für diese Lehrer irgendwie Verständnis aufbringt, deren mit der Zeit verlorenen gegangenen Ideale herbeiphantasiert, die im Betrieb eben »breitgetreten« wurden bis zum Verschwinden.
Nein, nicht alle LehrerInnen sind schwach oder schlecht. Es gibt schon welche, die sie ermutigen – besonders an der Abendschule. Hier sind ihre Leistungen exorbitant gut und sie sticht heraus aus denen, die von Amts wegen erscheinen sollen – und keine Lust haben. Von 30 Schülern zu Beginn bleiben 10 übrig. Immerhin fällt bei einigen der Groschen, weil es Perspektiven gibt.
Sie muss zu einem Bewerbungsgespräch zum Gymnasium, um das Abitur sozusagen verspätet machen zu können. Vier, fünf Jahre hat sie »verloren«, aber in 15 Monaten Abendschule nachgeholt. Sie wird genommen, kleidet sich jünger, damit der Altersunterschied nicht so auffällt. Warum sie mit Hilfe ihrer Freunde in das Archiv der Abendschule mit ihrer Schulakte als Beute einbricht, bleibt ein Rätsel.
Bisweilen pflichtet man Sophia und Pikka bei, die ihrer Freundin eine allzu große Empfindlichkeit attestieren. Etwa wenn eine Lehrerin fragt, warum sie so gut Englisch könne. Es wird sofort als ein versteckter Affront gewertet; sie fühlt sich, als müsse sie sich verteidigen. Die Möglichkeit des ehrlichen Wunderns bei der Lehrerin kommt ihr nicht in den Sinn. Wo ihr Vater kompensatorisch alle möglichen Dinge anhäuft bzw. aufhebt, da sucht die Erzählerin nach Indizien, die ihr (und des Vaters) Urteil bestätigen sollen, dass sie eigentlich nicht dazugehört. Hinzu kommt ihr Gehemmtsein durch einen überbordenden Perfektionismus – auch dies teilt sie mit ihrem Vater. Sie entwickelt ritualisierte Handlungen: »Mein Gelingen war abhängig von minimalsten Abweichungen, von einmaligen Ereignissen, davon, wie ich meine Stifte hielt und ob ich meine Augen weit genug aufmachte, davon, ob ich die richtige Haltung hatte, schon bevor ich das Schulgebäude überhaupt betrat; ob ich meine Schultern zurücknahm und mit erhobenem Kopf ging.«
Es sind bisweilen Komplexe, die sie vor der vermeintlichen Macht des Faktischen kapitulieren lassen. Das äußert sich gelegentlich sogar in Selbsterniedrigungen, etwa wenn sie sich mit Pikka vergleicht: »Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren; geboren aus Kochsalz in der Luft, das sich auf die Autodächer legte. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus den Flusswiesen und den Bäumen zwischen den Strommasten, aus dem dunklen Wasser, das an die Wachersteine schlug, einem Film aus Stickstoff und Nitrat, nicht Gischt.«
Je mehr die Erzählerin Figuren als sozial höherstehend einstuft, desto unschärfer und klischeehafter werden sie geschildert. Deutlich wird dies, als sie in einem studentischen Ferienjob in einer Reinigungskolonne in einer Rechtsanwaltspraxis aushilft. Die Angestellten trudeln zunächst locker ein, setzen sich an ihre Schreibtische und unterhalten sich. Dann hört man eine »tiefe Stimme« »Guten Morgen!« rufen. Der Chef tritt ein und sofort verwandeln sich die Mitarbeiter, »stoben auseinander wie aufgescheuchte Tauben«, raffen ihre Papiere zusammen und ziehen die Köpfe ein. In diesem Köpfe einziehen mag man auch bisweilen die Verhaltensweisen der Protagonistin erkennen. Da ist ihrem Vater ähnlich, der in übergroßer Bescheidenheit verhaftet ist – schon Essen mit Stoff- statt Papierservietten lehnt er als für ihn unpassend ab.
Grundsätzlich ist der Erzählerin die Masse, die Mehrheitsgesellschaft, suspekt. Seismographisch nimmt sie xenophobe Strömungen wahr (die die Mutter verharmlost), entdeckt zum Beispiel diffamierende Darstellungen von türkischen Frauen im Fernsehen, die nur in bestimmten Settings gezeigt werden (Kopftuch, von hinten, mit Einkaufstüten) – und bezieht dies auf sich selber. Es ist die Zeit des Ministerpräsidenten Roland Koch. Sogar auf der Universität wird sie aufgrund ihres Namens von einer Dozentin als »Erasmus-Studierende« eingeordnet. Sie fühlt sich fremd, weil sie zur Fremden erklärt wird, möchte aber doch dazu gehören. Als ein Fremder sie einmal fragt, wie man eine Fahrkarte im Nahverkehr am Automaten einkauft, ist sie stolz, es ihm zu erklären, weil ihr dies das Gefühl vermittelt, »von hier« zu sein. Zur Abendschule geht sie mit einer Tasche der Wochenzeitung »DIE ZEIT« und hat das Blatt auch abonniert. So möchte sie herausstechen.
Denn Sophia und Pikka mit ihren Oberflächlichkeiten sind keine Vorbilder. Sie imaginiert, wie sie an der Uni mithalten müsste mit ihren Freunden, mit »Pferdeschwanz« und Witzen über eine Professorin mit Spitznamen oder nur einem »die« statt des Nachnamens. Nach dem Studium dann Häuschen, Spießerhölle mit Longbob, nach Jahreszeiten sortiertem Nagellack, Sommerfest-Engagement, »Markise im Rücken« nebst Thujahecke und Rindenmulch.
Obwohl das Paar sie mehrmals bittet zu bleiben, zieht sie weg, in eine andere Stadt und studiert dort. Hier trifft sie trotzdem auf diese hochmütig-selbstgewissen Mittelschicht-»Studierenden« aus 68er Elternhäusern. Ihren sorgfältig konstruierten Tagesplan gibt sie auf. Sie verliert sich abermals, unterlässt zum Beispiel die Suche nach den anscheinend wichtigen Praktika. Wie dünn der Firnis der sozialen Akzeptanz auch in diesem vermeintlich progressiven Uni-Soziotop ist, zeigt sich bei Lukas, ihrem ersten Freund, der ihr suggeriert, sie habe sich mit ihrem Abitur »angebiedert«.
»Streulicht« erinnert streckenweise an die meist desillusionär-resignativen Romane der Neuen Subjektivität der 1970er Jahre. Vielleicht könnte man bei Deniz Ohdes Roman besser von einer Mischung aus Sozial- und Befindlichkeitsprosa sprechen. Die Ich-Erzählerin (die man – Standardspruch auch bei deutlichen Parallelen – nicht mit der Autorin verwechseln sollte) pendelt zwischen Hypersensibilität, Kleinmut (im Außenverhältnis) und (innerer) Idiolatrie. Sie ersehnt Partizipation und braucht gleichzeitig Distanz. Eine Balance zwischen diesen Polen kann sie nicht finden. Bildung bietet weder Befriedung noch Befriedigung, sie findet fast immer nur additiv und mit einem bestimmten Ziel statt. Diesem Ziel, die soziale (und ökonomische) Integration, steht sie ablehnend gegenüber. Insofern findet keine bildungsromanähnliche Wendung statt.
Nach der Hochzeit ihrer Freunde verlässt die Erzählerin fluchtartig ihre ehemalige Heimat und lügt ihren Vater an, dass es ein plötzlich anberaumtes Bewerbungsgespräch gebe (merkwürdig, auch der Protagonist in einem ganz anders situierten Romansetting tritt fast überhastet die Abreise von seinen Eltern an). Der Vater bleibt mit den frisch gekauften Erdbeeren alleine. Das Buch ist aus. Das Leben geht weiter. Aber wie? Eine kleine Andeutung scheint es zu geben: Bei ihrer Rückkehr bemerkt sie die Hinfälligkeit der Mitbewohner im Haus, in dem der Vater wohnt und zwar inklusive der Hunde (einer davon hatte sie als Kind gebissen). Es ist diese Beschreibung des absehbaren Endes der Protagonisten, die man womöglich als Analogie zum nahenden Ende einer gesellschaftlichen Epoche ansehen könnte.
»Streulicht« macht auf weitere Erzählungen dieser Schriftstellerin neugierig.
Der Roman Streulicht von Deniz Ohde in – Ihrer Wiedergabe, Gregor Keuschnig – - erscheint als Leitfaden zur Herstellung von Unglück. Unglück ist freilich nichts besonderes – jede Frau ist frei, unglücklich zu sein. Und, das wird in Zeiten, in denen man zwischen öffentlich und privat und zwischen Politik und Therapie nicht mehr hinreichend unterscheidet, leider oft nicht deutlich gesagt – Unglück ist keine Tugend. Es ist auch nicht per se interessant. Diese fehlende Eigenschaft teilt es mit dem ihm eng verwandten Ungeschick.
Ich muss grandios gescheitert sein, denn um »Unglück« oder Unglücklich-Sein geht es in dem Roman nun wirklich nicht.
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