Ein Buch von 106 Seiten soll ein »Roman« sein. So steht es immerhin auf dem Cover zu Eduardo Halfons »Duell« (Übersetzung von Luis Ruby). Es zeigt zwei Jungen, scheinbar gleichaltrig, die etwas in der Ferne in Augenschein nehmen. Es wird nicht das erste Mal sein, dass ich, nachdem ich das Buch gelesen hatte, ins Rätseln komme.
Halfon macht keinen Hehl daraus, dass der Ich-Erzähler er selber ist. Mal ist er zehn (die Eltern ziehen mit ihm und seinem Bruder von Guatemala in die USA), dann 13 oder 14. Immer wieder gibt es diese Erinnerungssplitter in die Jugend. Den Rahmen bildet eine Reise als vielleicht 40jähriger zurück nach Guatemala, dem Ort seiner Großeltern. Er ist etwas auf der Spur, dass ihn nicht mehr los lässt: Ein Foto von Salomon, einem kleinen, kränklichen Jungen, ein Bruder seines Vaters. Er meint sich an die Gerüchte zu erinnern, dass er tragisch in einem See in Guatemala ertrunken sein soll. Aber niemand will das bestätigen. Wen er auch fragt – alle streiten ab, dass es dieses Ereignis je gegeben hat. Der Junge auf dem Bild sei damals nach New York gekommen, zu einer Behandlung. Und dort verstorben.
Erschwert wird die Suche weil der Name Salomon in der umfangreichen Familie Halfons in jeder Generation mindestens einmal vergeben wurde. Und dann ist die Familie überall verstreut. Einst in Europa, eine Linie kommt aus dem Libanon, leb(t)en sie nun in den USA, Mittel- oder Südamerika, Osteuropa, Südfrankreich. Wo anfangen? Wo suchen?
Hätte man nicht das Buch in der Hand würde man an einen Plot für einen 500 Seiten-Roman denken. Tatsächlich gelingen dem Erzähler in wenigen Sätzen die Schicksale der, wie man rasch bemerkt, jüdischen Familienmitglieder beschwörend zu verdichten. Er besucht (widerwillig) Deutschland (»Ich hatte in Deutschland schon zu viel gesehen«), spürt in den Archiven eines Konzentrationslagers seinem Großvater nach, der schließlich Zwangsarbeiter in einer Flugzeugfabrik wurde und wie durch ein Wunder überlebte (immerhin weiß er jetzt dessen Enthusiasmus beim Anblick eines alten Flugzeugs im Museum zu erklären). Der kleine Eduardo entdeckt eintätowierte Nummern auf Armen. Der Erwachsene erkundet, dass ein Bruder des Großvaters 1944 im Getto in Łódź verhungert ist. Er erzählt von Lydia, einer Schwester des Großvaters, die in den USA ein Textilgeschäft betreibt. Es gibt einem Onkel, der als Heiratsschwindler Karriere macht. Immer deutlicher wird: Über den in seiner Erinnerung heiteren Familienzusammenkünften liegen bisweilen furchtbare Schicksale, die ausgespart, ja: verschwiegen werden. Je mehr er erfährt, desto neugieriger wird er.
Am Ende sucht Eduardo eine Schamanin auf, die ihn in Trance versetzt und dann über mehrere Seiten litaneiartig von all den ihm (und dem Leser) unbekannten Kindern erzählt, die irgendwann in der Gegend einmal ertrunken sind. Es ist kein Salomon dabei. Aber plötzlich ist sie da, die Erinnerung an die Rede des Vaters, vor vielen Jahren, die eine Erklärung liefert und man fragt sich, warum er sich nicht eher daran erinnert hat. Und während man sich das fragt, weiß man die Antwort.
Die Kindheits- und Jugenderinnerungen werden in bukolischer Nüchternheit erzählt. Die Episoden im gegenwärtigen Guatemala ähneln hingegen einem Märchen. Bisweilen gelingen Szenen von großer Kraft und Schönheit. Die Versuche, die politische Lage in Guatemala noch mit in den kleinen Roman unterzubringen, wirken allerdings etwas gezwungen.
Vielleicht ist es ein Fehler, wenn man Halfons »Der polnische Boxer«, in Deutschland 2014, sechs Jahre nach Erstpublikation der spanischen Ausgabe, nicht gelesen hat. Anscheinend ist »Duell« eine Art komprimierte Fassung oder zumindest ein Seitenarm des großen Plots. Womöglich sind alle Bücher von Eduardo Halfon Variationen eines Themas: dem, seiner weitverzweigten Familie, deren Schicksale und Geheimnisse nachzurecherchieren. Als deutscher Leser ist es schwer zu beurteilen: es gibt nur vier Übersetzungen; das Œuvre umfasst jedoch rund ein Dutzend Bücher. »Duell« erscheint nicht nur aufgrund seines geringen Umfangs als Zwischenwerk. Der Verlag sollte schnell die anderen Bücher übersetzen und den Lesern dieses Werk dann vollständig präsentieren. Es dürfte sich lohnen.