»Der kommende Aufstand« im Spiegel des modernen Anarchismus
Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt 1989/90 kam es in vielen Regionen zu politischen, ethnischen, sozialen oder ökonomischen Konflikten. Aus den Residuen der Stellvertreterkriege entwickelten sich mitunter Bürgerkriege, die mit äußerster Brutalität geführt wurden und oftmals jeglicher Kontrolle entzogen waren. Dies zum Anlass nehmend, formulierte Hans Magnus Enzensberger 1994 seine »Aussichten auf den Bürgerkrieg« als ein globales Phänomen, welches entweder weit entfernt in Afrika oder Asien verortet wurde oder in Europa lokal begrenzt blieb (bspw. Baskenland oder Nordirland) bevor es mit den jugoslawischen Sezessionskriegen mit voller Vehemenz in das europäische Wohnzimmer einbrach. Enzensberger machte auch in den westeuropäischen Nationen Nester dieses »molekularen Bürgerkriegs« aus, konstatierte aber eher vorsichtig: »Man kann sich fragen, wie ernst der Gewaltkult der europäischen Avantgarden zu nehmen ist. Ihre Provokationen zeugen nicht nur von einem tiefen Haß auf das Bestehende, sondern auch von einem ebenso tiefen Selbsthaß. Wahrscheinlich dienten sie auch der Kompensation eigener Ohnmachtsgefühle und der Abwehr eines Modernisierungszwanges, der ihre Geltungsansprüche bedrohte.« Süffisant ergänzte er noch: »Außerdem wird man die Neigung zur Pose in Rechnung stellen müssen…«
Enzensberger hatte damals hellsichtig die globalen Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus vorweggenommen. Die wachsenden Unzufriedenheiten an und in den repräsentativen Demokratien Europas, die sich beispielsweise in den Unruhen in den Pariser Banlieues von 2005 zum ersten Mal in größerem Ausmaß zeigten, konnte er jedoch unmöglich vorhersehen. Diese Unruhen haben 2007 einige Autoren zu einer grundlegenden Schrift inspiriert, die den »kommenden Aufstand« nicht nur beschreibt, sondern in einem eigenartigen Stil zwischen Zynismus, Hochmut und Kälte logistische und bellizistische Anweisungen verbreitet. 2009 wurde das Buch um die Kommentierung der Ereignisse in Griechenland 2008 ergänzt. Diese Neuauflage liegt nun in der deutschen Übersetzung von Elmar Schmeda bei »Nautilus« vor.
Konspiration und Camouflage
Die Konspiration, die als essentiell für diese Form der politischen Auseinandersetzung beschrieben, ja beschworen wird, zeigt sich schon in der Benennung des Verfassers, die eine medial gelungene Anonymisierung darstellt: Ein »Unsichtbares Komitee« probt da den Aufstand. Nun kann entsprechend gerätselt werden, wer hinter dem Pamphlet steckt. Dabei dürfte es sich kaum um unterprivilegierte Transferleistungsempfänger oder die zornigen Jugendlichen von 2005 handeln. Auch die Terroristen des 11. September waren ja keine in Armut darbenden Unterdrückten. Diesen war lediglich die Claqueur-Rolle zugeschrieben.
Die Sprache des Buches camoufliert sich entweder aufgesetzt unintellektuell oder es handelt sich bei den Autoren um schlichte Gemüter. Rezensenten, die da eine neue linke Programmatik herauslesen und/oder eine intellektuelle Auseinandersetzung loben, haben ihre Projektionen gelesen, aber nicht dieses Buch. In Wirklichkeit wird kaum auf philosophische oder politische Werke Bezug genommen. Prominente Referenzen (beispielsweise die russischen Anarchisten oder auch Foucault) unterbleiben. Stattdessen werden Politikeraussagen aus dem Fernsehen erwähnt und zitiert. Der Aufständische als Couch-Potato – so ändern sich die Zeiten.
Existenz statt Leben
»Der kommende Aufstand« kommt zunächst als Anamnese der Gesellschaft in sieben Kreise[n] (Kapiteln) daher. Die Grundstimmung ist resignativ bis depressiv. Dabei überrascht, wenn einmal fast trotzig postuliert wird: Wir sind nicht deprimiert, wir streiken.
Die Erkenntnisse selber sind nicht neu. Die politischen Institutionen werden mit den sozialen, ökonomischen und ökologischen Problemen nicht mehr fertig. Die Politikkaste bildet eine Art Staat im Staate und hat es längst aufgegeben, die Wirtschaft zu bändigen oder zu zähmen. Sie besteht aus Hampelmännern, die sich im Palaver ergehen. Der Parlamentarismus wird zu sechzig Jahren demokratische Anästhesie erklärt. Ein Jahrhundert lang, so in fossilem Duktus, habe die Demokratie…bei der Hervorbringung faschistischer Regime den Vorsitz geführt. Das Volk wird derweil mit Konsum und allerlei Ablenkung ruhiggestellt. Wo dies nicht mehr funktioniert, werden die Bullen eingesetzt oder gleich die Armee. Dabei ist nicht die Gesellschaft in der Krise – die Krise ist diese Gesellschaft. Und Krise ist – Krieg.
Die Gegenwart ist ausweglos – dies ist die Quintessenz, die bereits im ersten Satz vorweggenommen wird (es wird nicht entwickelt, sondern deklamiert). Der Wohlfahrtsstaat wird in Anführungszeichen gesetzt; seine Auswirkungen sind furchterregend. Die Menschen wurden ihrer Sprache enteignet durch den Unterricht, unserer Lieder durch die Schlagermusik, unserer Körperlichkeit durch die Massenpornografie, unserer Stadt durch die Polizei, unserer Freunde durch die Lohnarbeit. Statt zu leben existieren sie nur noch. Immer wieder setzt das Komitee die als mechanisch und oktroyiert empfundene Existenz einem nicht näher definierten freien Leben gegenüber (Hobbes’ Naturzustand?). Die Gesellschaft besteht nur noch aus Patienten, die zusammen zittern. Auch die Prothesen des Ich, der Individualismus, vermögen dies nicht aufzuhalten. Im Gegenteil: Der dumme Glaube an die Dauerhaftigkeit des Ichs verstärkt nur noch unser Gefühl der Haltlosigkeit. Der Individualismus soll nicht gezähmt, sondern abgeschafft werden. Gegeißelt wird die grausame…Individualisierungsarbeit einer Staatsgewalt, die von der Schule an ihre Subjekte benotet, vergleicht, diszipliniert und trennt.
Natürlich assoziiert man anarchistisches Gedankengut – sowohl was die Diagnose angeht als auch im dann entwickelten Aktionismus. Schnell erkennt man allerdings die erste fundamentale Differenz zum Großteil des zeitgenössischen politischen Anarchismus. Der israelische Aktivist Uri Gordon hat in seinem in diesem Jahr ebenfalls bei »Nautilus« erschienenen Buch »Hier und Jetzt« die unterschiedlichen Strömungen aktueller anarchistischer Bewegungen behandelt. Dabei steht der Individualismus in nahezu allen Strömungen gar nicht zur Disposition (es sei denn, er richtet sich gegen andere Individuen). Und in einem anderen Punkt unterscheidet sich die Schrift auch von den gängigen Bewegungen: die umfassende, globale, über Internet oder andere Kommunikationsmedien mögliche Vernetzung untereinander – für Gordon ein wichtiges »anarchistisches« Kriterium – wird in der französischen Aufstandsschrift abgelehnt. Zu gefährlich sei das Risiko des Aufspürens und Enttarnens. Man favorisiert das gute »alte« private Treffen, möchte keinen zentralistischen Überbau, will Milieus meiden (sie sind alle konterrevolutionär, weil ihre einzige Beschäftigung darin besteht, ihren schlechten Komfort zu bewahren), lehnt herkömmliche Organisationsformen ab (Organisationen sind ein Hindernis dabei, sich zu organisieren) und plädiert stattdessen für offensive Komplizenschaften. Das Komitee präferiert kleine, zellartige Strukturen, die – oh Wunder – Kommune genannt werden. Sie bestehen aus »Partisanen«, die natürlich im Krieg sind. Dann möchte man auch wieder die verschmähte Macht: Alle Macht den Kommunen!
Die einzelnen Kommunen bzw. deren Mitglieder sind in den sozialen Interaktionen den islamistisch-terroristischen Schläfern nicht unähnlich. Sie sollen sich mit lokaler Sozialhilfe und einem angelegten Gemüsegarten für einige Zeit tarnen. Letzteres trägt zur von einem Staat unabhängigen, autarken Versorgung bei und führt zum »autonom werden« als erste Stufe der sozialen Subversion. Dies bedeutet lernen, auf der Straße kämpfen, sich leere Häuser anzueignen, nicht zu arbeiten, sich wahnsinnig zu lieben und in den Geschäften zu klauen. Wirft ein Beruf nützliche Erkenntnisse für die Partisanentätigkeit ab, ist auch dieser gestattet. Sportliche Aktivitäten wie Boxen sind auch sinnvoll (Boxeraufstand!). Die einzelnen Kommunen agi(ti)eren dabei selbständig und unkoordiniert . Nicht einmal von der im Anarchismus so essentiellen »Dezentralisierung« kann man da sprechen, weil diese immerhin eine Struktur voraussetzt. So ruft das Komitee zu Betrügereien, Aneignungen (statt Plünderungen) und zu Brandschatzungen auf. Und arbeitende Kommunarden können Sabotageaktionen und Zerstörungen in den Unternehmen vornehmen.
»Dogmatismus der Infragestellung«
Die Metropole schafft, so das Komitee, kybernetische Einsamkeiten. Sie muss zerstört werden. Natürlich ist Geld nur Schmiermittel, damit der »Betrieb« aufrecht erhalten werden kann. Es gehört langfristig ebenfalls beseitigt. Familie ist die infantile Hingabe an eine flaumige Abhängigkeit. Ein Paar ist Autismus zu zweit. Mit der Totalität des sozialen Raums wird diffus ein Gefühl der Vereinnahmung ausgedrückt. Schon zu Beginn wird verkündet, dass es keine soziale Lösung geben kann. Was das genau bedeutet, bleibt undeutlich. Wie so häufig in diesem Buch sieht man einen Blitz und muss den Donner erahnen.
Zuweilen sind die Beschreibungen der Zustände mit überraschenden Schlussfolgerungen verknüpft. So zum Beispiel, wenn es heißt, dass sich der Okzident als spezifische Zivilisation geopfert [hat], um sich als universelle Kultur durchzusetzen. Der westliche Imperialismus heute, das ist der des Relativismus, des »Das ist deine Ansicht«, das ist der kleine Seitenblick oder der verletzte Protest gegen all das, was dumm genug, primitiv genug oder selbstgefällig genug ist, um noch an etwas zu glauben, um noch irgendetwas zu behaupten. Dies könnte sowohl Mohammed Atta als auch ein italienischer Neofaschist gesagt haben. Angeklagt wird hier nicht mehr und nicht weniger als der Pluralismus einer wie auch immer organisierten Gesellschaft – scheinbar zu Gunsten einfacher Wahrheiten. Die Welt ist eben unübersichtlich geworden. In der Moderne erkennt man den Dogmatismus der Infragestellung gepaart mit einem Imperalismus des Relativen und erklärt dem überraschten Leser, dass keine gesellschaftliche Ordnung…auf Dauer auf das Prinzip gründen kann, dass nichts wahr sei. Im Dunklen bleibt, wer die Wahrheiten definiert, also die Frage nach Legitimation.
Und konsistent ist man auch nicht, wie sich im Kapitel über die ökologische Katastrophe zeigt, die in Wirklichkeit nicht berührt. Und das sei gerade die Katastrophe, so das Komitee. Es folgt dann eine für diese Schrift typische Volte: Es gibt keine Umweltkatastrophe. Es gibt diese Katastrophe, die die Umwelt ist. Die Umwelt ist das, was dem Menschen übrig bleibt, wenn er alles verloren hat. Biolebensmittel werden produziert, um noch produzieren zu können. Der grüne Kapitalismus sei, so das Komitee, gescheitert – eben weil er letztlich weitermacht, wenn auch mit geringerer Intensität. Ökologie ist die neue Moral des Kapitals. Falsch ist das nicht. Aber so geht »Infragestellung« von allem: Die Katastrophe ist die Chance; in einer apokalyptischen Atmosphäre organisiert sich hier und da (sic!) ein Leben neu. Beispiele sind ein Mietshaus, in dem der Strom ausgefallen ist oder das zerstörte New Orleans, in dem die Selbstverständlichkeit der Selbstorganisation wieder aufkeimt. Dass das reichlich idealistisch und verkürzend ist, kann man in Kleists Novelle »Das Erdbeben von Chili« nachlesen und in Nordkorea anschauen.
Manches ist in seiner paranoiden Verquastheit einfach nur komisch. Da ist von einer Pappkultur die Rede und Literatur in Frankreich sei der Raum, den man für die Unterhaltung der Kastrierten souverän bewilligt hat. Nahezu alles wird von diesem Komitee abgelehnt, weil natürlich nahezu alles zur Erhaltung des bestehenden Systems dient (auch keine gänzlich neue Erkenntnis). Da bleiben Ungereimtheiten nicht aus. Mal wird beklagt, dass die Alten für schändliche Preise den Hintern abgewischt bekommen, um diese Alten dann wenig später als lustgierige Rentnerhorden zu beschimpfen. Natürlich arbeiten die extremen Rechten längst mit der politischen Linken (die nur weiter verwest) und den Gewerkschaften zusammen. Frankreich, das Land der Verschwörungen: Das Ich ist nicht das, was bei uns in der Krise ist, sondern die Form, die man uns aufzudrücken versucht. Das sagen welche, die das »Ich« als Rückzugsraum für ihren revolutionären Aufstand erheben und entsprechend pflegen. Die gelegentliche aufblitzende Komik im Buch ist eher rustikaler Natur, etwa wenn der Ausdruck »brandneu« in Bezug auf neue Einkaufszentren die ganze Bestimmung beinhalten soll. In Deutschland weiß man, wie die Karrieren von Kaufhausbrandstiftern weitergingen.
Reflexionen aus dem modernen Anarchismus werden entweder ignoriert oder bis zur Unkenntlichkeit radikalisiert. Zunächst lehnt man jegliche Form von Herrschaft (»Macht über« nennt dies Gordon) ab. Durch rhizomartige Strukturen von voneinander unabhängigen Einzelkommunen erscheint eine Koordination unter den diversen Gruppen (»Macht mit«) tatsächlich zunächst entbehrlich. Man kann auch zu dem Schluss kommen, dass das Komitee fürchtet, dass die problematischen Formen von Macht, die sich im Kapitalismus zeigen, in anarchistischen Strukturen nicht so »abwegig« sind, wie man dies leicht selbst-idealisierend annimmt und vertagt daher das Thema. Aber die wilden, unkoordinierten »direkten Aktionen« (Gordon), erheblich weitergehend als bloßer ziviler Ungehorsam, gehören irgendwann miteinander verknüpft. Selbst »Welt-Anti-Systeme«, die das Leben in kleinen, autarken stammesähnlichen Strukturen vorsehen, implementieren irgendwann einen übergreifenden, »universell gültigen Gesellschaftsvertrag«.
Ergebnisoffenheit
Ein anderer wichtiger Punkt der neueren anarchistischen Theorien wird (unbeabsichtigt?) übernommen: »Die Erwartung eines revolutionären Abschlusses eines Kampfes« ist, so Gordon, nicht mehr implizit im anarchistischen Handeln vorgesehen. Er verwendet für dieses Verfahren den Begriff der »Ergebnisoffenheit«: Man interessiert sich ausdrücklich »nicht für utopische Entwürfe einer ‘postrevolutionären’ anarchistischen Gesellschaft«. Aufstand oder Revolution existieren aus sich heraus bereits; sie genügen in ihrer Ausbildung als kontinuierlicher Prozess (dem »Kampf«) als Entwurf einer neuen Gesellschaftsordnung. Außer einigen phrasenhaften Formulierungen fehlen in der Komitee-Schrift ebenfalls detaillierte Perspektiven wofür man eintritt noch wird eine systematische Methodik entwickelt. Einiges schwingt jedoch zwischen den Zeilen mit. So wird physische Gewalt auch gegen anwesende Personen nicht ausgeschlossen. Es gibt keinen friedlichen Aufstand. Gordons moderner Definitionsversuch von Gewalt (»Ein Akt ist als Gewalt zu bezeichnen, wenn ihn derjenige, gegen den er sich richtet, als Angriff oder absichtliche Gefährdung erlebt«) wird untergraben. Stattdessen werden Polizisten und andere Staatsrepräsentanten entpersonalisiert (Fick die Polizei). Das weckt Parallelen zu einschlägigen linksterroristischen Pamphleten der 70er Jahre (bspw. der »RAF«). Bei Al-Qaida sind schließlich pauschal alle westlich orientierten Personen »schuldig«, unabhängig von ihrer Funktion. Waffen werden vom Komitee goutiert. Aber man soll alles tun, um ihren Gebrauch überflüssig zu machen und tunlichst nicht einsetzen. Die Ausführungen dieses a priori Pazifismus sind interessant und erinnern an die Abschreckungsszenarien während des Kalten Krieges. Die Armee (vulgo: staatliche Gewalt) ist politisch zu besiegen, aber gegen die regelmäßige Rückkehr des Molotow-Cocktails bestehen dann doch keine Vorbehalte.
Die Botschaft ist eine permanente Destruktion bis hin zur Ent-Zivilisierung der bestehenden Gesellschaft. Ist diese Form eines pragmatischen Schweigens zur Zukunft nicht letztlich Ausweis einer frappierenden Visionslosigkeit oder nur ein »Fehlen aller Überzeugungen«, welches Enzensberger schon 1994 beim westlichen Bürgerkrieger feststellte? Jedenfalls versucht der moderne Anarchist mit dem offensiven Verzicht jeglicher politischer Entwürfe aus der Not eine Tugend zu machen, während das Komitee gegen Ende nur die Vokabel Kommunismus in den Ring werfen wird.
Autorität gebiert Autorität
Im neuzeitlichen Anarchismus ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer wichtigen und bedeutsamen theoretischen Erkenntnis gekommen: Der revolutionäre Prozess ist nicht mehr von seinem angestrebten Ergebnis zu entkoppeln. Der Zweck heiligt nicht mehr die Mittel. Bewegungen, die mit autoritären Strukturen von oben nach unten ihre Ziele verfolgen (und sei es auch nur der unendliche Prozess des Aufstands oder der Revolution), werden selbst in autoritären Strukturen münden. »Sobald man sich ganz darauf konzentriert, lediglich die Macht im Staate zu erobern und deshalb an autoritären Organisationsstrukturen festhält, während man den Aufbau einer freien Gesellschaft auf ’nach der Revolution’ vertagt, ist der Kampf schon verloren«, so Gordon. Ein »Macht kaputt, was Euch kaputt macht« führt letztlich zu einer Pervertierung dessen, was man anstrebt: Eine Herrschaft wird nur durch eine andere ausgetauscht. Hiervon in der Komitee-Schrift kein Wort.
So wird der Verzicht eines neuen Weltbildes – in Anbetracht der großen drei gescheiterten Ideologien des 20. Jahrhunderts (Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus) ein vermutlich absichtsvolles Unterfangen – der »Flugschrift« zum Verhängnis, weil sie ihre Werte und Ziele nicht systematisch ausformuliert, sondern sehr allgemein Sabotageakte, wilde und gewalttätige Demonstrationen und das Abfackeln von Straßenzügen befürwortet. Es ist Krieg; man ist aus der klassischen Politik desertiert. Tatsächlich sind die Verfallserscheinungen demokratischer Gesellschaften durch eine zunehmend autistisch agierende politische und ökonomische Klasse deutlich zu spüren. Aber solange keine halbwegs massenkompatible Alternative entwickelt wird, dürfte der krude Radikalismus des Komitees für die breite Bevölkerung nicht attraktiv genug sein.
Kropotkins Urenkel sind da längst weiter. Gordon fasst das griffig zusammen: »Ein Aufstand der Massen mag…unter bestimmten Umständen immer noch Erfolg versprechend sein, doch ist er auf eine sehr tragfähige Basis in der Bevölkerung angewiesen« und befürwortet einen höchstens sparsamen Umgang mit gewalttätigen Aktionen. Ansonsten besteht die Gefahr einer elitären, ja terroristischen Aufstands-Kamarilla. Abermals ist das Komitee der Entwicklung weit zurückgeblieben.
»Der autistische Charakter der Täter und…ihre Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden« machte Enzensberger als Merkmal der molekularen Bürgerkrieger fest. Hierin könnte ihre Gefährlichkeit liegen, die weit über eine Sorge um ein neu zu ordnendes Gemeinwesen hinausreicht. Am Ende erfährt man zwar, dass der Kommunismus das Ziel ist und dass man weiß, dass dies ein Begriff ist, den man mit Vorsicht gebrauchen muss. Aber man definiert ihn nicht. Die Parallelen zum jakobinisch-terroristischen Pol Pot-Regime Kambodschas der 1970er Jahre sind evident. Die Roten Khmer deportierten die Einwohner der Hauptstadt Phnom Penh, zwangen die städtische Bevölkerung zur landwirtschaftlichen Zwangsarbeit, planten einen ruralen, autarken Bauernstaat, schafften das Geld ab und brachten missliebige oder für missliebig gehaltene Personen um. Zwar fehlten der Roten Khmer jedoch der typische kommunistisch-ideologische Überbau: Glaube an die Geschichte als Fortschritt, Technikaffinität, Planwirtschaftsdenken (so Boris Barth). Stattdessen hatte Pol Pot als Student in Frankreich wohl ausgiebig Rousseau gelesen.
Auch Vergleiche mit der Komitee-Schrift zu Maos »Kleinem rotem Buch« (»Die Wurzeln der extremen Demokratisierung [sind] in der kleinbürgerlichen individualistischen Undiszipliniertheit zu suchen«) stellen sich ein. Die Helden des Komitees sind die Praktiker der Pariser Kommune von 1871 und die griechische Erhebung von 2008. Sie sind die Vorbilder. Immerhin ist die Perspektive einer Stadtguerilla irakischer Art mehr zu fürchten als zu wünschen, aber nur weil sie sich ohne Möglichkeit zur Offensive festfahren würde. Eine Prise Clausewitz.
»Der kommende Aufstand« bietet in zwangsoriginell-angestrengten Sätzen einen eklektizistischen Cocktail aus obskurem »Anarcho-Primitivismus«, grobschlächtigem Kommunismus und Pol Pot an. Sozusagen »Komm-Pot«. Und das ist nicht lustig.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem Buch »Der kommende Aufstand« des »Unsichtbaren Komitees«.
Und hier urteilen fünf sechs Kollegen über das Buch: Glanz und Elend
Pol – Plot
Kennen Sie die ‘Insel der Pinguine’ von Anatole France, lieber Gregor? Fast möcht ich’s Ihnen zur Weihnacht schenken!
Ich kenne es nur von Zusammenfassungen; aber selbst die waren mir entfallen...
Ein großartiges Buch, soweit ich es noch in Erinnerung habe, aber wo sonst kann die Anarchie sich im besten Fall herrlicher ausleben als in der Literatur?
niedermachen ist einfach, und alles?
der einzig akzeptable kommentar zum »aufstand« ist der von herrn keuschnig, der zumindest nicht ganz so selbstzufrieden im eigenen intellektualismus badet wie die anderen. nachdem ich, durch die arrogante iognoranz der rezensenten hindurchblickend, auf die behauptungen stiess, die in dem büchlein wirklich formuliert werden, bin ich traurig ob der feststellung, das genau diese ignoranz es ist, die solche bücher oder pamphlete überhaupt erst hervorbringen. nicht erst michel houellebecq, über den bekanntlich gemutmaßt wurde, einer der autoren zu sein, schrieb in »die welt als supermarkt« sinngemäß, das eigentlich keiner mehr lust auf dieses system hat, das am liebsten jeder längst bomben in diesen modernen spätkapitalismus werfen würde, jedoch bereits so einzementiert ist in die zwänge, das er sich nicht mehr traut. oder so ähnlich. eine der größten sünden, nicht nur in dantes komödie, ist die trägheit. und scheinbar sind wir genau da angekommen, das diese fatale egal – haltung sich schleichend, aber (hoffentlich nicht) sicher und stetig breitmacht und jedes wache bewusstsein früher oder später niederdopt. als wolle man sich schützen vor weiteren enttäuschungen und desillusionierungen hat man längst angefangen, nicht mehr hinzusehen, nicht mehr hinzuhören; in der öffentlichkeit sind die leute bemüht, zu jeder situation ein pokerface aufzusetzen, cool sein ist ‘in’, wobei die medien fleissig daran arbeiten das ‘cool’ zu ‘blöd’ mutiert. nach dem ‘du sollst-nicht-merken’ – prinzip frei nach alice miller werden die sinne so ruhiggestellt und doof gemacht(verzeihung, aber das ‑ist- ‑so‑, auch wenn es in diesem scheinbar unreifen heftchen steht und entsprechend missbraucht wird) von tv, (tv-)werbung und mittlerweile auch vom internet, das jede empfindsame regung, jede gesunde empörung ob der verhältnisse belächelt, verniedlicht, verspottet wird. günther grass hat sinngemäß gesagt, es ist schlimm, wenn man sich nicht mehr empört. und genau das passiert gerade. man macht komplett zu, lenkt mit ekelhafter arroganz ab vom eigenen unvermögen, endlich aus dem arsch zu kommen und sinnvolles zu tun anstatt selbstgefällig die beine übereinander zu schlagen und im kerosinsprüher zur klimakonferenz nach ballermann 3000 – cancun zu fliegen. oder mit hochgezogenen augenbrauen milde lächelnd den dümmlich-niedlichen ‘aufstand’ zu überfliegen, weil man nicht dauernd daran erinnert werden will, das man früher als noch junger journalist für den job gebrannt hat und heute nicht mal mehr weiss, wie man investigativ schreibt und lieber seinen spätburgunder allabendlich geniesst anstatt sich ernsthaft zu fragen, ob man schon genau so kleingemacht wurde wie die, die ausser neid und müdigkeit nichts mehr zu bieten haben. der schuss dieses büchleins geht wohl nach hinten los, was nichts an der tatsache ändert, das ein quantensprung im bewusstsein (nett formuliert vom mittlerweile leider auch sehr bequemen daniel cohn bendit) unbedingt nötig ist, um uns zu retten. und niemand ist durch die schlechten rezensionen dazu berechtigt, die hände in den massgeschneiderten anzugtaschen zu vergraben und ein bischen traurig-wissend umherzuschauen mit müde zuckenden schultern.
dafür ist die lage zu ernst. die erde und die menschen halten verdammt viel aus, aber irgendwann ist einfach schluss, meine damen und herren. und das schlimmste daran ist, das viel zu viele dabei nicht mehr denken als »wenn, dann nicht jetzt, nicht in meiner generation, ich werd noch durchkommen, alles andere ist mir egal«.
Wut
Die kann ich gut verstehen. Eine andere Bloggerin schrieb kürzlich:
Ich kann kaum fassen, dass ich früher mal Hardcorepazifist war. Demnächst muss man dem Frieden zuliebe lernen, Molotow zu brauen.
Und wenn sich welche wirklich trauen von ihrem demokratischen Recht zum Protest Gebrauch zu machen, dann dürfen sie sich von Herrn Soboczynski in der Zeit als Wutbürger diffamieren lassen. (Auch wenn ich Herrn Soboczynskis Einwürfe mittlerweile mit Belustigung und gelassener zur Kenntnis nehme, nachdem ich gemerkt habe, dass er ja doch auch nur so ein Pseudointellektueller ist, wie wir alle.)
Zwar habe ich auch ironisch mal zur Vereinigung aller Pseudointellektuellen (hier: Blogger) aufgerufen, aber dahinter lag doch auch der Wunsch, dass Blogs nicht bei dem kritischen Potential einer Spreewaldgurke stehen blieben.
Ihre Wut tut gut!
(Auch wenn dieses Statement problematisch ist, wird es lediglich auch wieder nur Affirmation!)
Man darf doch nicht die Hände in den Schoß legen und auf einen Wyssozki des Spätkapitalismus hoffen; man muss versuchen einer zu sein!
@Phorkyas
Wut ist zuweilen angebracht, ja notwendig (Kleinschreibung übrigens eher nicht). Aber sie verstellt den Blick. Sie mag menschlich sein und auch als Ventil nützlich, löst aber dauerhaft keine Probleme.
Jetzt sind mir »Vereinigungen« oder Solidarisierungen immer auch ein Stück weit suspekt. Ich habe noch nie auf der Straße demonstriert, da ich die (zuweilen zweifellos notwendigen) Komplexitätsreduzierungen (= Parolen) hasse. Sie sind allzu häufig nur von der Gesinnung eher unterschiedlich zum »Bild«-Schlagzeilen-Aufmacher.
Das Aufstandsbuch bietet keine lebbaren Alternativen an. Es sollte sich durch die geschichtlichen Verblendungen des 20. Jahrhunderts leidlich herumgesprochen haben, worin solche affektgesteuerten Guerilla-Idealisierungen führen: KZ, Gulag, Killing Fields. Nach der ersten Wut müsste irgendwann wieder der Verstand einsetzen.
@Tanja Haller
Der Quantensprung ist eine furchtbar schlechte Metapher – er ist ja genau das Gegenteil des intendierten. Oder sollte der Sprung klein sein?
Diese Aussage habe ich jetzt schon häufiger gehört.
Die Einführung des Quantensprunges war die Antwort auf die Feststellung, dass die Natur nicht kontinuierlich ist. Es muss also »alle Kraft zusammengenommen werden«, um die Hürde zu überwinden. Langsames ran trotten reicht nicht. Zum Zeitpunkt als der Ausdruck geprägt wurde, war das Bild stimmig (wie bei den meisten Redewendungen).
Quantensprung
Über den war ich auch gestolpert und habe mich entschlossen darüber hinwegzuspringen. – Es scheint mir schon verständlich was gemeint ist: eine neue, qualitative Änderung. Leider hängt die Metapher doch mehrfach schief. Denn selbst, wenn man unterstellt, dieses sei gemeint, so geht es ja gerade um sehr kleine, quantitative Änderungen (die dann zwar nicht mehr kontinuierlich sind).. Wahrscheinlich haben die Jounalisten und Politiker die »Quantenrevolution« im Hinterkopf: wie die (klassische) Physik auf den Kopf gestellt wurde (kein Bahnbegriff mehr, Unschärferelation, Verschränkung..), dass man also ein anderes Denken, eine andere Herangehensweise überhaupt benötigt.. aber »Quantensprung« hat schon eine festgelegte Bedeutung in der Physik als Übergang zwischen verschiedenen Energieniveaus im Atom.
Z.B. hier wird’s auch beschrieben.. und auch gesagt, das selbst schon Physiker das verwenden.. Grauslig.
Der Herr Werner erscheint mir doch ein rechter Kreuzzügler zu sein (Dummdeutschausdruck!), der einleitend konstatiert, dass die Materie nur von Fachleuten verstanden wird. Warum schreibt er dann darüber? Und natürlich findet man auch gegenteilige Aussagen.
Die meisten Übergänge in der Natur verhalten sich nach der üblichen Wachstumsformel á la e^-t/T mit einer Zeitkonstante T, die die Geschwindigkeit der Ausgleichsvorgänge angibt. Der Quantensprung (der Ausdruck wird heute nicht mehr gebraucht) findet dagegen instantan statt und hat daher eine ganz andere Qualität. Wer nur auf die Größe der Veränderung rekurriert, versteht das Bild glaube ich falsch. Wenn ich jemanden auffordere einen Zahn zuzulegen, wird er mir auch nicht antworten, dass er aber einen Elektroherd habe, der sehr wohl stufenlos einstellbar ist.
Der Link hat nicht funktioniert:
http://www.heise.de/tr/blog/artikel/Quantensprung-der-Kritik-272122.html
»Heise« halt... (dort hält man es mit Sprache ja eh nicht so genau).
Tatsächlich ist »Quantensprung« genau wie »Zahn zulegen«: eine eher nichtssagende Pseudo-Metapher. Bei Quantensprung parfümiert man sich nur noch mit dem Odium der Wissenschaftlichkeit. In der stillen Hoffnung, der/die andere erschrickt vor lauter Demut.
(Viel interessanter wäre es auf die anderen zum Teil schiefen Assoziationen der Wutposterin einzugehen. Etwa das Michel Houellebecq einer der Verfasser des Pamphlets sein könnte. Das ist eine mindestens kühne Theorie, die im übrigen vom französischen Herausgeber längst dementiert wurde.)
Ihr Kommentar war jetzt aber auch nur Behauptung ohne Argument. Und dazu noch abwertend. Das können Sie glaube ich besser.
Idiosynkrasien
@Zufgas
Mit »Dummdeutsch« bezogen Sie sich aber nicht auch auf das Büchlein (das ich mal ganz amuesant fand, aber auf Dauer doch ermüdend, ja ennervierend), sondern auf den verlinkten Sprachkritiker (ich muss zugeben, mir dessen Webpräsenz nicht weiter angesehen zu haben)?
Den Einwand, dass es sich ja auch gerade um eine »qualitative« Änderung des Zustandes handelt, wie in dem Heise-Artikel geschrieben hatte ich schon selbst anüberlegt aber doch verworfen (das »die dann zwar nicht mehr kontinuierlich sind« in der Klammer zeugt noch davon). Aber mit dem Quantensprung assoziert man doch sofort das veraltete Borhsche Modell mit seinen Bahnen und die Übergänge, die sich dort ergeben, oder? Und da ist man doch auf dem Holzweg, wenn so einer daherkommt und seinen Quantensprung anpreist. Ist nun mal nichts besonderes. Strahlt man ein bisschen Licht auf eine Probe oder ähnliches.
»Das entscheidende daran ist, dass Energie von einem Quantensystem nur in ganzzahligen Vielfachen einer bestimmten Grundmenge aufgenommen oder abgegeben werden kann.« – Ja, dies betrifft die Energieeigenwerte, dass diese diskret sind und so ein Elektron ohne äußere Störungen nicht aus diesem Zustand herauskäme, sorgt letztlich dafür, dass die Materie/Atome stabil ist, was klassisch nicht gegeben wäre. (Nur gibt es quantenmechanisch auch kontinuierliche Spektra.) Nun springt der Autor aber, denn im nächsten geht es nicht mehr um die Quantelung der Energie, sondern um Zustandsänderungen. Und da wird es meines Erachtens etwas unscharf:
»..in einen anderen Zustand übergeht, dann ist es tatsächlich, von einem Schlag auf den anderen. Da gibt es keinen langsamen, gleitenden, infinitesimal angenährten Übergang – «
Nein. Da sollte er sich die Störungstheorie noch einmal anschauen, glaube ich. Er scheint wohl an die Messung zu denken, bei dem die Wellenfunktion des Systems in den einen oder den anderen Zustand kollabieren muss und es so eine klare Dichotomie gibt. – Für die Beschreibung der Übergänge gilt dies jedoch nicht. Dort gibt es nur statistische Beschreibungen, die die Raten oder Wahrscheinlichkeiten für die Übergänge widergeben.. denn die zugrunde liegende (Schrödinger-)gleichung hat keine Sprünge, die entstehen erst durch die nachträgliche Messung (das ist ja gerade das Messproblem).
Weiter:
»das ist ein qualitativer Wechsel in etwas völlig Anderes. So wie gasförmig ein anderer Aggregatzustand als flüssig ist«
Hmm.. etwas schief: Von den mikroskopischen Zuständen (bei denen es so etwas wie die makroskopischen Zustände flüssig, fest erst einmal gar nicht gibt) springt er plötzlich in die Thermodynamik und zu Phasenübergängen. Mit so einem Quantensprung so einer einzelnen Anregung bekommt man das aber bestimmt nicht hin. Meistens hopst das Teilchen schon nach kurzer Zeit doch wieder in seinen Grundzustand zurück...
Alles in allem kann mich sein »qualitativer« Wechsel nicht überzeugen (gut ich war da voreingenommen), wie gesagt wahrscheinlich assoziert er mehr, das was ich Quantenrevolution nannte, dass man eine völlig neue Sicht auf die Natur bekam (s. seine Ausführung zu Planck)... aber das hat mit dem Quantensprung als einzelnem physikalischem Phänomen ja nix zu tun, sondern mit der Theorie, in der dieser auftritt.
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Hätte ich mal die Klappe gehalten.. aber so hat jeder seine Idiosynkrasien. Der eine mag keine Kleinschreibung, den andren bringen Quantensprünge auf die Palme,.. ich reagier z.B. auch empfindlicher auf den das-dass Unterschied (weil ich da selbst mich öfter ertappe)... Demnächst versuche ich mal die eigenen besser im Zaum zu halten, dann bleiben Ihnen und mir so lange Beiträge erspart(;
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Meinen Sie mit »Die meisten Übergänge in der Natur verhalten sich nach der üblichen Wachstumsformel á la e^-t/T mit einer Zeitkonstante T« so etwas wie radioaktiven Zerfall, gedämpfte Schwingungen, ..? – Wo Sie von Übergängen sprechen hätte ich eher den Boltzmannfaktor e^-E/(kT) angegeben (E Energie, kT Boltsmannfaktor mal Temperatur), der nimmt man fuer E die Anregungsenergien die Wahrscheinlichkeit fuer thermische Anregungen widergibt (bei hohen Temperaturen wird es dann entsprechend wahrscheinlicher angeregte Zustaende vorzufinden).
Wut?
das mein kommentar so wütend klingt, war mir gar nicht bewusst. es sieht natürlich nicht gut aus, mit zornrotem gesicht die wände hoch zu gehen. es beeindruckt auch eher negativ. allerdings taugt »wer schreit, hat unrecht« mittlerweile auch nur mehr als alibi für passivität, finde ich. aggressivität ist ‑erst mal- »nur« eine lebendige form von lebensenergie. die nicht zwingend gleich autos ansteckt und scheiben einschlägt. die man lernen muss, sinnvoll einzusetzen, natürlich. wach sein ist sicher angesagt. gott, das ist furchtbar anstrengend, ich weiss. aber dann läuft der spätburgunder vielleicht auch eher mit gutem gewissen die kehle runter? ich will dann auch die gross – und kleinschreibung beachten! und ich bedanke mich, das mein recht langer kommentar gelesen wurde.
[EDIT: 2010-12-17 12:56]
gott, das ist furchtbar anstrengend, ich weiss. aber dann läuft der spätburgunder vielleicht auch eher mit gutem gewissen die kehle runter?
Die Alt68er trinken eher Rotwein. Ich Riesling.
[EDIT: 2010-12-17 13:00]
An »..und das im Halse steckengebliebene Lachen in der Pause mit Champagner runterspült« musste ich da gerade denken http://web.archive.org/web/20150313062203/http://mimuse.de:80/mimuse/ueber-uns/kuenstler-ueber-uns/volker-pispers – ich weiss nicht, ob er mit dieser kleinen Publikumsbeschimpfung immer noch sein Programm beginnt..)
Ich nehm lieber ’nen trockenen Spanier... na dann, Prost?
Wut war vielleicht schon etwas zu viel... aber manchmal schreibt man sich bei solchen Kommentaren ja in Rage, bzw. ueberhitzt die eigene Rhetorik ein bisschen, war doch aber in diesem Falle auch gerade richtig, fand ich.. Die Kommentarspalten eignen sich ja wunderbar, um ein bisschen Dampf abzulassen
Wut muss doch nicht destruktiv sein, sondern kann produktiv umgesetzt werden – sei es Leserbrief oder Blog,.. (wenn man den nur oft genug den Berg hinaufrollt,.. passiert auch nichts)
@Keuschnig: »Vereinigungen« sind mir ebenso suspekt. Massen in einem Fussballstadium machen mir schon Angst – wenn man dann auch hoert was die da so singen. – Von den Protesten um Stuttgart21 habe ich nur in den Medien erfahren, da erschien mit eine gewisse Inszeniertheit auch schon suspekt – aber vielleicht lag das an der Berichterstattung, die sich daran ergoetzte, dass endlich etwas passierte – letztlich weiss ich ja auch nicht, wie diese Proteste wirklich initiiert wurden (aber ich glaube ich las auch in ihrem Zusammenhang schon von PR aehnlichen Einrichtungen, die in sozialen Netzwerken solche Dinge jetzt schon zu triggern versuchen)
[EDIT: 2010-12-17 18:11]
Proteste wie gegen Stuttgart 21 entwickeln ihre eigene Dynamik durch die mediale Vermittlung. Je mehr darüber berichtet wird, desto mehr »zieht« dieser Protest wiederum Leute an, weil sie damit wahrgenommen werden. Die Übergriffe der Polizei vom 30.9.10 brachten dann noch zusätzlich eine Solidarisierungswelle in Gang. Das problem ist, dass die Medien die Proteste so darstellen, als demonstriere da eine Mehrheit. Das ist aber empirisch so gut wie nie belegt. Auch in Umfragen war die Bevölkerung zumeist paritätisch »gespalten«. Auch hier sind die medialen Einflüsse nicht zu unterschätzen. Diese Wellen schwappen irgendwann wieder ab, weil »Protest« nicht beliebig zu halten ist.
Die Wirkung der Medien lässt sich auch gut anhand der Castor-Proteste ablesen: Der Transport nach Gorleben neulich fand enorme Resonanz – der nach Lubmin vor einigen Tagen so gut wie gar keine. Da spielen Symbole eine große Rolle.
[EDIT: 2010-12-18 15:24]
zu Herrn Keuschnig »Proteste wie gegen Stuttgart...«
Das würde ja mal ein positives Licht auf die Medien werfen, wenn sie Demonstrationen wie in Stuttgart demonstrantenfreundlich darstellen würden und den Eindruck von ‘vielen, sehr vielen, also richtig vielen Menschen auf der Strasse..’ erwecken würden. ich habe eher den Eindruck, dass meist (vielleicht nicht in Zeitungen wie der TAZ) die andere Seite, also die unheimlich stark in Anspruch genommene Polizei, die so furchtbar viele Verletzte zu beklagen hat, möglichst gut ausgeleuchtet rüberkommt. Unabhängig davon möchte ich noch erwähnen, das mir Ihr Kommentar zu »Deutschland schafft sich ab« sehr gut gefallen hat; äusserst präzise, vielen dank! ein bischen Aggression steckt also doch noch in einem etablierten Journalisten?! und die gibt dem Artikel genau die richtige Dosis Pfeffer, wenn ich das mal mit allem Respekt so sagen darf..!;) Im übrigen bin auch ich kein Alt68er und bevorzuge Kölsch. Zum Wohl.
[EDIT: 2010-12-18 20:30]
zu Phorkyas
Im Grunde macht es mich unzufrieden, wenn ich merke, das Sie Recht haben mit Ihrer Behauptung, das man ganz gut Dampf ablassen kann in solchen Blogs. Weil ich tue momentan ja auch nicht viel mehr als das. Und das ist nicht viel besser als was am Stammtisch passiert, oder? (Bitte nicht falsch verstehen; ich meine jetzt wirklich nur mich..!) Ok, vielleicht kann ich mir noch ein bischen besser vorkommen, weil ich mir etwas Zeit und Ruhe nehme, um mich zumindest halbwegs blogtauglich auszudrücken. Und ich muss auch nicht so schreien. Zugegeben tut ein Austausch mit anderen Zeitgenossen mitunter ja auch gut. Aber ich bin immer noch kein zahlendes Mitglied bei Attac oder Amnesty International geschweige denn Greenpeace. ich habe sogar immer(hin den Mut zu sagen..) noch nicht den Stromanbieter verökologisiert. Nach diesem peinlichen Geständnis werde ich es endlich tun.! Und mir fällt auch noch mehr ein, hoffe ich. Vielleicht eröffne ich dann im Frühjahr einen Verkaufsladen für Daimler-Sterne und Chrysler-Rückspiegel.. :) Tschö mit ö.
[EDIT: 2010-12-18 20:57]
@Tanja Haller
Ich bin kein etablierter Journalist (falls Sie glauben, ich sei das).
Im übrigen werfen die Medien die Meinung zu ihren Bildern aus, wie sie es möchten. Mal eher pro – dann wieder contra. Ich finde beides langweilig. Medien, die mich indoktrinieren wollen (egal in welche Richtung) muss man meiden. Man lebt zu kurz für solche Manipulationen.
[EDIT: 2010-12-19 15:25]
Das mit dem »Dampf ablassen« schrieb ich und merkte, dass es durchaus eine negative Note besaß, die sollte sich aber doch gegen mich selbst verstanden wissen (denn in letzter Zeit schwafel ich doch ein bisschen viel in den Kommentarspalten herum)... und ich weiß es ja nicht – vielleicht sind Sie ja in einem kreativen Beruf tätig oder anderweitig aktiv (auch wenn sie die entsprechenden Vereinszugehörigkeiten nicht aufweisen, das heißt ja nichts).
Meine Teufelshörner sind leider wohl genauso stumpf wie Feder und Verstand, da werde ich meinem Pseudonym nicht sehr gerecht.
...Allerdings steht für mich doch fest, dass ich gerade diese »Vereine« meiden muss, wenn ich es mit meinem Protest ernst meinen will (so wie man keiner Kirche beitreten sollte, wenn man es mit dem Evangelium oder seinem Glauben ernst meint?)
Und was bleibt dann man – so klug als wie zuvor?
@Keuschnig: Aber die Indoktrination entdecken, sich ihrer sicher sein, wie kann man das? Ich wende mich auch sofort ab, wenn ich das Gefühl habe, einen Bären aufgebunden zu bekommen. – Woher soll ich wissen, ob ich nicht ohnehin nur die Wahl zwischen Braunbär oder Panda hab und ich nur den genommen habe, der knuffiger aussieht? (Misslungenes Metapher (211))
[EDIT: 2010-12-19 23:49]
@Phorkyas
Schwer zu sagen, wie man das erkennt. Ich habe eine Grundskepsis gegenüber Massenströmungen jeder Art. Beispielhaft ist da für mich die Diskussion um die Nachrüstung der NATO, die Anfang der 80er Jahre die Gesellschaft polarisierte. In der Spitze demonstrierten 2 Millionen Menschen an einem Tag in Bonn dagegen. Kohl, der das von Schmidt geerbt hatte, ihm aber zustimmte, schaute sich diese Demonstration vom Hubschrauber aus an. Er war, wie er später einräumte, durchaus beeindruckt. Ich glaube sogar, dass damals eine Mehrheit der Deutschen gegen diesen »Doppelbeschluß« war. Ich damals auch. Aber ich hätte mich nicht dazu aufraffen können, dagegen zu demonstrieren, da mir das Prinzip ja eigentlich einleuchtete. Die Konsequenzen, die hieraus hätten entstehen können, wären allerdings fatal gewesen, weil Europa im Nuklearkrieg hätte versinken können.
Ich weiß bis heute nicht, ob dieser Beschluß richtig oder falsch war. Es gibt Historiker, die sagen, man hätte damit die Sowjetunion praktisch totgerüstet. Und als Zeichen, sich nicht alels bieten zu lassen, wäre es auch richtig gewesen. Das mag sein. Andererseits glaube ich aber nicht, dass dies entscheidend für den Zusammenbruch des Kommunismus war.
Der Protest gegen Stuttgart 21 bekommt durch die mediale Aufrüstung eine quasi-religiöse Komponente. Im Netz gibt es inzwischen schon S21-Befürworter – Gegenströmungen, die sich meistens dann auftun, wenn die Sicht als zu einseitig wahrgenommen wird. Die Polarisierungen nehmen übnrigens im Netz und auch durch das Netz zu. Man kann dies schön am Wikileaks-Hype erkennen: Jedes kritische Wort hierzu (oder zu Assange) wird nicht nur verschwörungstheoretisch aufgebauscht, sondern durch den Netz-Mob, der durch nichts demokratisch legitimiert ist, autoritär sanktioniert. Die Art und Weise, wie man auf bestimmte Rechte rekurriert (bsopw. das Recht auf freie Meinungsäußerung) scheint nur für diejenigen zu gelten, die eine gleiche Meinung vertreten. Diese Entwicklung ist sehr bedenklich.
[EDIT: 2010-12-20 09:24]
zu Herrn Keuschnig
Man sollte die Stellen, die man negativ kritisiert, erst genau lesen;
bzgl Michel Houellebecq schrieb ich, dass dies über ihn ‑gemutmaßt- wurde. Gehört und gesehen habe ich diese Behauptung bei »Kulturzeit«. Ich würde mir nicht anmaßen, so etwas als Fakt darzustellen.
[EDIT: 2010-12-21 21:25]
@Tanja Haller
Ja, ich hab’s schon so gelesen (trotz Kleinschrift und Wut-Stakkato). Aber alleine das man so etwas »mutmaßt« zeigt zweierlei: 1. Man hat es nicht gelesen und 2. man begibt sich auf die spekulative, journalistische Ebene, der zumeist andere Dinge wichtiger sind als die Textanalyse. Hierauf zielt ja die bewußt anonym gehaltene Autorenschaft (ein bedacht gesetzter Medien-Coup). Hätte man stattdessen zwei unbekannte Politikstudenten genannt, wäre das Büchlein nicht weiter beachtet worden (was kein Fehler gewesen wäre). Mit dem »unsichtbaren Komitee« ist aber das lustige Autorenraten losgetreten. Und nur weil man kapitalismuskritische Elemente auch bei Houellebecq herauslesen kann, wurde dessen Mitautorenschaft vermutet. So »funktioniert« in diesen Zeiten der Journalismus: In der vollkommenen Loslösung dessen, worum es eigentlich geht, wird der Boulevard bedient.
Das ändert man als Leser nur dadurch, dass man es ignoriert und sich der Sache widmet. Das habe ich versucht. Man mag das nun kritisieren, verwerfen oder auch loben. Spekulationen von irgendwelchen Kulturzeit-Quatschköpfen sind für mich nicht satisfaktionsfähig.
[EDIT: 2010-12-22 08:16]
Gekonntes Ignorieren
Das ändert man als Leser nur dadurch, dass man es ignoriert
Vielleicht ist neben dem Geschriebenen, das worüber man nicht schreibt, fast ebenso wichtig (spontan würde ich vermuten dass gerade der Qualitätsjournalismus der FAZ sich gerade dadurch ‘auszeichnen’ könnte – im Guten wie im Schlechten). Deswegen hatte ich mal eine Rubrik »Unwürdige Themen« eröffnet, um doch über Themen zu schreiben, über die ich eigentlich schweigen will oder sollte (Hegemann, Stuttgart 21, Wikileaks etc.).
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Der Protest gegen Stuttgart 21 bekommt durch die mediale Aufrüstung eine quasi-religiöse Komponente. [..] Man kann dies schön am Wikileaks-Hype erkennen: Jedes kritische Wort hierzu (oder zu Assange) wird nicht nur verschwörungstheoretisch aufgebauscht, sondern [..] autoritär sanktioniert.
Hier wollte ich schon widersprechen: Denn Mob und Hype, das hat für mich nichts Religiöses; Massen schreien doch eher nach Orientierung und charismatischen Führern (küchenpsychologisch generalisiert gesprochen). – Gestern habe ich mein erstes Interview mit Assange gelesen und ich hätte nicht gedacht – bei ihm scheinen doch ein gehöriger Schuss Charisma und Verschwörungstheorie zusammenzukommen (bisher hätte ich gedacht, dass die Printmedien nur ihren eigenen Avatar bekämpfen: Ein bisschen wie der Zauberlehrling, sie haben den Hype um Wikileaks erst entfacht und sich diesen Gegner aufgebaut und schaffen es nicht dies wieder zu stoppen – aber nach dem Interview hatte ich doch den Eindruck, dass er nicht reine Projektionsfläche, ein selbsterschaffner Schattenboxgegner, sondern dass er selbst schon einiges mitbringt, um zu dieser Medienfigur zu werden.. – aber das ist hier a bisserl off topic, d.h. als kryptoanarschistischer Aktivist ist Assange in diesem Thread ja gar nicht so weit weg..)
Das bringt mich zurück zur Ausgangsfrage: Wie informiere ich mich (z.B. über Assange)? Muss ich davon ausgehen medial nur Zerrbilder zu erhalten (das wäre auch so eine Bahauptung von Assange)? Welche Medien sind noch satisfaktionsfähig?
[EDIT: 2010-12-23 10:48]
@Phorkyas
So ganz vermag ich nicht zu erkennen, warum ein Hype nicht quasi-religiöse Züge annehmen kann – wie bspw. im Fall von Assange, der eine Art Klatschreporter der politisch desillusionierten Klasse darstellt. Wo früher Mülltonnen der Prominenten nach verwertbarem untersucht wurden, legt man nun sogenannte Geheimnisse offen. Der Unterschied ist marginal.
Assange muss ich inszenieren, um seine Bedeutung zu erhalten. Dies würzt er mit Verschwörungstheorien und nimmt seine Jünger mit, in dem er deklamiert, sein Leben sei in Gefahr. So stellt man sich selber als Märtyrer dar, der für die vermeintliche Meinungsfreiheiten die Schmerzen der Verfolgung aushält. So ist nüchterne Berichterstattung längst nicht mehr möglich, zumal der Mob mit Angriffen gegen die »Feinde« droht. Tatsächlich kommt man damit zum Aufstands-Thema wieder zurück.
Hierin zeig sich für mich dann auch die Güte der Berichterstattung: In der Genauigkeit. Wenn jemand wie Mario Sixtus auf Kulturzeit herumstammelt, die »Jungs«, die einige Webseiten lahmgelegt hatten, »hätten viel Spaß«, dann weiß ich, dass dieser Mann für alle Zeiten für objektive Wahrnehmungen gestorben ist. Oder wenn andauernd von »geheimen« Dokumenten die Rede ist – tatsächlich sind nur 10% der irgendwann einmal vollständig veröffentlichten Dokumente als »geheim« eingestuft. Dann stellt niemand Fragen nach der »Auswahl« der Dokumente. Welche Dokumente fehlen? Wo gibt es Schwerpunkte? Was wurde weggelassen? – Alles Aufgaben von Journalisten, die sichlieber in Akklamation oder Verteufelung üben,statt ihre Arbeit zu machen.
[EDIT: 2010-12-23 11:02]
Für die Religiösität fehlt mir der Bezug auf eine irgendwie geartete Transzendenz.
Dies würzt er mit Verschwörungstheorien und nimmt seine Jünger mit, in dem er deklamiert, sein Leben sei in Gefahr.
Auf mich machte er den Eindruck als sei er selbst von dem überzeugt, was er da mache (also mehr ein verbohrter Ideologe?). Ich muss auch gestehen, dass mir kryptoanarschistische Ansätze durchaus sympathisch sind. In der Süddeutschen gab es auch einen Artikel, der genau in diese Kerbe schlug, dass es nun endlich der Bürokratie an den Kragen ginge, die ihre Macht durch die Intransparenz und Willkür erlangte (durch alle Dekaden hindurch: ob Weimar, 3. Reich oder BRD) – Nun könnten sie eben nicht mehr sicher sein, ob nicht doch irgendwelche Hinterzimmerdokumente rauskämen.. Das erschien mir ein geradezu menschlich-romantischer Denkansatz.
(Ganz anders jedoch die FAZ, wenn Sie es nicht schon gesehen haben – ganz amüsanter Artikel, aber doch a bisserl mutwillig mutet es mir an, die Autismusdiagnose aus der Ferne zu stellen, da wittere ich doch Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den »Nerds«...)
[EDIT: 2010-12-23 15:45]
Der FAZ-Artikel versucht Assange zu pathologisieren. Das nutzt rein gar nichts. Selbst wenn der Mann Autist wäre, würde damit das Phänomen nichte rklärt werden.
So zu tun, als würde Wikileaks nun Intransparenz und WIllkür verunmöglichen – das ist das religiöse, was ich meine: Die Sehnsucht nach der heilen, gereinigten Welt. Die Transzendenz entsteht durch Teilhabe (Demonstration; Unterstützung; Spende; das Wissen, »Gutes« zu tun). Stattdessen wird es in der Diplomatie nur noch mehr Abschottung geben. Es sind zumeist die gleichen Journalisten, die für »totale Transparenz« eintreten, die ihre Gehaltsverhandlungen auch nicht gerne publik machen würden.
Eine Gesellschaft, in der totale Transparenz herrscht, wäre nicht lebenswert. Intimität muss auch für Institutionen gelten – solange sie nicht kriminell agieren. Der Wunsch nach totaler Transparenz entspringt nichts mehr als einer Neugier, den »Großen« in der Welt aufzulauern. Dabei ist das – das zeigen diese Veröffentlichungen ja – zumeist reichlich banal.
Apropos Transparenz: Man stelle sich vor, die Menschen würden immer und überall die Wahrheit sagen. Nicht auszudenken.
[EDIT: 2010-12-23 16:08]
Gregorianischer Imperativ
Man stelle sich vor, die Menschen würden immer und überall
– die Wahrheit sagen
– lügen
– bloggen
– weiterbilden
– nur Gutes tun
– nur Gutes denken
– nur Gutes sprechen
– nur lieben
– bescheiden sein
– sich an Gesetze halten
– keinen Schaden anrichten
– gewinnen
...
Nicht auszudenken.
Der FAZ-Verriss will mir auch zu mutwillig pathogolisieren. Dabei hätte man doch schöne andere Anknüpfungspunkte gehabt: Die Verschwörungstheorielastigkeit – Herr Assange zehrt wie andere davon, dass die »Mainstreammedien« ein völlig falsches, schiefes Bild der Wirklichkeit liefern würden, so dass es Wikileaks erst möglich sei einen Blick hinter die Fassaden zu werfen, zu zeigen was wirklich gespielt werde [Hier auch das Motiv des Schlüssellochblicks – Voyerismus – Boulevardismus?]. (Etwa so: Sarrazin benötigt die Politisch-Korrekten, die er angeblich demontiert genauso wie Assange seine Mainstreammedien – auch wenn sie von beiden nur ein Strohman-Zerrbild bieten?)
Das Genie zeigt sich dabei in einer neuen Form, als transhumanes Subjekt, das wegen seiner technischen Fähigkeiten im Umgang mit Daten und Computern über die menschliche Gattung hinausweist und die Masse der Nicht-Sehenden in Gnadenakten informiert.
Hier spielt Karafyllis wieder mit Religiösem. Mir erschienen nur Transparenz und Aufklärung eher säkulär, weswegen ich mich auch so lange gegen das »religiös« wehrte (aber die Einschläge gibt es wahrscheinlich auch in der Aufklärung.. mit der müsste man sich wohl auch noch auseinandersetzen, wollte man die Kritik an Wikileaks wirklich führen, scheint mir) – Herr Assange versteht sich ja eher auch als jemand, der gewissermaßen die Rohdaten, die Quellen, das Material selbst liefert, diese sind seiner Ansicht nach zunächst neutral, nichts als die Information selbst. Dies hätte dann nichts von Erleuchtung, Gnadenakt, sondern von... Demokratisierung? Indem dem Bürger das Material selbst zugänglich gemacht werde?
[Hier müssten wohl auch viele kritische Diskussionen beginnen: Selbst die neutralsten Daten sind ja nicht neutral, auch sie müssen gesichtet, vorausgewählt werden.. Wie transparent geschieht dies nun, woher wissen wir, was nun veröffentlicht wird, was nicht? Nach welchen Dokumenten überhaupt gesucht wird? usw. usf.]
@Phorkyas
Ich glaube ja, dass die Bedeutung von Wikileaks und vor allem die Deutung des Phänomens viel zu sehr hochgespielt wird. Blasse Jüngelchen, die in ihrem (Journalisten-)Leben noch nicht viel erlebt haben außer das, was ihnen durch die Medien nahegebracht wurde, entdecken plötzlich die große, weite Welt der Diplomatie. Jeder Furz in der Badewanne ist für sie ganz schnell ein Tsunami. Ich lese , dass aktuell pro Tag 20 Dokumente aus dem Leak tröpfeln – so toll kann das dann ja nicht sein. In Wirklichkeit wühlen da Leute in den Mülltonnen der anderen und verkaufen das Resultat als »Enthüllung«.
Assange muß sich mit seinen Verschwörungstheroeien umgeben, damit nicht irgendwann mal jemand sagt, dass er eigentlich ziemlich nackt ist.
Was Sie in eckige Klammern setzen ist ja fundamental für die Beurteilung dieser »Daten«. Hinzu kommt, dass es sich um Indiskretionen handelt, d. h. die Daten müssen aus Gründen des Informantenschutzes auch wieder derzeit zusammengestellt sein, dass nicht deutlich wird, wer der Informant sein könnte. Hinzu kommt, dass der Prozeß der Indiskretion selber wiederum selektiv ist.
Dass in unserer Erregungsöffentlichkeit (vgl. Sloterdijk) Wikileaks soviel Airplay bekommt, ist schon verwunderlich. Irgendwie scheinen zumindest einen Riecher, ihre Enthüllungen auch an den Mann zu bringen – und Herr Assange wird auch entsprechend in Szene gesetzt. (Deshalb wollte ich schon mit der Zauberlehrlingsmetapher kommen: die Zeitungen blasen und pumpen sich da ihren eigenen Phantomgegner auf – damit wieder ein bisschen Rabbatz ist?)
Sonst.. eben eigentlich doch ein unwürdiges Thema?
PS. Sollte/Wollte mich eigentlich weiter der Morawischen Nacht widmen, denn die gefällt mir nach anfänglichen Zähigkeiten immer besser – Ab und an scheint es als würde er nur sein schönes Erzählen verwalten, als ginge es nur noch darum über das Erzählen zu Erzählen und dann sind doch wieder zu viele Stellen zu wunderbar, zu treffend – Ich freue mich jedenfalls schon darauf, nach der Lektüre auch endlich Ihre Rezension (im Vergleich zur eigenen Leseerfahrung) ganz zu lesen..
Anmerkung zu einer Kommentarlöschung
ich habe hier einen Kommentar gelöscht, der einen Link auf einen Text enthielt, der sich Einführung in den Bürgerkrieg nannte. So etwas wird hier gelöscht. Und zwar ohne Diskussion.