Mit einem öffentlichen Posting kurz vor Weihnachten weckte der Literaturkritiker Jan Drees mein Interesse. Drees schreibt:
»Verständlicherweise haben Hanser Literaturverlage und dtv Verlagsgesellschaft das Buch vom Markt genommen, das gelesen werden kann als Anleitungen zum psychischen Missbrauch.« [Verlagsnamen im Original mit Linkunterlegung.]
Bezug genommen wird auf ein Posting der Webseite »Feministisch Lesen« vom 22.12.2020. Dort hatte man in dem pathetischen Blogpost »Anleitung zu psychischer Gewalt darf nicht im Bücherregel stehen« am 13.12.2020 eine Kampagne gegen das Buch »Die 24 Gesetze der Verführung« von Richard Greene begonnen und eine Petition gegen eine Neuauflage dieses Buches gestartet.
Immerhin widmete sich das Börsenblatt dem Ansinnen. Der Erfolg der Petition über das in diesen Dingen gängige Portal »change.org« war erstaunlich: 112 Menschen stimmten der Forderung zu.
Worum geht es in dem Buch, dass seit vielen Jahren auf dem Markt ist? Laut Blogpost wird dort beschrieben, »wie man eine toxische Beziehung aufbaut«. Es »gibt der*dem Täter*in eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie die begehrte Person manipuliert, isoliert und gefügig gemacht werden kann; kurz gesagt: wie man psychische Gewalt ausübt.« Als Belege gibt es Ausschnitt, die mit »Trigger-Warnung« versehen wurden. Sie sind ausschließlich einer 27seitigen Leseprobe entnommen – denn tatsächlich gibt es dieses Buch nicht mehr offiziell zu erwerben (außer bei einem Londoner Antiquariat auf Amazon für Preise zwischen 70 und 100 Euro).
Greene hat mehrere Bestseller geschrieben. Berühmt wurde sein Buch »Die 48 Gesetze der Macht«, in dem macchiavellistische Machtstrategien für das Alltags- und Berufsleben ratgeberähnlich ausgeführt wurden. Drees nahm das Cover des Macht-Buches für seinen Beitrag. Tatsächlich ging es jedoch nicht um dieses Buch, sondern um den Verführungsratgeber.
Freimütig gibt man bei »Feministisches Lesen« zu, das Buch nicht vollständig gelesen zu haben. Die Begründung hierfür ist interessant: »Einerseits, weil wir den Autor, die Verlage und Buchhandlungen, die dieses Buch propagieren, nicht unterstützen wollen. Andererseits, um unserer eigenen Psyche diese Qualen zu ersparen.« Das hält die Initiatorinnen natürlich nicht davon ab, zu dem Urteil zu kommen, dass dieses Buch auf keinen Fall neu aufgelegt gehört – besser noch vollständig »aus den Bücherregalen« entfernt wird. Zur Unterstützung der Kampagne finden sich bei Amazon seit Mitte Dezember negative »Rezensionen« (im Duktus des Blogpostings) – für ein Buch, dass 2004 erschienen war.
Wer befragt eigentlich die Deutungen der Feministischen Nichtleserinnen (leider hat man auf der Webseite kein korrektes Impressum)? In der Leseprobe steht nicht, dass die »Verführung« eine Einbahnstraße ist – d. h. die Frau die Verführte und der Mann der Verführende sein muss. Die Anrede an den Leser ist in Großbuchstaben, es könnte also auch eine Leserin sein, die zur Verführung angeleitet werden soll. Und ist es nicht durchaus erhellend, wenn manipulative Techniken derart offen decouvriert werden?
Man muss Jan Drees dankbar sein, dass er diese Causa aufnimmt. Drees hatte 2019 eine autofiktionale Erzählung über »Gaslightning« geschrieben, in dem ein Ich-Erzähler »Opfer« der psychischen Manipulation seiner Freundin wurde. Diese Beschäftigung gibt er als Anlass für sein Interesse an diesem Fall an. (Wer weiß, vielleicht wird sein Buch irgendwann selber vom Bannstrahl getroffen werden?)
Wenn man jedoch die Kommentare unter dem Facebook-Posting liest, ist man erstaunt: Drees hat – wie die Protestler – das inkriminierte Buch (wie er betont: noch) nicht gelesen. Wie kann er sich dann dahingehend äußern, dass eine Aussetzung der Neuauflage »verständlicherweise« erfolgt sei? Auf meine entsprechenden Rückfragen auf Facebook äußerte sich Drees eher ausweichend. Er könne die Entscheidung des Verlages nachvollziehen, antwortet er. Aber wieso? Weil 112 Menschen, von denen mit großer Wahrscheinlichkeit niemand das Buch gelesen hat, glauben, dass eine Lektüre unzumutbar sei, sollen die Verlage in vorauseilendem Gehorsam einknicken? Wäre es nicht Aufgabe der Kritik, ein solches Verhalten von Verlagen wenigstens zu befragen?
Einige Kommentatoren, von denen anscheinend ebenfalls niemand das Buch auch nur ansatzweise gelesen hat, schlagen sofort eine »kommentierte Ausgabe« als Kompromiss vor. Erinnerungen werden wach an die Zeichentrickfilmreihe »Schweinchen Dick« im ZDF in den 1970er Jahren. Da die Zeichentrickfiguren dort massenweise von Felsklippen hüpften oder Dynamitstangen um sie herum explodieren, um dann wenig später wieder unversehrt dazustehen, gab es Proteste gegen »gewaltverherrlichende Darstellungen«. Eine Zeit lang wurden dann entsprechende Hinweise in die Filme eingebaut, sinngemäß etwa »In Wirklichkeit kann man nicht einen Sturz über einen Abgrund überleben«. Schließlich setzte man die Reihe ab. Vermutlich, weil die Erwachsenen, im Gegensatz zu den Kindern, Fiktion von Realität nicht unterscheiden konnten. Man sieht also: Cancel-Culture ist nicht unbedingt ein Phänomen der Gegenwart.
Die Tatsache, dass sich empfindliche Seelen über Bücher empören, ist eine Sache. Man kennt die Spießer, die alles, was sich außerhalb ihres eingezäunten Horizonts bewegt, am liebsten verbieten möchten. Und man könnte darüber lachen, wenn nicht binnen weniger Tage zwei große Verlage derart feige eingeknickt wären. Die Botschaft: Es genügen wenige Personen, die zwei deutsche, renommierte Großverlage dazu bringen können, ein Buch vom Markt zu nehmen bzw. nicht mehr neu aufzulegen. Zukünftige Autoren der beiden Verlage können sich in der Zukunft nicht sicher sein, dass, wenn es ein paar wenige Menschen wollen, ihre Verleger für ihre Sache eintreten.
Die Frage, die weit über dieses Buch hinausgeht: Müssen sich jetzt andere Verlage um ihre »problematischen« Ausgaben sorgen? Was ist mit Robert Levines »Die große Verführung« oder Doris Langley Moores »Spielregeln für die Frau von Welt« (von 1928)? Nicht auszudenken, wenn die mit jakobinischem Furor ausgestatteten Nichtleserinnen sich in Zukunft noch um literarische Werke »kümmern« würden. Giacomo Casanovas Verführungsberichte etwa. Vielleicht D. H. Lawrence »Lady Chatterley«? Oder die Aufzeichnungen eines Marquis de Sade. Georges Batailles Romane, Vladimir Nabokovs »Lolita« oder »50 Shades of Grey« – alles publikationsunwert, büchregelverbannungsnotwendig?
Letzteres Werk findet sich tatsächlich in der Spitzengruppe derjenigen Bücher, die man beispielsweise aus Bibliotheken oder Schulen versucht hat, zu entfernen, wie man auf der Liste der »banned books« der Dekade 2010–2019 sehen kann. Die Liste macht auch vor Literaturnobelpreisträgern oder Klassikern nicht halt. Irgendwas ist ja immer und irgendwas wird immer bleiben; das Stigma »umstritten« ist fast immer sicher. Den Empörungswilligen steht also ein umfangreiches Potential für erneute Initiativen bereit. Wenn dies zu kompliziert ist, bleibt immer noch die Bibel. Oder der Koran?
Die Forderung eines betreuten Lesens, mit dem Leser und Leserinnen die »richtige« Denkweise durch entsprechende Kommentare, pardon: Einordnungen vorgegeben werden sollen, erfreut sich in letzter Zeit immer größerer Beliebtheit. Der Neigung, sperrige oder missliebige Texte durch vorauseilenden Paternalismus dem dummen Rezipienten erklären zu wollen, nimmt zu. Natürlich vor allem, weil dies mit Distinktionsgewinnen für die (Welt-)Erklärer verbunden ist.
Und vielleicht sollte man den Vorschlag noch um die Forderung nach einem Selbstbezichtigungsnachwort des Autors, der Autorin, erweitern: In Büßergewand und mit einem Schild vor der Brust wird bekannt, gefehlt zu haben. Es gibt sicherlich noch einige Anleitungen hierzu aus den Zeiten der chinesischen Kulturrevolution.
Ich habe das Buch von Greene auch nicht gelesen. Und ja, womöglich ist es tatsächlich nicht besonders schlimm, wenn ein Verführungsratgeber nicht mehr neu aufgelegt wird. Aber diese Entscheidung darf man nicht aufgrund einer diffusen Empfindung von 112 Menschen treffen, die das Buch nicht gelesen haben. Wer vor diesem Befindlichkeitsmob einknickt, wer Angst hat vor Scheißhausstürmen im Internet, verletzt sein verlegerisches Ethos. Und eine Literaturkritik, die devotes Verständnis dafür äußert, ohne sich ausgiebig mit der Materie beschäftigt zu haben, liefert keinen Ausweis von Professionalität.
Wieder ein Stück Cancel Culture und ein neuer Fall von betreutem Lesen. Nun kann man natürlich sagen: ein Verlag hat das Recht, das was ihm nicht gefällt aus dem Programm zu nehmen. Aber in diesem Falle ist es doch ein wenig anders: Man nimmt etwas nicht nachträglich aus dem Programm, sondern man nimmt es von vornherein erst gar nicht ins Programm, wenn einem Verlag der Inhalt nicht gefällt. Der Inhalt mag sein wie er will: wenn ein Verlag etwas nicht möchte, dann bringt er es nicht ins Programm. Das ist sein gutes Recht. Aber dieses nachträgliche Canceln ist ein Zeugnis von Feigheit und daß da einige Leute keinen Arsch in der Hose haben. Da liegt das Problem. Vermutlich aber wurde das Buch wurde von den Programmmachern oder dem Lektor gar nicht erst gelesen und das kann man hinterher dann schlecht zugeben. Oder es wurde gelesen und nicht für schlimm befunden. Dann hat es im Programm zu bleiben und es ist die übliche Feigheit der üblichen Verdächtigen vor ein paar Krakeelern.
PS: Daß das Buch, wenn der Inhalt derart schlimm sein soll, überhaupt ins Programm genommen wurde, ist dann um so trauriger. Die passende Antwort an den Autor wäre es gewesen: »Das paßt nicht in unser Verlagsprofil!« Nachträglich aber sowas zu fahren, hat einen mehr als schalen Beigeschmack.
Kleine Korrektur: Man nimmt es eben doch praktisch aus dem Programm, nachdem es dort seit 2002 stand. Es geht um eine Neuauflage. Wobei die Stellungnahme der beiden Verlage missverständlich ist:
»Zeiten ändern sich. Die gesellschaftliche Debatte zu toxischen Beziehungen und psychischem Missbrauch hat zu Recht zugenommen, ebenso die Erforschung dieser Felder. Damit einher geht eine gestiegene Sensibilität – die einen solchen Umgang mit dem Gegenstand fragwürdig macht. Das geht auch uns so. Wir haben das Buch nun erneut betrachtet, in beiden Verlagen diskutiert und werden es nicht weiter verkaufen.“
Dass man es nicht weiter verkaufen will, bedeutet dann ja auch, dass evtl. Restposten vom Markt gezogen wird.
Dabei stellt sich die Frage, woher die Entrüstung über eine Neuauflage eigentlich kommt. Normalerweise wissen davon nur Verlagsmitarbeiter.
Danke für das Aufgreifen – inzwischen habe ich das Buch gelesen, mit Hanser, dtv und einem Juristen gesprochen und leider keine Antwort erhalten von dem @Sufragette-Instagram-Account. Ich sitze an einem Kommentar, der an diesem Freitag um 16:10 im Dlf-»Büchermarkt« laufen wird.
Vielleicht haben die, die die jetzt so schreien vielleicht doch »50 Shades of Grey« gelesen? Ich kann mir den Erfolg dieses Machwerks nicht erklären.
Ja, leider ist es so, daß, durch solche »Medien« wie FB oder auch Webseiten / Blogs, ermögtlicht, ein zensiergeiler, literaturferner Pöbel die Bravheitspeitsche schwingt.
Die wollen etwas verbieten sind aber selbst nicht einmal in der Lage, rechtliche Anforderungen wie Impressum etc. umzusetzen
Der kreischende fordernde Pöbel hat das Lesen und das Denken schon längst aufgegeben.
Es ist immer dasselbe Phänomen: marodierende Opfer- und Opfer-Vertretungsgruppen setzen Grundrechte außer Kraft. Moral steht über dem Recht, wobei die Legitimation immer dürftig bleibt. Der Begriff CANCEL CULTURE verschleiert den Atavismus, der hier aufbricht; damit erweckt man den Anschein, dass es um etwas NEUES geht.
Es ist aber nichts Neues. Und eine Kultur ist es bestimmt nicht. Es ist eine Gespensterjagd. Den echten Tätern hat man das Handwerk gelegt, oder konnte ihrer nicht habhaft werden; da schwärmt man aus, und findet ähnliche und phantasmatische Gegner. Ich denke, die Psychopathologie ist relativ klar: aus Opfern werden Täter, die auch viele Nicht-Opfer zum Mittun gewinnen! Genau diese Progression wollte der bürgerliche Rechtsstaat verhindern, weil Opfer zwar edlere Motive haben als Täter, meistens, aber nicht zielgenau zuschlagen.
Von der Moral zum Recht ist es ein anstrengender Weg bergauf; ein paar Sprünge hinunter nimmt man dagegen leicht und fast mühelos.
Apropos Manipulation: man nennt sie die weibliche Gewalt. Sie läuft aber nicht zwischen Tätern und Opfern ab, sondern hinten rum! Wobei hinten natürlich »außerhalb« ist, sprich sie geht den Weg der Beziehungsdestruktion, besorgt die Racheakkumulation und bereitet den Ausschluss (sozialer Tod) des paranoid aufgeladenen Gegners vor.
Wer CANCEL CULTURE sagt, meint eigentlich proaktive Paranoia. Man bringt Leute um die Ecke, die man für gefährlich hält.
Am Anfang war das Trauma?! Psychoanalytisch gesehen, nein! Am Anfang war die Paranoia. Und die kann Ausfluß eines Traumas sein, oder aber sonstwo herkommen. Es gibt so viele Begabungen... Wir leben in ziemlich paranoiden Zeiten, wie man auf den Straßen (die sog. Bewegungen) recht gut erkennen kann.
»Proaktive Paranoia« auf Gespensterjagd. Besser kann man es nicht sagen. Merci.
Der Vollständigkeit halber hier Jan Drees’ Kommentar.
Welche Auswirkungen ein solches vorauseilenden Handeln für die Literatur und die Verlagswelt bedeutet, mag man sich nicht ausdenken.
Hier noch einmal die »Aufarbeitung« des Falles in der Sendung LESART von DLF Kultur am 19. Januar 2021
Text:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/hanser-und-dtv-nehmen-buch-vom-markt-das-ende-der-toxischen.1270.de.html?dram:article_id=491065
Audio:
http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2021/01/19/das_ende_der_toxischen_verfuehrung_bei_hanser_und_dtv_drk_20210119_1026_630b8637.mp3