Können wir in Zukunft auf künstlerische Kreativität verzichten?
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Der 1979 in Paris geborene Bratschist Antoine Tamestit, der ein weites Repertoire von Bach und Mozart bis Schnittke und Neuwirth beherrscht, hatte seine ersten größeren Auftritte im Alter von zwanzig Jahren. Seitdem hat sich vieles verändert, der Stellenwert von Videos und sozialen Netzwerken präge längst auch die Klassische Musik. »Jeder möchte berühmt sein, schnell berühmt vor allem. Ich denke, es ist wichtig, zu der klassischen Musik an sich zurückzukommen«, sagte er unlängst im Interview mit der Potsdamer Zeitung. Dafür müsse man sich ihre Geschichte anschauen, als es keine Videos und keine Elektrizität gab. Wichtig sei, sich Zeit zu nehmen. »Ich versuche das, indem ich Bücher lese oder manchmal einen gesamten Tag damit verbringe, eine einzige Partitur zu studieren. Ich gehe in dem Punkt einen entgegengesetzten Weg, was nicht bedeutet, dass ich nicht auch Teil meiner Zeit sein muss. Aber um Kunst zu produzieren, mußt du irgendwie ein bißchen langsamer sein und ein Gehirn haben, das nicht überschwemmt von irrelevanten Informationen ist.«
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Hier eine ganz andere Stimme, sie gehört dem 1976 in Israel geborenen Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari. In seinem Buch Homo Deus stellt er dem Leser David Cope vor, einen – inzwischen emeritierten – Musikologieprofessor von der University of California. Cope hat Computerprogramme zur Erstellung von Klavierkonzerten und Chorälen, Symphonien und Opern geschrieben. Sein erstes Werk zur Erzeugung solcher Werke war der EMI (Experiments in Musical Intelligence), der auf Musik in der Manier von Johann Sebastian Bach spezialisiert war. »Es dauerte sieben Jahre«, schreibt der enthusiasmierte Harari, »doch als Cope damit fertig war, komponierte EMI 5.000 Choräle à la Bach in einem einzigen Tag. Enthusiastische Zuhörer priesen die mitreißende Vorführung und erklärten erregt, wie sehr die Musik ihr innerstes Wesen berührt hätte. Sie wußten nicht, daß sie mehr von EMI als von Bach geschaffen worden war, und als man ihnen die Wahrheit enthüllte, reagierten die einen mit verdrießlichem Schweigen, während die anderen sich lautstark ereiferten.«
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Computer können nur eines, aber das sehr gut, und vor allem schnell: Rechnen. Wenn so eine Maschine imstande ist, ein Lebenswerk wie das von Bach in wenigen Tagen zu produzieren, wird man zuerst einmal sagen: Wow! Im zweiten oder dritten Moment wird aber man sich fragen, wer das alles wann hören soll? Wird mit derartigen Massen von »kreativen« Produkten nicht Kreativität restlos entwertet? Und der nächste Zweifel: Sind die Ergebnisse wirklich so gut? Wer entscheidet, was gut ist? Hararis Vorzeigefigur, der Musikprofessor, meint ohnehin, daß die Bedeutung eines Musikstücks im Ohr des Hörers liege. Womit wir freilich zu dem Schluß kämen, Kunst sei ausschließlich subjektiv, intersubjektive Wertungen und Diskussionen sinnlos. Über Geschmäcker läßt sich nicht streiten. Und in der Tat sind die kunstkritischen Disziplinen mittlerweile weggebrochen, reduzieren sich Stellungnahmen im Kulturbereich auf persönliche Geschmacksurteile (die strenggenommen keine »Urteile« sind), entscheidet immer mehr der statistisch eruierte, in Rankings dargestellte Massengeschmack des Mainstreams.
Harari unterschlägt die gesamte Vorgeschichte von EMI, die damit beginnt, daß der Informatiker als junger Mann ziemlich erfolglos elektronische Musik elektronische Musik komponierte, bis er 1981 eine schöpferische Blockade durchlebte. In der Folge entwickelte er sein Lebensprojekt, klassische Musik durch Computerprogramme automatisch generieren zu lassen. Hört man Cope zu, wie es schon 1997 ein Journalist der New York Times tat, so klingt sein Anspruch bescheiden. Er bezweifelt, daß EMI jemals eine echte Herausforderung für lebende Komponisten darstellen könnte. Er versteht sein Programm als Werkzeug, als Tool, mit dem auch kompositorisch unbegabte Musikliebhaber respektable Stücke hervorbringen können. Das ganze Phänomen paßt also eher in den Kontext des Verfalls der Rezeptionsfähigkeit bei gleichzeitigem Aufstieg des dilettierenden Produzententums von Abermillionen Usern. Alle können komponieren, niemand Musik hören. Alle können Gedichte schreiben, niemand liest welche. Alle stellen mithilfe von Zeichen- und Mal-Tools Gemälde her, die kein Mensch außer ihnen sehen will.
Einige von Copes Computerkompositionen findet man auf verschiedenen Tonträgern bei Amazon. Sie scheinen nicht sonderlich beliebt zu sein. Der Hype der neunziger Jahre ist längst abgeklungen. »Pretty cool and good music«, schreibt ein Amazon-Rezensent über die CD Virtual Bach. Und fügt hinzu: »It’s nice, but it’s hard to find online.« Thanks, Mr. Customer, damit ist das Wesentliche gesagt!
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Antoine Tamestit legt bei der Beschreibung seines künstlerischen Selbstverständnisses und seiner Praxis Wert auf Langsamkeit, Konzentration, Versenkung. Die Art, wie er sich auf ein Konzert vorbereitet, bezeichnet das Gegenteil von Multitasking und Aufmerksamkeitszerstreuung. Er ist ein interpretierender Künstler, doch ähnliches wird auch für Komponisten, Maler und Dichter gelten. Deren Werke entstehen im Widerstand gegen die tägliche Eile (die die meisten von ihnen gewiß auch erfahren), gegen die quantifizierende Lebenseinstellung, gegen das Schielen auf kurzfristige Ergebnisse, die sich »rechnen«. Hier liegt einer der Gründe, weshalb künstlerisches Schöpfertum nicht an Algorithmen delegiert werden kann. Es ist vielleicht nicht einmal so sehr die Individualität, die irreduzible Differenz, der sogenannte »unverwechselbare Stil«, der diese spezifisch menschliche Tätigkeit ausmacht. Verständlich, daß sich Künstler auf den Schlips getreten fühlen, wenn behauptet wird, ihre Arbeit könne von Algorithmen übernommen werden. »Ich fürchte jedoch, Lydia Mischkulnig ist Lydia Mischkulnig ist Lydia Mischkulnig und bleibt auf mich angewiesen«, schloß sie einen Essay zu diesem Thema. Aber waren Künstler nicht immer überflüssig? Sind sie nicht die besten Beispiele dafür, daß wir als menschliche Gemeinschaft auf das Überflüssige nicht verzichten können?
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Bei einer der Aufführungen von Copes EMI-Musik war auch der Informatiker Douglas R. Hofstadter zugegen. Dieser hatte 1979 in seinem Bestseller Gödel, Escher, Bach definitorisch geäußert: »Musik ist eine Sprache von Gefühlen, und solange Computerprogramme keine Gefühle besitzen, die so komplex sind wie die menschlichen, werden sie niemals ein schönes Kunstwerk produzieren.« Komplexe Gefühle aber können Algorithmen und Roboter bisher nur in Werken der Science-Fiction vorweisen, und selbst da fragt sich, ob es sich nicht um Simulationen handelt. Hofstadter, der 1997 den Vorsitz bei einer Veranstaltung an der University of Oregon innehatte, wo EMI gegen »richtige«, von Menschen gemachte Musik antrat, zeigte sich bei dieser Gelegenheit zutiefst verunsichert. Im selben Jahr trat der Schachcomputer Deep Blue gegen Garri Kasparow an; das Schachspiel läßt sich auf Rechenoperationen und Vorhersagen reduzieren, und je größer die Datenmengen sind, die ein Spieler, ob menschlich oder künstlich, gespeichert hat und einsetzen kann, desto erfolgreicher wird er sein. Aber bei Musik geht es um Gefühle, nicht ausschließlich um Kompositionstechniken (Harmonielehre, Rhythmik, Gesamtarchitektur eines Werks), die Menschen durch eifriges Studium erlernen können. Letzten Endes blieb Hofstadter bei seiner Ansicht: «Wenn ich zufällig im Radio drei Sekunden EMI höre und mich frage, was das ist, würde ich antworten: Bach. Aber wenn ich das Stück 20 oder 30 Sekunden laufen lasse, macht es keinen Sinn mehr. Es ist, als würde ich zufällig zusammengewürfelte Verse eines Sonetts von John Keats hören. Du fragst dich, was mit Keats an jenem Tag los war. Hatte er zuviel getrunken?” Ein Originalkunstwerk als Ganzes könne durch den Einsatz von Computerprogrammen allein nicht entstehen. Bestenfalls etwas wie Kühlschrankpoesie. Darin hat sich der Avantgardedichter Franz Josef Czernin einst versucht.
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Selbst dann, wenn man EMI-Kompositionen aufgrund seines persönlichen Geschmacks wunderbar findet, es kann immer nur um Imitationen gehen. Einen eigenen Stil haben Copes Algorithmen nicht entwickeln können. Die futuristische Kunsttechnologie bleibt auf die Vergangenheit fixiert, nicht anders als kriminelle Fälscher, die alte Kunstwerke »täuschend echt« nachmachen, um damit Käufer ködern, die natürlich immer wieder auf sie hereingefallen sind. Oder, mit den Worten einer EMI zweifellos gewogenen Musikerin, der Pianistin Linda Burman-Hall, die in einem Klavierkonzert à la Mozart aufgetreten war: «Es fühlte sich ein bißchen anders an, als wie wenn man ein normales Mozart-Stück spielt. Aber es war doch so ähnlich wie ein Werk aus derselben Periode. Also, es kam ungefähr hin.« Burman-Hall hebt hervor, daß EMI dann am besten sei, wenn die Maschine »apollinische«, also mit rational nachvollziehbaren Techniken arbeitende Komponisten wie Bach oder Mozart nachahme; bei Beethoven oder auch bei Carl Philipp Emanuel Bach, dem Sohn Johann Sebastians, seien die Ergebnisse viel bescheidener.
Kürzlich hat sich auch ein chinesischer Telekommunikationskonzern in der Nachahmung eines Klassikers versucht, und zwar eines eher dionysischen, vulgo romantischen: Techniker von Huawei vollendeten Schuberts Unvollendete. Wozu eigentlich, wird man sich fragen. Hat so ein großes Fragment nicht seinen eigenen Reiz? Fühlen sich unsere perfektionistischen Informatiker wirklich durch derlei Unvollkommenheiten gestört? Oder ging es ohnehin nur um eine Werbe- oder Propagandaaktion? Der Musikkritiker der Neuen Zürcher Zeitung attestierte den chinesischen Computerkünstlern, noch nicht sehr weit gekommen zu sein bei der »Ergründung der Schöpfungsgeheimnisse des Abendlandes«. Das Resultat sei »fast zu schlecht, um sich darüber Gedanken zu machen, etwas in der Art von »Fahrstuhlmusik des mittleren 20. Jahrhunderts«.
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Musikalische Kompositionen schaffen Formen, errichten Verhältnisse zwischen einzelnen Formelementen, bilden Strukturen – ihnen eignet für sich genommen aber kein Inhalt. Diese Eigenschaft teilen sie mit der Mathematik (und Informatik). Es ist nicht überraschend, daß Mathematiker häufig musikalisch begabt sind, während sie zu anderen Kunstformen keinen privilegierten Zugang haben. In der Literatur und in der bildenden Kunst, ausgenommen die abstrakte, ist das anders, Formbewußtsein verbindet sich hier mit Inhalten, Aussageintentionen, Ausdrucksbedürfnissen. Allein schon aus diesem Grund dürfte es problematischer sein, Computerprogramme Literatur produzieren zu lassen. Man kann es natürlich tun, und es wird auch getan, doch Intentionen, Gefühlsausdruck, Entscheidungen über Inhalte, Bezugnahme zu Welten wird man ihnen nicht einhauchen können. Solche Programme gehen mit Korpora um, die ihnen eingespeist wurden und die sie analysieren, sie führen Befehle aus und gehorchen Regeln. In diesem Sinn sind sie grundsätzlich konformistisch, während künstlerischer Ausdruck als menschliche Tätigkeit oft genug von Regeln und Regelmäßigkeiten abweicht. Kunst ist in potenziertem Maß Gebrauch menschlicher Freiheit. Wie David Copes EMI – und im Unterschied zu menschlichen Künstlern – können Algorithmen in kurzer Zeit abertausende »Werke« ausspucken. Bei der Ausstellung »Künstliche Intelligenz?« im Wiener Technischen Museum können sich die Besucher derzeit (2021) von einem »Gedichte-Bot« – warum nicht Poebot, das wäre ein hübscher Markenname! – ein »persönliches« Gedicht ausstellen lassen. Auf Wunsch bekommt man es im Handumdrehen in die Hand.
Diese und andere interessante Informationen finde ich in einem Aufsatz des österreichischen Autors Günter Vallaster. Er gibt einen Überblick über die Geschichte technisch orientierter Dichtung, mit den Vorläufern im Barock, den modernistischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Konkreten Poesie nach dem zweiten Weltkrieg. Vom ersten computergenerierten Gedicht, das Nanni Balestrini – der spätere Stadtguerrillero – 1961 verfaßte, ist es noch ein ziemlich weiter Weg bis zu den intelligenten, d. h. »lernfähigen« und daher vergleichsweise selbständigeren Poesiealgorithmen des 21. Jahrhunderts, die mitunter als Autoren oder Dichter bezeichnet werden (die Verfasser des Programms selbst sind ihre »Eltern«). Bei aller fortgeschrittenen Digitaltechnik sehe ich in der zeitgenössischen Technopoesie allerdings nichts, was nicht Konkrete Poesie und Popart schon vor sechzig, siebzig Jahren hinter sich gebracht hätten. Es läuft jeweils darauf hinaus, angestammten Bereich der Literatur, in welchem Bildlichkeit, Musikalität und intentionales (oder referentielles) Sprechen immer aufs neue integriert werden, zu verlassen und die Produktion zu radikalisieren, indem man eine dieser Seiten absolut setzt: Lautgedichte, visuelle Gedichte, Konzeptkunst. Zufall und Serialität in die kreativen Prozesse eingeführt…
War alles schon da. Muß man es wiederholen? Vallaster bricht eine Lanze für die Patina der Retro-Avantgarde. Das ist natürlich Geschmackssache. Ich für meinen Teil habe die jugendliche Begeisterung für Konkrete Poesie, Dadaismus, Futurismus überwunden – und schätze Jandl, Gomringer und Konsorten immer noch. Nora, die Tochter Eugen Gomringers, führt die väterliche Tradition weiter, kehrt das Spielerische am Sprachspiel hervor, rückt ab von avantgardistischer Radikalität, sucht die »avancierten« Techniken mit Aussageintentionen zu verbinden und schafft das locker. Das ist ihr Weg, einer von vielen, im weiten Feld der Literatur.
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Aber Retro-Avantgarde? Das allgemeine Publikum ist auf diese Weise sicher nicht zu erreichen, auch nicht die Minderheit, die sich überhaupt für – fast hätte ich gesagt: echte – Literatur interessiert. Technopoesie spielt sich heute in Zirkeln von Spezialisten ab, sie wird eher ausgestellt und angeschaut als gelesen, mehr gemacht als rezipiert. Fortschreitende Ausdifferenzierung: IT-Poesie als Subgenre experimenteller Literatur. »Auch hinter der IT-Poesie stehen Menschen, die poetische Ideen, Konzepte und forscherische Fragestellungen ersinnen, die Programme dazu schreiben, das Datenmaterial oder ein Textkorpus zusammenstellen und aus den in den Programmläufen ermittelten Ergebnissen auswählen. Von sich aus macht ein Rechner (noch) nichts Literarisches«, schreibt Vallaster, und damit hat er recht. Jemand wie ich, der sich seit Jahr und Tag in den Gefilden dessen herumtreibt, was die Avancierten als »Low-Tech-Literatur« bezeichnen, stelle ich ganz schlicht die Wertungsfrage: Hat das denn ästhetische Qualität? Beispielsweise dieses mithilfe einer Programmiersprache erstellte Gedicht Ruby von Nick Montfort, Professor am Massachusetts Institute for Technology, von dem ich hier die beiden ersten »Strophen« – im Grunde genommen wäre alles hier unter Anführungszeichen zu stellen – zitiere, weil der Rest im selben Ton weitergeht:
amid the care
and lose your air
better be wing
another there
a distant care
a loaf of ne’er
by logic dust
and by the dare
Und so weiter. Der Dichter-Professor hat seinem Programm befohlen, in jeder Strophe einmal zu reimen, einmal nicht. Die Anzahl der Silben ist immer gleich, Verben sind selten, kaum Syntax vorhanden, keine richtigen Sätze, aber immerhin Wortkombinationen, die man als solche (an)erkennen kann: Es ist nicht bloß ausgeschüttetes Sprachmaterial, wie wenn man das Scrabble-Säckchen auf den Tisch leert oder die Magnetpoesie am Kühlschrank durcheinanderbringt. Das Gedicht Ruby wirkt auf mich eintönig, ohne Aussage, die Form uninteressant, selbst die nette Verbindung »logic dust«, logischer Staub, löst in solchem Kontext nur Achselzucken aus. Wozu das Ganze? Auch in der Selbstzweckhaftigkeit der Kunst: Das ist nicht einmal parasitär.
In anderen Fällen stellt sich die Frage, ob die Fehler- und Stümperhaftigkeit der Texte, die semantische Holperigkeit oder, wohlwollend formuliert, die von den gebräuchlichen Normen abweichende Sprache nun beabsichtigt ist oder nicht, etwa in einem Gedicht des slowakischen Poebots Liza Gennart, das ebenfalls von Vallaster zitiert wird. Systematisches Abweichen gehört mindestens seit dem Beginn der Moderne zur Dichtersprache, die eine Fremdsprache innerhalb einer gegebenen Sprache konstituiert. Bei computergenerierten Texten wird die Frage, ob echte Abweichung oder zufällige Fehler, unentscheidbar, weil keine Aussageintention jenseits des Befehls »Dichte uns mal was!« vorliegt. Ich zitiere Liza: »Und darum geht es: unbedingt nur, daß es nichts bedeutet.« Also reines Spiel? Bloße Dekoration? Oder bedeutet auch diese Aussage über die Bedeutungslosigkeit einfach nur – nichts? Und warum haben die Eltern Lizas gerade dieses Textstück ausgewählt? Welches ist ihre Intention? Beziehen sie die Aussage auf das Funktionieren ihres Bots? Geht es darum?
Hinter all diesen Aktivitäten, wenn »Kreativität« auf Maschinen abgewälzt wird, steht keine Person – es sei denn, der Programmierer, der uns jedoch nichts sagen will, außer daß »es« funktioniert. Der Autor ist abgeschafft, aber lohnen sich Interpretationen, lohnen sich überhaupt Lektüren, wenn man das zu Lesende auf keine Person beziehen kann, sei sie auch namenlos, ein unbekannter Meister? Was will uns der Autor sagen? Diese gewiß sehr naive Frage rührt an den Keim dessen, was man »Verstehen« nennt. Was will uns der Algorithmus sagen? Literatur ohne Autor scheint mir ungefähr so spannend wie ein Schach-Wettbewerb, bei dem nur Computer gegeneinander antreten. Spezialisten und Freaks werden sich an den Kalkulationskünsten der »Gegner« delektieren, normale Schachfreunde aber werden sich bald abwenden. Dabei geht beim Schachspiel um rein formale Prozesse. Literatur integriert Inhalt und Form, oder sie ist keine, bestenfalls Grenzbereichskunst.
In der sogenannten Neuen Musik hat die Elektronik längst Einzug gehalten. Es handelt sich dabei in der Regel nicht um automatisierte Kompositionen, elektronische Maschinen sind einfach nur Instrumente, die sich gegebenenfalls mit traditionellen – »Low Tech« – zusammenspannen lassen, so daß sie gemeinsam tönen. Noch in der prädigitalen Epoche hatten etwa Mauricio Kagel oder Luigi Nono Klavier und Tonband kombiniert. Die automatischen Kompositionen David Copes arbeiten mit traditionellen künstlerischen Verfahren, sie sollen »so klingen, wie…«: Bach, Mozart etc. Im Glücksfall sogar: besser. In der Literatur käme man nicht auf die Idee, im 21. Jahrhundert eine große Zahl von Romanen à la Goethe, Balzac oder Dostojewski durch Algorithmen anfertigen zu lassen (ich weiß nicht, ob das auch machbar ist). Oder doch? Vielleicht für den Hausgebrauch… Jeder, buchstäblich jeder, der einen Personalcomputer zu bedienen weiß, kann sich sein Meisterwerk schaffen. Wir brauchen keine alten Meister mehr, weil wir dank Elektronik und ausgeklügelter Programme selbst welche sind. Auch hier gilt: Der Kunde ist König!
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Lydia Mischkulnig fragt zurecht: Wer wird das Gute vom Schlechten filtern? Bisher war die geläufige Antwort: Der Literatur- oder Musikkritiker, der etwas von der Sache versteht. Sowie andere Autoren, Musiker, Maler. Leute mit Erfahrung. Und auch mit Geschmack, ja, aber jenseits zufälliger Vorlieben: Einen guten Musikgeschmack muß man sich erst einmal erwerben. Doch in der digitalen Welt, deren Massenmedien sich »demokratisch« und »sozial« nennen, wo de facto aber Lautstärke, Werbestrategien und Manipulation triumphieren, ist man auf Autoritäten, Eliten und Experten nicht gut zu sprechen. Das Ergebnis dessen sehen wir in letzter Zeit immer öfter: Ahnungslose, egoistische Selbstdarsteller kommen ans Ruder. Demgegenüber sehe ich nur eine redliche, für Künstler im Grunde genommen selbstverständliche Haltung: Auf Erfahrung, Sachwissen, Bildung, Einfühlungsvermögen, Interpretationskunst zu bestehen, gegen Wind und Wetter. Wenn wir untergehen müssen, dann lieber mit echter Schubert- und Mozartmusik.
© Leopold Federmair
Ihre Haltung kann ich nachvollziehen. Es liegt mir auch fern, sie umstimmen zu wollen, jedoch möchte ich im Folgenden darlegen, warum ich in einigen Punkten mittlerweile zu gegenteiligen Auffassungen gelangt bin.
Größtenteils liegt das wohl an Daniel Dennett. Gegen dessen Naturalismus hatte ich mich anfangs auch mit starken Gefühlen, den Ihrigen nicht unähnlich, gesträubt: Nein, das Bewusstsein, muss doch etwas Irreduzibles sein, das ist doch mehr als so eine schnöde Neuronensimulation je hervorbringen wird. Aber da ließe sich gleich einer seiner Tricks anwenden: Was, wenn wir dieses Überlegenheitsgefühl, das du gegenüber der Neuronensimulation empfindest, dieser einimpften? Diese also nun auch herumstolzierte, mit der festen Überzeugung, sie sei mehr als eine bloße Simulation? Verwischten sich dann nicht irgendwann die Grenzen so sehr, dass wir dieser »Simulation« nur schwerlich das Bewusstsein absprechen könnten? Gerade weil uns zu diesem, bei einem Gegenüber, ja immer die Introspektion fehlt.
Klar hat die Gegenseite diesen letzten Teil auch als Argument verwenden wollen. So Thomas Nagel, der »argumentierte«, niemand könne nachempfinden, wie es sich von innen her anfühle eine Fledermaus zu sein. Nur wird hier schwerlich etwas bewiesen, sondern wie so meist, dieses mystische, irreduzible Dieses-Wesen-Sein, diese Innenerfahrung einfach gesetzt.
Womöglich ist dies die vierte(?) kopernikanische Wende, dass dem Ich-Bewusstsein sein Nimbus abgesprochen wird, wenn es sich nicht mehr um einen göttlichen Hauch und Einzigartiges handelt, sondern die Natur ein Kontinuum solcher Zustände in Tieren hervorbringt und auch einer Maschine ein solcher nicht prinzipiell abgesprochen werden kann. Demnach sollte auch die Kunst sich schlechterdings darauf berufen.
Fruchtbar für mich war auch Dennetts Kritik an unbegründeten »Intuitionen«. Etwas das wir vielleicht mit Alphago gesehen haben, wo die Maschine einiges an jahrhundetealten Intuitionen (Joseki) über Bord geworfen hat. Wobei Go wohl noch in dem Prozess steckt, den Schach schon durchlaufen hat.
Ihem Einwurf:
»Literatur ohne Autor scheint mir ungefähr so spannend wie ein Schach-Wettbewerb, bei dem nur Computer gegeneinander antreten. Spezialisten und Freaks werden sich an den Kalkulationskünsten der »Gegner« delektieren, normale Schachfreunde aber werden sich bald abwenden.«
Muss ich so zweifach entgegenhalten, dass
1. Schachcomputerwettbewerbe tatsächlich ihren Reiz haben, auch für Amateure (z.B. wenn sie so analysiert werden: https://www.youtube.com/watch?v=QSZRJNiz8ac )
2. Die Literaturkritik vorauseilend den Tod des Autors bereits 1967 verkündete.
Für die Schachspieler sind die Engines längst Teleskope geworden, weiter zu blicken. So sollten die Computer doch auch einmal Fährräder für den Geist werden. Gerade als jemand, der sein täglich Brot mit digitalen Erzeugnissen verdient, bin ich da immer skeptischer was die globalen Gemengelagen betrifft. Aber allgemein gesehen: Warum sollten wir einen Unterschied machen zwischen einem Artefakt, z.B. einer Musikaufnahme, und einem Artefakt, das von einem Artefakt erstellt wurde, z.B. dem Computerprogramm, dass eine Partitur in eine Orchesteraufnahme umwandelt. – Von letzterem las ich auch ein paar erheiternde Dinge: z.B. dass damit diese Aufnahmen nicht zu glatt und fehlerlos wirkten, noch »künstlich« kleine Bogenquietscher oder ähnliches eingebaut würden und dass die teureren Varianten dieser Programme schon die Klangfarben einzelner Orchester verwechslungsecht nachempfänden. Das ficht die Kunst doch nicht an.
Ich hoffe, ich habe meine eigene Position einigermaßen umreißen können: Dass das »elektronische Gehirn« als solches keine Herausforderung des menschlichen Geistes darstellen sollte, außer dieser verkrampft sich im Glauben an seine Alleinstellungsmerkmale (um dann in all diesen »geschlagen« zu werden) – leider sind aber wohl gesellschaftliche und ökonomische Digitalumwälzungen im Gange, die einiger Kunst den Garaus machen werden, dies ist jedoch gesondert davon zu betrachten.
Bach und Mozart sind Formalisten. Übrigens auch Prokofiev. Es ist für jeden Musikologen ein Vergnügen, die Regeln und Strukturen aufzuschlüsseln. Mit diesem analytischen Erkenntnissen lassen prinzipiell Programme schreiben, die eine formal identische Komposition hervorbringen.
Aber nach 30 Sekunden, also einer »seriellen Wahrnehmung«, merkt man wie Hofstaedter, dass etwas nicht stimmt. Ich würde besser sagen, dass etwas fehlt. Es gibt eben nicht nur die formale Ordnung. Dieser Mangel fällt um so deutlicher ins Gewicht, je freier der Komponist verfährt. Niemand zwingt Dich, in einer Sonate unbedingt eine Variation des zweiten Themas am Ende der Durchführung zu bringen. Außer Du bist ein Computer! Dann musst Du es leider machen. Von einem meta-technischen Standpunkt aus ist die »Kreativität« der Programme stark eingeschränkt. Demgegenüber kennt der Mensch (verstanden als innere Erfahrung) eine Dimension, die er selbst nicht zu 100% kontrollieren kann: Kreativität ist überwiegend die Quelle von Unsinn, und erst mit etwas Übung wird daraus eine Kunstfertigkeit zur Generierung von »Überraschungssinn«. Das mit dem Unsinn haben die Programme schon ganz gut drauf. Aber da fehlt ja wohl noch was...
Zur Ökonomie der Kunst: Die Kunst ist einer der unfairsten Wettbewerbe, an denen man teilnehmen kann. Die Erfolgsstatistik (gemessen an Prominenz, Einkommen, kulturelles Gedächtnis) folgt einer Pareto-Verteilung. Bedeutet: The Winner takes it all, und Shakespeare führt seit langem die Bestenliste an.
Die Frage, ob das Gute das Schlechte filtern wird, ist erschreckend naiv. Wer das noch nicht gemerkt hat, der sollte am besten gar nicht antreten. Das Schlechte wird vollständig und für alle Zeiten unwiderruflich vom Guten gefiltert.
Das Aussieben übersteigt auch die unmittelbaren subjektiven Geschmacksfragen, und bringt tatsächlich eine ökonomische Dimension ins Spiel. Zur Erinnerung: die Frage, welches Buch würdest Du mit Dir auf eine einsame Insel nehmen, unterliegt dem Prinzip »Knappheit«.
Die Menschheit hat genau dasselbe Problem. Man hat nicht genug Zeit. Man muss auswählen. Man sucht Rat. Man kriegt die bekannten Antworten... Wie sich später herausstellt, sind die meistens richtig.
Selektion funktioniert. Und wie in der Natur kann man das grausam finden, oder die Effizienz bewundern.
Ich wüsste nicht, warum sich die Künstler vor den Computern fürchten sollen. Sie müssen sich vor dem Vergessen fürchten.
Vor zwei Jahren erschien ein Buch von Kathrin Passig mit dem Titel »Vielleicht ist das neu und erfreulich«. Der Untertitel lautet: »Technik. Literatur. Kritik.« Passig gilt – warum auch immer – nicht nur als Autorin, sondern auch als Schriftstellerin, wobei ihr einziges »Werk« eine Erzählung darstellt, mit der sie den Bachmannpreis 2006 gewann.
In dem Buch (wohl eine Summe einer Vorlesungsreihe) nimmt sie dezidiert Stellung zu kulturkritischen Äußerungen über Literatur, Poesie und Literaturkritik. Der Tenor – salopp zusammengefasst: Alles nicht so schlimm. Alles nur Gerede von Leuten, die in alten Strukturen aufgewachsen sind und nicht damit klarkommen.
Sie nimmt eindeutig eine positive Haltung zum Beispiel zu Gedichten ein, die von Computern erstellt wurden. Passig glaubt, »dass künstliche Intelligenz, an der ja nicht erst seit gestern, sondern schon seit Jahrzehnten geforscht wird, inzwischen manchmal ganz brauchbare Texte liefert« und beschreibt, wie sie Bots programmiert hat, um Varianten von Gedichten zu erzeugen.
Für sie ist kein Unterschied darin, ob diese ein Mensch direkt verfasst hat oder nicht. Schließlich hat es mindestens irgendwann eines Menschen bedurft, den Bot (das Programm) zu erschaffen. Entscheidend bleibt dann nur, ob das Gedicht »gut« sei oder nicht (sie ist hier recht unideologisch und führt ein Beispiel an, mit dessen Resultat[en] sie nicht zufrieden ist).
Einen KI-Text solle man nicht per se verwerfen sondern besser fragen: »Wer hat die Templates geschrieben, so wie bei Racter? Unter Verwendung welches Materials? Gab es Gelegenheit, vor der Veröffentlichung noch heimlich alles Ungrammatische oder Uninteressante rauszuwerfen?«
Ich will das nicht weiter ausführen. Entscheidend scheint mir zu sein, dass versucht wird, die Autorschaft auf eine zweite Ebene zu heben. Man kann das als Verwässerung oder als Präzisierung verstehen. Verwässerung dahingehend, dass ich nur eine Maschine erschaffen habe, die etwas ausführt. Deren Produkt ist – im Gegensatz zu Fertigungs- oder Dienstleistungsrobotern – nicht streng an einer Leistung gekoppelt, sondern »lernt« sozusagen Kreativität.
Aber, und das ist die Frage, ist das »Kreativität«? Und/oder: Ist die Auswahl des Menschen aus dem »Angebot« des Gedicht-Bots ebenfalls »Kreativität«?
Im Link von @phorkyas über den Wettbewerb der beiden Schachmaschinen (vielen Dank dafür) heisst es am Ende: Kein Mensch kann so spielen. Aber der Mensch kann es nachvollziehen, warum Stockfish so gespielt hat. Nun ist Schach streng genommen ein empirisches Spiel. Hier kommt es auf die Rechentiefe an: Welches Programm kann tiefer rechnen? Am Ende steht ein Resultat, eine »Wahrheit« – Gewinn, Verlust oder Remis. So etwas gibt es m. E. in der Literatur nicht.
@die_kalte_Sophie
Ich wüsste nicht, warum sich die Künstler vor den Computern fürchten sollen. Sie müssen sich vor dem Vergessen fürchten.
Ich wusste doch, dass unter der harten Schale ein Romantiker-Kern schlummert.
Interessant ist übrigens, ob das Vergessen durch den »Computer« bzw. dessen Software am Ende nicht sogar beschleunigt wird. Immerhin kann man die fast 2000 Jahre alten Evangelien heute noch entziffern. Ob Dateien derart robust sind, muss sich erst noch erweisen.
[Die Frage, ob das Vergessen durch den »Computer« bzw. dessen Software am Ende nicht sogar beschleunigt wird...]
Mathematisch bin ich da überfragt. Es könnte sein, weil Pareto-Verteilungen einen Kick-Off Ausgang haben. Irgendwann sind die erfolglosen (meistens verlierenden) Teilnehmer raus, und die Überlebenden machen die Ralley weiter unter sich aus. Der Input von neuen Spielern folgt in der Regel einer Normalverteilung, die im Laufe der Zeit immer wieder in die Pareto-Kurve transformiert wird. Man kann das farbig illustrieren, dann sieht man wie die Normalos sich im Pool (Hintergrund) langsam verteilen.
Modell-theoretisch ist das schon anspruchsvoll: wenn ich regelmäßig (sagen wir alle 20 Jahre; Generationentakt) ein Ensemble von Teilnehmern in den »Kunstmarkt« einschleuse, die sich dann gegenseitig die Pfründe abjagen, werden einige wenige an die Spitze des Erfolgs klettern, einige halten sich im Mittelfeld und die meisten werden aussortiert.
An die Spitze, heißt, sie können im diachronen Wettbewerb für sehr lange Zeit bestehen, –eine Vorstellung, die von unserer Lebenserfahrung stark abweicht, denn es wäre so, als ob auch die Verstorbenen noch weiter »konkurrieren«. Umgekehrt wird sich so mancher arme Poet dagegen verwahren, wenn der himmlische Schiedsrichter (=Gesetze der Mathematik) bereits zu Lebzeiten bekannt gibt: »Du bist raus!«.
Tatsächlich wird die Normalverteilung bei den Künstlern ja am schlechten Ende aufgestockt, wenn die AI auch noch mitmachen darf. »Noch viel mehr Dilettanten als üblich«, wären dann im Wettbewerb. Genau daraufhin müsste man das Modell befragen: ist die Wahrscheinlichkeit rauszufliegen bei der Einbeziehung »künstlicher Intelligenzen«, also vieler dramatisch unbegabter Teilnehmer, höher als nur bei einer rein menschlichen Statistik...
[Kann das mal eben jemand programmieren?!]
@die_kalte_Sophie
Ehrlich gesagt, verstehe ich kein Wort. Es ging mir darum, ob Dateien irgendwann einmal schlichtweg mit der dann existierenden Software nicht mehr rekonstruierbar sind. Mechanisch ist das ja heute bspw. mit der VHS-Cassette so. Der sicherste Weg, etwas zu speichern, was nicht mehr problemlos sichtbar ist, besteht darin, etwas auf einer Videokassette abgespeichert zu haben.
Ich gestehe, dass ich gespalten bin. Es gibt Autoren, die sich über ihren Tod hinaus verbeten haben, dass ihre Werke als E‑Books erscheinen (bspw. Grass). Ich glaube, dass dies wesentlich dazu beitragen wird, dass diese Autoren weniger rezipiert werden dürften. Insbesondere dürfte das für den universitären Bereich gelten.
Wie es in 30, 40 Jahren aussieht, ist eine andere Sache. Wird die E‑Book-Software dann noch Dokumente von heute lesen können? Vielleicht ist das gar nicht beabsichtigt und wird zum Geschäftsmodell: neue E‑Book-Formate, die dann wieder käuflich erworben werden müssen. Die Bücher, das Papier, bleiben.
[Sorry, war etwas technisch. Und in theoretischer Hinsicht noch nicht einmal wasserdicht.]
Ich verstehe die Bemerkung über die Speichermedien. Es zeichnen sich zwei archivarische Systeme ab, die Unterschiede aufweisen. Keines der Archive ist unzerstörbar, das wäre zunächst egal. Aber die Input- und Output-Kanäle sind deutlich verschieden. Das Internet ist per se schon ein Speicher, aber es hält nicht besonders lange. Bin überfragt, wie groß die Vergänglichkeitsspanne im Moment ist. Dazu müsste es Studien geben. Garantiert unter 30 Jahre, vermutlich weniger als 10...
Wir müssen aufpassen, dass wir den »Arbeitsspeicher« Internet nicht mit einem Archiv gleichsetzen. Das ist vielleicht kulturgeschichtlich relevant: wenn das Internet (auch in Zukunft) ein transienter Speicher ist, dann kann sich kein Autor »mit Ewigkeitsanspruch« darauf verlassen. Das Motto »Publish-and-die-peacefully« würde sich als bitterböse Ironie entpuppen. Der Autor braucht Erbengemeinschaften, Stiftungen, Trusted Publishers, die seine Werke für unbestimmt lange Zeit in Verkehr bringen. Sie betreuen das jeweils favourisierte lokale Speichermedium.
Ein Autor wie Grass vertraut auf die Bedruckung von Holzabfällen. Für den (modellhaft beschriebenen) virtuellen Erfolg ist das praktisch egal. Die Kunstrezeption ist ein Nachfrage-Markt, das lässt sich schwerlich verändern.
Der Autor braucht all das, was Sie beschreiben. Und er braucht Menschen, die sich seiner bzw. seinem Werk überhaupt noch erinnern. Was nutzt das abgespeicherte Medium (in der Bibliothek oder in der Cloud – das ist gleichgültig), wenn es nicht »nachgefragt« wird.
Kann das gesteuert werden? Ich glaube, nur begrenzt. Stiftungen kann es geben, aber wer nimmt dann den »Urheber« noch zur Hand? Es ist doch fast nur noch Krampf, wie Autoren, die den Büchner-Preis bekommen, einen Bogen von Büchner zur Gegenwart schlagen wollen. Aber wer kennt Büchners Werk sagen wir in 50 Jahren noch? (Blick in die Kaffeetasse auf das Jahr 2070: Überschrift eines Artikels »Wer war Georg Büchner?«)
Hmmm, verstehe... Die Moderne streckt sich schon eine Zeit lang hin, und besonders »vorne« wird’s ziemlich dynamisch. Stimmt schon, da wird der eine oder andere Unsterbliche auf der Strecke bleiben. Stifter, Keller, Novalis, Büchner, Fontane... Wer ist der Nächste auf der Planke?! – Aus dem 19. Jahrhundert könnte so einiges unter die Räder kommen. Nietzsche und Heine werden’s überleben.
Was helfen könnte, wäre ein »Pate«. Zu jeder Zeit, also auch in Zukunft, müsste es einen Begeisterten geben, der die Qualität seines Idols versteht und dem Publikum begreiflich machen kann. Das setzt natürlich intensive Erfahrungen und eine reichhaltige Bildung voraus. Beispiel: Sloterdijk hat mir neulich Stirner erklärt (in: »Die schrecklichen Kinder der Neuzeit«). Da wäre ich fast vom Stuhl gefallen.
Neues Paradigma: jeder Unsterbliche braucht einen »Werbefachmann« in der Gegenwart, ansonsten besteht die Gefahr des kulturellen Exitus.
[Aber ist das so viel anders, als es wir bisher gemacht haben?!]
Erinnert dann doch an »Fahrenheit 451«, wo eine dystopische Welt beschrieben wird, in der Menschen verbotene Bücher, die vernichtet werden, auswendig lernen, damit sie später wieder rekonstruiert werden können. Die Frage ist dann nur: Was, wenn der Pate stirbt?
Ich glaube, dass wir erst am Anfang einer Entliterarisierung stehen. Noch gibt es »back lists«, noch sind Klassiker lieferbar. Aber nur, weil sie noch nachgefragt werden. Wenn Schulen irgendwann hier ausfallen, quellen noch einmal 20, 30 Jahre die Antiquariate über. Die Schwelle zum Ramsch dürfte sinken.
Nietzsche und Heine werden es überleben? Ihr Wort in Gottes Ohr. Ich mache mir Sorgen um Goethe und Shakespeare, Tolstoi und Cervantes. Aber in dem Moment, in dem ich das schreibe, frage ich mich. Wozu? Dann bin ich längst...
@»Was, wenn der Pate stirbt?!« – Also bitte... Wer sagt denn, dass es eine Transmissionslücke gibt?! Das ist doch ungezügelter Pessimismus. Unser kulturelles System (Sparte Literatur) hängt doch nicht essenziell an der Ware Buch.
Sie vermuten richtig, dass die Auflagen der Klassiker bald sehr klein werden. Das wird vielleicht in Hände von Laden-Verlegern wie »Buchhaus Loschwitz« gehen. Nur so als Beispiel. Small is beautiful!
Und wenn das nicht rentiert, Hausnummer bei Novalis oder Stirner, dann können Sie immer noch ein Book-on-demand kriegen.
Ihr Problem ist, dass sie den kleinen Zahlen misstrauen. In der Nähe des Seltenen lauert immer die fiese fette NULL, – und das wäre in der Tat schrecklich. Aber das ist nicht unbedingt das, was passieren wird.
Literatur hängt – ob man das mag oder nicht – an »Papier«. Elektronische Formate werden es nicht adäquat ersetzen können. Aber ähnlich wie die Zeitung als Relikt aus der Vergangenheit gilt (»Holzmedien«) und das Lesen am Smartphone oder Computer immer mehr dominiert, dürfte Literatur, die ja noch einmal eine längere Aufmerksamkeit verlangt, irgendwann nur noch von einer sehr kleinen Minderheit rezipiert werden.
Was man derzeit erlebt, ist ja der Beginn eines Transformationsprozesses, dessen Ende weitgehend unbekannt sein dürfte. Ich erinnere mich noch an die Tante-Emma-Läden in meiner Jugend. Als es erste »Supermärkte« gab hieß es, dass sich das nicht durchsetzen werde. Binnen einer Dekade änderte sich das.
Hier ein Artikel darüber wie gut GPT‑3 schon ist: https://www.newyorker.com/culture/cultural-comment/the-computers-are-getting-better-at-writing – I don’t want to buy into the ML-hype, maybe next AI winter is already close, aber es ist doch deutlich weiter als Enzensberger aleatorische Spielereien (https://www.youtube.com/watch?v=vj1buZhKKko) oder die kruden Wenn-Dann-Programme der Neunziger.