Die Insel Etajima hat eine beträchtliche Ausdehnung (wenn ich nicht irre, ist es die größte Insel der Inlandssee), ist aber seltsam zerrissen, so als bestünde sie aus mehreren übereinandergeworfenen Halbinseln und Landzungen, die nach allen Richtungen ans Meer lecken. Abgesehen davon, daß man beim Wandern oder Radfahren gern mal die Orientierung verliert, stellt sich die Frage der Anreise. Soll ich, aus dem Osten kommend, mit der Straßenbahn zum Hafen von Hiroshima fahren und dort eine Fähre nehmen? Oder nach Kure fahren, was mit öffentlichen Verkehrsmitteln umständlich ist, und dort einen Bus nehmen oder gar ein Taxi, um an die südwestliche Flanke der Insel zu gelangen? Von dieser Seite kann man auf Rädern, über Brücken, von Insel zu Insel, nach Etajima reisen (die Schiffslinien dort wurden vor langer Zeit eingestellt).
Nun, es ist klar, ich begebe mich für mein Leben gern auf kleine, mitunter auch größere Schiffsreisen, und zum Glück geht von Ujina, dem Hafen von Hiroshima, ein Boot nach Koyou, von wo man zu Fuß zur Marineschule gehen kann. Auf der Fahrt lasse ich mich von den Wellen schaukeln und wiegen wie ein Gaucho auf dem Pferderücken in der flachen Pampa. Das sind so meine Illusionen und Freuden, freudigen Illusionen, die mich in die Welt Montaignes zurück- oder vorwärtsführen, zurück und vorwärts, wo man diesem Rock’n‘Roll noch ein rechtes Loblied singen konnte.
Bisher war ich zweimal auf Etajima. Einmal mit meiner Tochter, als ich sie noch die meiste Zeit auf den Schultern trug – bestimmt hatte sie damals dasselbe Gefühl des rhythmischen, ungefährdeten Schaukelns; das zweite Mal, als sie schon etwas größer war, im Volksschulalter, bei einem Spielwochenende mit anderen Familien, einem Clown und einem Autor und Zeichner, der damals Ringo kamoshirenai vorstellte, ein wunderbares Kinderbuch über einen Apfel und was er alles sein könnte; ein Bilderbuch, das wir später ins Deutsche übersetzten, was uns viel Spaß machte, aber keinen »Erfolg« brachte, denn was von mir kommt, betrachten Buchverlage fast ausnahmslos mit Skepsis (die englische Ausgabe wurde ein großer Erfolg!).
Bei der ersten Reise hatten wir einfach das nächstbeste Schiff genommen, ohne bestimmtes Ziel. Auf der Insel gibt es mehrere Anlegestellen und kleine Häfen, und das nächste Boot brachte uns nach Koyou, und dort gingen wir an Land und dann einfach weiter, der Nase nach. Unsere Nasen führten uns bergan, die Küste entlang, wo himmelhohe Palmen und überhaupt eine kräftige Vegetation lockten, im Februar, auch die gelb blühenden Wiesen- und Wegrandblumen blühten zuhauf, früher als auf dem Festland, vielleicht Freesien (?), aber das ist jetzt nur Google-Wissen. Dort war eine große Schule mit Spiel- und Sportplätzen, schon damals ganz still, aber nicht verfallen, nur ein bißchen verwittert, Wasserflecken und so. Bei meinem neuerlichen Rundgang vor wenigen Tagen, als ich mir vor allem die wohnlichen Dattelpalmen Maries ansehen wollte, hatte ich das bestimmende Gefühl, daß hier nie wieder Unterricht abgehalten wird, und so ähnlich ging es mir dann noch bei anderen Schulen der wie gesagt weitläufigen Insel. Auf der Fähre, die ich gegen Abend zur Rückreise nahm, sah ich dann zahlreiche Mittelschüler, die zweifellos in Ujina zur Schule gehen, irgendwo in der Nähe des Hafens von Hiroshima.
Das Jahr ist diesmal schon fast zur Hälfte fortgeschritten, deshalb wuchern die Gräser und Austriebe der Büsche und Bäume ziemlich lebhaft. Trotzdem bahne ich mir einen Weg den Steilhang hinunter, den man zuerst einmal erklimmen muß, um die berühmten Dattelpalmen in der Nähe der Schulhöfe begutachten zu können. Ich weiß nicht, ob sie wirklich Früchte tragen, diese kräftigen, gedrungenen Gebilde, deren Blätter nach unten wachsen und Wände bilden, eine Art Iglu in dieser milden Gegend. Kann man hier denn wohnen? Ist man nicht Insekten, Reptilien und anderen Tieren ausgesetzt? Vielleicht mit einer guten Matte, einem Schlafsack. Dazu ein wohlriechender Katorisenkou, um die Mücken fernzuhalten. Ich glaube, außerhalb der Regenzeit wird es hier drinnen nicht naß.
Marie, das muß ich erklären, ist eine Frau, deren Geschichte ich in einem Roman, den mein treuer Verleger glücklicherweise drucken ließ, mehr erfunden als aufgeschrieben habe. In der Wirklichkeit trägt sie einen anderen Namen, und die Episode ihres Aufenthalts auf der Insel hat sie mir nicht stimmlich im iPod geschildert, sondern nur kurz erzählt in dem Café, in dem ich sie zweimal getroffen hatte – seitdem ist sie aus meinem Leben verschwunden. Eine unangepaßte Frau, ihr Vater war ein bekannter Arzt, sie selbst Krankenschwester, hielt diese Tätigkeit aber nicht aus, oder ihren Vater nicht, jedenfalls streunte sie eine Zeitlang durch die Gegend, und dabei hatte es sie auch hierher verschlagen. Die ruhige Zeit in Etajima scheint sie genossen zu haben. Als sie mir davon erzählte, dachte ich sofort, daß sie diesen ungewöhnlich großen, wilden und doch zivilisierten Palmenhain am Rand des Schulkomplexes meinte, wo ich einige Monate zuvor mit meiner Tochter gewesen war (ich glaube, den Namen der Insel hatte Marie gar nicht erwähnt). Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher; ich weiß nicht, ob ich es länger als zwei Tage in der freien Natur aushalten würde. Und die Schüler, die Lehrer, der Schulwart? Damals, zu »ihrer Zeit«, war die Schule doch noch in Betrieb? Hat man sie geduldet, sich nicht weiter um sie gekümmert? Hat ihr ein Schüler heimlich Essen gebracht?
Noch weiter oben, auf einer Terrasse über den himmelwärtigen Palmkronen, steht ein Kriegerdenkmal, ebenfalls versunken in den Büschen und mannshohen Gräsern, aber nicht vollends vergessen, man gedenkt der Krieger immer noch, der Weg dorthin wird wohl ein paarmal im Jahr beschritten, gesäubert, Gras geschnitten, Busch gestutzt. Rührend ist das, fast ein Wegerl, und am Ende keine Falle, sondern ein ganz kleiner, noch gar nicht so alter Schrein mit einem Jizo drin, dessen rote Haube an die Decke stößt. Schrein muß sein, wie in Yasukini, nur daß hier keine Kriegsverbrecher dabei waren, deren man zu gedenken hat. Glaube ich wenigstens. Denn von der Küste her wurde die Festung, die hier einmal gestanden haben muß (unter den Schlingpflanzen sieht man die Betonkante einer ehemaligen Rampe), von amerikanischen Schiffen beschossen und zerstört. Vermutlich ein kleiner Nebenschauplatz des gewaltigen Angriffs auf Kure, die Hafen- und Werftstadt am Festland gegenüber, die ich zwischen den Palmstämmen sehen kann. Kure wurde im Juni und Juli 1945 heftig bombardiert, die Stadt zerstört. Hätte man die Atombombe wirklich auf kriegswichtiges Gebiet und nicht auf die Zivilbevölkerung werfen wollen, man hätte Kure gewählt. (Unvermeidlicher Zynismus: Das wäre besser gewesen.) Aber offensichtlich wollten sie ein Exempel an den Menschen statuieren, nicht an kriegsindustriellen Einrichtungen.
In einer kleinen Lichtung zwischen den Bäumen steht eine Statue, die ich zunächst für Uncle Sam halte. Nähert man sich, sind die asiatischen Gesichtszüge unverkennbar. Wer ist das? Kein Schild gibt Aufklärung. Die japanische Entsprechung zu Uncle Sam? Ein Anpassungsversprechen? Wir werden so wie ihr, und zwar im Handumdrehen. Zuerst Feind, jetzt unverbrüchliche Freundschaft. Die Amerikanisierung ist hier ziemlich rasch vonstattengegangen (in Westeuropa ja auch). Trotz der massiven Gegenbewegung, an der auch Yukio Mishima teilhatte, der letztlich aufgrund dieser Entwicklung in den frühen Tod ging. Das eigentliche Kriegerdenkmal ist sinnigerweise mit Bomben – sicher nur Attrappen – eingefriedet und verziert. Und wenn man auf der Straße noch weiter bergauf geht, stößt man bald auf Sperrgebiet, das der U.S. Army gehört. Irgendwo im Gebüsch versteckt sich ein letzter leibhaftiger Uncle Sam.
Ich habe dann die in der Mittagshitze mühsame, weil geradlinige, steile und schattenlose Autostraße genommen, die auf die andere Seite der der an dieser Stelle recht schmalen Insel führt, hin zur japanischen Militärzone mit der alten Marineschule in ihrer Mitte. Der eigentliche Grund meiner jetzigen, dritten Reise nach Etajima sind ja die Schuhe, also jene Militärstiefeletten, die ich ganz woanders, in den Bergen im Osten von Hiroshima, hatte zurücklassen müssen, nachdem ich dort in eine Falle gegangen war; beziehungsweise das Vorhaben, mir neue zu kaufen, damit ich mich künftig wieder auf anstrengendere Fußmärsche werde begeben können. These boots are made for walking, dachte ich, they are just waiting for you!
Denkste. Man hatte mich schon im Hafen von Hiroshima darauf hingewiesen, das Gelände sei wegen der grassierenden Corona-Viren für Besucher nicht zugänglich. Es gibt dort ein – natürlich nationalkonservatives – Marinemuseum und ein sehr schönes, altrosa gestrichenes, dezent klassizistisches, europäisch-klassizistisches Vorkriegsgebäude, das den angehenden Berufssoldaten als Schule dient (oder diente, inzwischen sind neue, unansehnliche Gebäude hinzugekommen). Dieses Gelände hatte ich bei meinen ersten Besuchen als Oase des Friedens erlebt, als Erholungsgebiet für Leute, die in der hysterischen Epoche des entfesselten Konsumkapitalismus nach Ruhe suchen. Sogar das Speisestätte – Udon, Curry, Omu-Rice: bescheidene Alltagsküche – und das Warenhaus – das außer Gebrauch gekommene Wort paßte hier – fügten sich in diese Oase. Kein Mensch wollte sich hier bereichern. Niemand hatte es eilig, obwohl die Kadetten zweifellos genauso gedrillt wurden wie überall auf der Welt, wo es noch militärische Einrichtungen gibt. Ein unbürgerliches, soldatisches Leben, am besten ohne Waffen und Krieg!
Aber diesmal wird mir der Zutritt verwehrt. Gekreuzte Unterarme! Nicht einmal das Museum ist geöffnet. Dabei kann ich mir keinen Ort vorstellen, wo für das Virus schlechtere Bedingungen herrschen als hier auf dieser in Fetzen auseinanderdriftenden Insel, über die vom Meer her die Winde wehen. »Gut«, sage ich. Nach dem Warum traue ich mich gar nicht zu fragen. Respekt vor Uncle Sam!
Egal, sagte ich zu mir selbst. Aber die boots for walking? Wenigstens, versuchte ich mir einzureden, ist der Rucksack dadurch nicht beschwert. Das Areal zeigte sich ummauert wie das Kloster meiner Schulzeit (tatsächlich erinnert mich das alte Gemäuer, kein Beton, an die Stiftsrunden, die wir Schüler laufen mußten, und die ich gern lief), und so ging ich einfach außen herum, in nördlicher Richtung, weil ich diese Schleife zum nächsten Hafen schaffen würde – in die andere Richtung war ich mir nicht so sicher, außerdem gab es da unten ja keine Anlegestelle mehr, ich hätte zur Rückfahrt einen Bus nehmen und über die Brücken fahren müssen. Alte, sonnengebräunte Leute hockten am Straßenrand, Männer und Frauen, die die wenig befahrene Straße säuberten, Hecken und Bäume beschnitten, Gras mähten, sie verbrachten da ihre Mittagspause, ohne Bento die meisten, nur eine Thermosflasche neben sich. Ein Tempel war hier in der Nähe, gegenüber der Mauer, eine schön proportionierte, gar nicht so kleine Anlage mit blühenden Teichpflanzen, wo sich zwischen der Haupthalle und dem Wohngebäude der Bonzenfamilie ein weißer Elefant versteckte. Richtig, dann und wann ein weißer Elefant, über die Monate und Jahre hinweg, eine andere Art von Ringelspiel.
Die Straße ging dann ein gutes Stück recht steil den Berghang hinauf, hier konnte ich endlich das militärische Areal einsehen, die Hallen und Übungsplätze und die kleine Werft, wohl nur für Reparaturen und Renovierungen, und hörte sogleich eine Stimme, die fast senkrecht heraufstieg und rhythmisch zählte, neununddreißig, vierzig, und wieder einen Augenblick später sah ich auch die auf dem Boden hingestreckten Körper der Soldaten in dunkelblauen Trainingsanzügen, die dem Befehl der Stimme folgten und die Liegestützen ausführten, bis sechzig zählte sie (hätte ich das früher geschafft?), die Stimme jetzt hinter meinem Rücken, vielleicht war es nur ein Echo. Wo ich das Meer erblickte, gaben die Streitkräfte das Land wieder frei, ich passierte den hinteren Eingang, nicht ohne zu überlegen, ob ich mich hier vielleicht hineinschwindeln könnte. Erschießen werden sie mich nicht, sind ja nur zur Selbstverteidigung da, und ich fühlte mich als Teil dieses großen, nebulösen, verteidigenswerten Selbst. Zumindest in diesem Augenblick. Sagte mir aber: Laß die Leute in Ruhe, sie tun, was sie müssen!
Und ging weiter hinein in diese recht fahrige und zerrissene, von Gott und der Welt vernachlässigte Gegend an der Küste, vor der unzählige Austernbänke lagerten, am Fuß des langgezogenen Inselbergs (der nur einer von vielen Bergen war). Da stand wieder mal so ein Schulgebäude, auch dieses still, keine Kinderstimmen, stattdessen ein Plakat mit Hinweis auf den Japanese Club, der wohl im Schulgebäude zusammentraf. Gemeint war mit dieser Bezeichnung ein Ort, wo bereitwillige Einheimische und bedürftige Ausländer zusammentrafen und letztere erstere ein wenig in der japanischen Sprache unterrichteten. Vor langer Zeit hatte ich, in einer ganz anderen Gegend, selbst so einen Klub frequentiert, als bedürftiger Ausländer, und obwohl mir dort nicht viel geholfen wurde – Lehren will gelernt sein –, denke ich mit Dankbarkeit daran zurück. Neben der japanischen Flagge sind hier am Schuleingang noch die chinesische, die philippinische und die vietnamesische abgebildet. Sie verweisen auf die Herkunftsländer der Gastarbeiter, die hier in der Austernverarbeitung tätig sind – ein Job, den kaum ein Japaner machen will. Jetzt rieche ich auch schon den fauligen Geruch, gewahre die Berge von Muschelschalen und die kleinen Fabriken, die von einer Schmuddeligkeit sind, wie man sie nur an den Rändern unseres ach so sauberen Landes findet.
Die Straße löst sich von der Küste, eine kleine Ebene voller Obstbäume tut sich auf – es gibt hier sogar Oliven –, und dann zögere ich an einer Kreuzung mit widersprüchlicher Beschilderung, so daß ich es eine Zeitlang in die eine, dann wieder in die andere Richtung versuche. Drei Männer im Dunkelblau der Selbstverteidigungsstreitkräfte kommen mir entgegen, keine Soldaten, dazu sind sie zu unsportlich, verschmiert, proletarisch, sondern Blaumänner, Werftarbeiter oder Mechaniker. Ein fröhliches Kleeblatt auf dem Weg zu einem der (wenigen) »Snacks« oder Puffs, die im Umkreis der militärischen Zone dahinvegetieren? Ich frage die drei nach dem Weg und sie weisen mich nach Kirikushi, das sei am nächsten, oder doch Koyou. Einer von ihnen will mich ganz genau informieren, er zückt schon sein Smartphone, ich winke ab, und der Anführer, der Älteste: »Ist schon okay so, oder?«, und ich: Daidschoubüdayou (hier versuche ich’s mal mit »deutscher« Transkription).
Vielleicht hätte ich dem Handybesitzer doch noch mehr Fragen stellen sollen, denn bald erweist sich, daß die Straße, die echte Nr. 297, ziemlich forsch den Berg hinauf und fast bis zum Gipfel führt. Ob ich das schaffe? Ein einziger einsamer Radfahrer braust an mir vorbei. Es ist Dienstag, kein Tag fürs Hobby (aber all die rüstigen Senioren?), außerdem Coronazeit, die Infektionskurve gerade ein wenig gestiegen, aber vielleicht ist Etajima einfach auch nicht so beliebt, nicht spektakulär genug, zu schmuddelig im Vergleich zum spirituellen Miyajima und der berühmten Fahrradstrecke auf der Shimanami kaidou, von Insel zu Insel über schwindelerregende Brücken, wo Sie atemberaubend fotogene Ausblicke und Sonnenuntergängen genießen können. Für Ausländer zu normal, für Japaner nicht normal genug. Also genau richtig für mich. Wieder einmal kämpfen zwei Seelen in meiner Brust, für und gegen Tourismus, für die Erhaltung der Landschaften, gegen die Kommerzialisierung, nachdem die Regierung und all die anderen Behörden, ein paar Jahre ist‘s her, den Fremdenverkehr als riesige Einnahmequelle und Sozialproduktsteigerungsfaktor entdeckt haben und diese rasante Entwicklung, sprich: Überhäufung mit Besuchermassen, die sie in der Olympiade gipfeln zu lassen gedachten, woraus nun leider nichts wird (so daß ich in Ruhe diese Regionalreisen und die zugehörigen Aufzeichnungen tätigen kann), eingesetzt hat. Nein, nichts gegen Tourismus. Kommt her und leiht euch Fahrräder aus, damit macht ihr nichts kaputt, im Gegenteil! Jetzt und in Zukunft, amen.
Also eine ziemlich einsame Überquerung des Inselbergs, die mir Gelegenheit bot, mich in das unendlich changierende Grün – selten durchbrochen von grauen Felsen – zu versenken wie ins Wellenspiel, wenn ich an der Reling der Fähre stehe und mir denke, vielleicht sollte ich wirklich mal den Sprung da hinunter wagen, das Wasser ist nicht kalt und ich wäre endlich wieder einmal im blauen Unendlichen geborgen wie vorhin, oder jetzt eben, im Bergwaldgrün. Aber dann ist da wieder mal eine Straße weggebrochen, in die Tiefe gerauscht, und zwar so unerwartet plötzlich, so mir nichts dir nichts, wie ich es anderswo nicht gesehen habe. Die ist weg, für alle Zeiten, und wird auch nicht neu gebaut. Eine Verlockung weniger: gut für mich, der ich ohnehin immer zu sehr nach Abwegen suche – wer weiß, an welches Ende sie mich noch einmal führen werden.
Dann bin ich über den Kamm drüber, von »Paß« kann man eigentlich nicht sprechen, und habe wieder ein Meer vor mir, zu meinen Füßen, und den Festlandsaum gegenüber, mit zwei großen Städten, Kure und Hiroshima. Sogar das Feld der Sonnenpanele paßt mir jetzt ins Bild, es ist die Entsprechung zu den Austernbänken weiter unten, eine Korrespondenz – Baudelairesche correspondance – gleichsam Tafel für Tafel, begleitet vom blinkenden Sonnenglast, mal hier oben, mal dort unten. Bin dann mit letzten Kräften die Küstenstraße entlang in Richtung Hafen marschiert. Nicht ohne mich an dem Stand bedient zu haben, auf dem einer der hiesigen Bauern seine Produkte feilbietet: Kartoffeln, Zucchini, Daikon… Hundert Yen pro Stück oder Packung, in ein Bambusröhrchen zu werfen, durch das die Münze zum Opferstock gleitet. Eine Coca Cola vom Kleinen Bruder, der verstaubt, aber unverwüstlich am Strand vor sich hinfunkelt. Langbeinige Vögel (keine Reiher) stehen starr im Seetang, sehen mich, aber kümmern sich nicht. Ich denke an die Stiefeletten, die ich nicht an den Füßen habe, an die Sportschuhe, die ich nicht in den Rucksack gesteckt habe. Werde ich ohne neues Schuhwerk weiterkommen, wenigstens noch ein Stück meines umtriebigen Lebenswegs?
Dann der Hafen, die festgetäuten Boote, ein Mann in Gummistiefeln, oranger Plastikjacke und oranger Stoppelfrisur auf einem Anhänger, einen Schlauch in der Hand, mit dem er einen Berg frisch geernteter Austern abspritzt, die vorher auf einem kleinen Fließband zu ihm heraufgeruckelt waren. Kein Geschäft in Kirikushi, nicht einmal ein Konbini (laut Karte muß es doch eines geben, dort ist auch der Fahrradverleih). Das Inselland unendlich fruchtbar, Gemüsebeete und Behausungen halten sich flächenmäßig die Waage, die Leute, meist im hohen Alter, versorgen sich selbst, tauschen Güter aus, geben Gaben und Gegengaben. Wozu also Konbinis? Die Erde selbst konveniert. The Old Englishman: ein Antiquitätenladen, geschlossen.
Die Jugend befindet sich noch drüben am anderen Ufer, in Hiroshima. Wenn die Fähre dort anlegt, werde ich ihnen begegnen. Vertraute Schuluniformen. Vier Mädchen, die wie Standbilder im Sand stehen und sich die Füße umspülen lassen. Zwei einladende – nicht warnende – Leuchttürme, ihr Rot und ihr Weiß von der Sonne erleuchtet. Eine junge Frau, die sich ein Tüchlein an die rechte Wange hält, während sie den Landesteg hinauftänzelt. Die Sonne steht schon tief, die Strahlen treffen von der Seite ein. Mein Blick darf mit ihr sein – mit der Sonne, mit der Frau – und die Liebkosung vollenden. Das ist meine Teilhabe, in der späten Gegenwart, amen.
© Text und Bilder: Leopold Federmair