Oli­vi­er Sil­lig: Schu­le der Gauk­ler

Olivier Sillig: Schule der Gaukler

Oli­vi­er Sil­lig: Schu­le der Gauk­ler

So zie­hen der Gauk­ler und Apu­leï­de recht und schlecht über Land, von Kirch­wei­hen zu klei­nen Märk­ten, von Städ­ten zu Dör­fern, ei­nen Mo­nat nach dem an­de­ren, durch ei­ne Land­schaft nach der an­de­ren, die Ta­ge wer­den kür­zer, dann im Amei­sen­schritt wie­der län­ger, und die Tem­pe­ra­tur nimmt ab, Rau­reif, Platz­re­gen, Dau­er­re­gen, Grau­pel­schau­er und Schnee. Sie fah­ren kreuz und quer, oh­ne Ziel, durch Ka­sti­li­en, Ara­gon und dann durch das Kö­nigs­reich Frank­reich. Un­ru­hen krie­ge­ri­scher Ban­den, die stän­dig be­waff­net und wie­der ent­waff­net wer­den… […] Punk­tu­el­le, un­er­war­te­te, un­vor­her­seh­ba­re, un­um­gäng­li­che Raub­zü­ge, Plün­de­run­gen, Schrecken. Es ist Fe­bru­ar 1493. Der Gauk­ler Har­douin wur­de von sei­nem lang­jäh­ri­gen As­si­sten­ten Ju­an ver­las­sen. Apu­leï­de ist ein in Al­ko­hol kon­ser­vier­ter Al­bi­no-Herm­aphro­dit, mit dem Har­douin her­um­reist und den er für Geld auf Jahr­märk­ten und Dorf­fe­sten prä­sen­tiert. Ent­schlos­sen, nie mehr ei­nen As­si­sten­ten zu neh­men, kommt Har­douin in ei­ner Fe­bru­ar­nacht, ei­ner ei­si­gen Mond­nacht, in ei­ne zer­stör­te Scheu­ne, die er ver­las­sen wähnt. Dort lie­gen vier­und­zwan­zig Kin­der im Ster­ben.


Mit den letz­ten Wor­ten der in der Scheu­ne bib­bern­den Kin­der be­ginnt das Buch. Dann kommt der Ross­täu­scher und nimmt den sie­ben­jäh­ri­gen Tié­ce­lin mit. Die­ser denkt, es ist der Tod, der ihn er­grif­fen hat. Aber dann merkt er: Har­douin, ein schon 60jähriger Schau­stel­ler, hat ihn ge­ret­tet. Von nun an sind sie un­zer­trenn­lich. Tié­ce­lin ist früh­reif, klug, frech, vor­laut, char­mant – und im­mer lern­wil­lig und loy­al Har­douin ge­gen­über, der ihn mit Lie­be oh­ne Stren­ge er­zieht und auf sei­nen »Be­ruf« ein­schwört. Schließ­lich soll er Men­schen an­spre­chen und da­zu ver­lei­ten, ge­gen Geld das Ding, wie Tié­ce­lin die­se selt­sa­me Ge­stalt nennt, an­zu­schau­en.

Der Le­ser taucht mit ei­nem all­wis­sen­den Er­zäh­ler in den Kos­mos des zu En­de ge­hen­den 15./beginnenden 16. Jahr­hun­derts ein. Un­wei­ger­lich drän­gen sich die Bil­der des 250 Jah­re spä­ter spie­len­den Ro­mans »Das Par­füm« von Pa­trick Süss­kind auf. Aber Oli­vi­er Sil­lig fin­det in die­sem Mär­chen für Er­wach­se­ne schnell ei­nen ganz ei­ge­nen Ton. Er will da­bei we­der ei­ne spek­ta­ku­lä­re Kri­mi­nal­ge­schich­te er­zäh­len, noch sitzt er die­sem un­säg­li­chen »Fantasy«-Boom auf oder ko­ket­tiert mit dümm­lich-bie­de­ren Vam­pir­ge­schich­ten. Da­bei er­le­ben die Prot­ago­ni­sten sehr wohl My­sti­sches ge­nau so wie das pral­le Le­ben mit Lie­bes­leid und glück­li­chen Au­gen­blicken. Die Wahr­sa­ge­rin Grand Ma­cab­re (ein herr­li­cher Na­me!) rührt schon ih­re Mix­tu­ren zu­sam­men und er­zählt Tié­ce­lin mit gro­ßem Pomp die Ge­schich­te, wie das Ding vor hun­der­ten von Jah­ren ge­lebt hat, ums Le­ben kam und in die­sen Be­häl­ter kon­ser­viert ist. Wir er­fah­ren von Har­douins (se­xu­el­ler) Af­fä­re mit dem Prie­ster Hie­ro­ny­mus. Und sein er­ster As­si­stent Ju­an er­liegt im­mer mal den Ver­lockun­gen ei­nes Stri­cher-Le­bens, wenn sie in ei­ner Ha­fen­stadt ein­keh­ren und schließ­lich schifft er sich auf die No­na, ei­nes der Schif­fe von Chri­stoph Co­lum­bus ein. Wie Tié­ce­lin er­fährt der Le­ser im Lau­fe der Zeit im­mer mehr – aber nicht al­les. Rück­blicke vor 1490 sind sel­ten; Har­douins Kind­heit und Ju­gend bleibt weit­ge­hend ver­bor­gen. Nur das er ei­ne Aus­bil­dung von Mön­chen er­hielt und für da­ma­li­ge Ver­hält­nis­se ge­bil­det war, schim­mert durch. Und das er in Not­wehr ei­nen See­mann tö­te­te, als die­ser ei­nen Jun­gen ver­ge­wal­tig­te. (Ein biss­chen sehr zeit­ge­nös­sisch, wie Sil­lig das of­fen­sicht­li­che Hä­re­ti­ker­tum Har­douins ein­flie­ßen lässt und als ver­meint­li­che Selbst­ver­ständ­lich­keit dar­stellt.)

Mond­ge­sicht

Ir­gend­wann be­geg­net Tié­ce­lin ei­nem schwach­sin­ni­gen Kind et­wa sei­nes Al­ters, das nicht spre­chen kann und sich im­mer wie­der voll­macht. Es wird von an­de­ren Kin­dern wie ein Ge­gen­stand ge­tre­ten. Ihm blüht ein Heim, wel­ches Kin­der wie ihn wie Schwei­ne hält. Er nimmt das Kind auf, nennt es Mond­ge­sicht und ihm ge­lingt es, dass es »sau­ber« bleibt. Flugs in­te­griert sich Mond­ge­sicht mit sei­nem Spiel auf dem Mu­sik­holz in die klei­ne Ge­mein­schaft. Tié­ce­lin in sei­nem Gauk­ler­ko­stüm wird schnell der neue Lieb­ling der Fah­ren­den auf dem Markt. Statt Kon­kur­renz­neid gibt es hier Zu­sam­men­halt.

Aber die Idyl­le wird im­mer wie­der ge­stört. Bei ei­nem Über­fall tö­tet Tié­ce­lin ei­nen der Räu­ber, als die­ser Mond­ge­sicht tö­ten woll­te. Har­douin hilft dem Acht­jäh­ri­gen die­se Si­tua­ti­on zu ver­ar­bei­ten, in dem er Tié­ce­lin bei dem im­pro­vi­sier­ten Be­stat­ten des Räu­bers zu­schau­en lässt. Spä­ter stößt noch die blin­de Ava zur Trup­pe, die nur vier Jah­re äl­ter als Tié­ce­lin. Sie ver­liebt sich in dem Her­um­trei­ber La So­le und wird von ihm un­ver­hofft schwan­ger. Als Tié­ce­lin La So­les ent­stell­tes Ge­sicht mit Hil­fe ei­ner Mas­ke ver­schö­nert, wird er für Ava un­in­ter­es­sant (sie kann nur die Mas­ke be­rüh­ren, aber nicht mehr das Ge­sicht). Die Blin­de mag die Pro­the­se der Schön­heit nicht. La So­le wird ei­tel und ver­lässt sie. Aber auch das ist kei­ne »Ka­ta­stro­phe«: Tié­ce­lin hilft Ava bei der Ge­burt ih­res Soh­nes Louve (der Na­me ist ei­ne Wort­schöp­fung von Mond­ge­sicht) und fort­an ge­hö­ren sie zu­sam­men. Und so sind sie auf Tour und rei­sen mit ih­ren klei­nen At­trak­tio­nen durch ganz Eu­ro­pa. Ava singt und er­zählt, Mond­ge­sicht macht Mu­sik, bald be­ginnt Louve ei­ne klei­ne Dres­sur. Da­bei er­setzt Tié­ce­lin bei Be­darf kon­ge­ni­al die bei den an­de­ren feh­len­den Sin­ne und pro­fi­tiert an­de­rer­seits von ih­ren spe­zi­el­len Fä­hig­kei­ten. Ih­nen ist wohl – und das trotz al­ler Un­bil­len auf ih­ren lan­gen Rei­sen. Spä­ter kom­men noch zwei wei­te­re Per­so­nen zum Gauk­ler­zug hin­zu: ein Rit­ter und sein Knap­pe; Kriegs­ver­sehr­te, die sich an­fangs ih­re Be­hand­lung von den Gauk­lern er­pres­sen wol­len und spä­ter dann zu al­ler­lei schö­nen Über­ra­schun­gen füh­ren (die hier nicht ver­ra­ten wer­den sol­len). Aber die Trup­pe bleibt nicht vom Un­an­ge­neh­men ver­schont: Mond­ge­sichts frü­hes und ra­sches Ster­ben wird be­we­gend in­sze­niert.

Der Hen­ker und die Wür­de

»Schu­le der Gauk­ler« um­fasst den Zeit­raum von ca. 1490 bis 1504. Sil­lig er­zählt nicht streng chro­no­lo­gisch und nach zwei Drit­teln des Bu­ches er­folgt ein Zeit­sprung in die Zu­kunft: Har­douin trifft um 1502 (er ist nach ei­nem Schlag­an­fall fast ge­lähmt und kann nur sich noch mit sei­nen Au­gen und ei­nem Fin­ger be­merk­bar ma­chen) un­ver­hofft auf sei­nen ehe­ma­li­gen As­si­sten­ten Ju­an. Die­ser ist Hen­ker und Ver­wal­ter der Richt­stät­te vor Mar­seil­le; die­sem Gol­ga­tha vor Mar­seil­le, vor vie­len Jah­ren in ei­ner Mi­schung aus Be­wun­de­rung und Angst die bei­den so er­schüt­ter­te. Die ei­gent­lich bar­ba­ri­sche Auf­ga­be des Hen­kers voll­bringt Ju­an, wie es fast ein we­nig pro­vo­ka­tiv heißt, mit Wür­de; der hilft den Tod­ge­weih­ten, dass sie kei­ne Schmer­zen er­lei­den und ihr To­des­kampf den Um­ste­hen­den, die sich im­mer wie­der zu den Exe­ku­tio­nen ein­fin­den, ver­bor­gen bleibt. Ju­an er­zählt von sei­nen Aben­teu­ern auf ho­her See und von sei­nen Ge­füh­len, als er Har­douin zehn Jah­re vor­her so un­ver­hofft ver­ließ, nach dem sie jah­re­lang zu­sam­men ge­ar­bei­tet hat­ten und gu­tes Geld ver­dien­ten. Bei ei­nem An­griff von Ein­ge­bo­re­nen auf ei­ner fer­nen In­sel wur­de er so stark ver­letzt, dass er nun ein Holz­bein hat. Dann ar­ran­giert Tié­ce­lin dann die Be­geg­nung des schwer­kran­ken Har­douin mit Hie­ro­ny­mus, sei­nem Le­bens­men­schen, und für kur­ze Zeit blüht der Al­te wie­der auf und ge­sun­det fast voll­kom­men. Als er nach mehr als ei­nem Jahr von der Trup­pe wie­der auf­ge­spürt wird und in De­menz ver­fal­len ist (Hie­ro­ny­mus bleibt ver­schwun­den), sorgt Tié­ce­lin für sei­nen wür­di­gen Tod. Er wird ihn am En­de als sei­nen Va­ter be­zeich­nen.

Oli­vi­er Sil­lig er­zählt die­ses Mär­chen in fast epi­schem Stil mit gro­ßer, men­schen­freund­li­cher Ge­ste. Ob­wohl es auch durch­aus def­ti­ge (zu­meist ho­mo­ero­ti­sche) Schil­de­run­gen gibt, fühlt man sich zu­wei­len an Stif­ters sanf­tes Ge­setz er­in­nert und viel­leicht be­greift man hier end­lich, was da­mit ge­nau ge­meint sein könn­te. Nie ver­sucht der Au­tor sen­sa­tio­na­li­stisch zu er­zäh­len; von kleb­ri­gem (Disney-)Kitsch, den man viel­leicht am An­fang be­fürch­tet, ist das Buch mei­len­wert ent­fernt.

Er­zäh­lung ist be­son­ders für Tié­ce­lin fast Me­di­zin, mit der die Sehn­süch­te ge­bannt oder viel­leicht so­gar er­füllt wer­den; Syn­onym für Teil­ha­be am Le­ben. Da wir­ken die ein­ge­streu­ten Le­bens- und Ver­geb­lich­keits­me­ta­phern (wie bei­spiels­wei­se die der Schild­krö­te, die zum To­pos des »ab­sur­den« Le­bens wird und den ver­rückt ge­wor­de­nen Har­douin nicht mehr los­lässt) eher stö­rend. So ganz konn­te Sil­lig wohl der Ver­su­chung, ei­nen phi­lo­so­phi­schen Über­bau à la Gaar­der min­de­stens an­zu­deu­ten nicht wi­der­ste­hen, was be­dau­er­lich ist, da an vie­len Stel­len ge­zeigt wird, wie stark die Kraft des Er­zäh­lens sein kann. Den­noch ist »Schu­le der Gauk­ler« ein fas­zi­nie­ren­des, zum Teil fes­seln­des Buch. Man legt es, ein­mal in ihm ver­sun­ken, so schnell nicht mehr aus der Hand.


Die kur­siv ge­setz­ten Stel­len sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.