Aus dem Nachlass des 2018 verstorbenen Verlegers und Literaturwissenschaftlers Bernard de Fallois fanden sich neun frühe Erzählungen von Marcel Proust, davon acht bisher unveröffentlichte, die der Suhrkamp Verlag übersetzt von Bernhard Schwibs nun im Band »Der geheimnisvolle Briefschreiber« passend zum 150. Geburtstag des Schriftstellers in einem prächtigen Band vorlegt. Editiert wurde der Band von Luc Fraisse, Professor an der Universität in Straßburg. Es beginnt mit einer umfassenden Einführung, in der auch die Umstände der Entdeckung beleuchtet werden. Jedem Text wird zusätzlich noch einmal in Kursivschrift der Referenzrahmen innerhalb des Proust’schen Werkes vorangestellt und, soweit möglich, die Genese des Textes erläutert. Einfügungen, Streichungen und Korrekturen Prousts sind in den Fußnoten aufgeführt.
Ein konkretes Entstehungsdatum wird nicht genannt, vermutlich, weil die Texte nicht entsprechend gekennzeichnet sind. Sie sollen parallel zur Erzählung »Der Gleichgültige« verfasst worden sein, also um 1896 (da war Proust 25 Jahre alt).Der Grund, warum Marcel Proust diese Erzählungen unter Verschluss gehalten hatte, liegt bei aller Spekulation für Fraisse auf der Hand: Das Hauptthema, das hier »verhandelt« werde, sei Homosexualität. Der junge Autor zog es vor, die für die damalige Zeit »wohl zu skandalträchtigen Texte« geheim zu halten. Der umfangreiche Referenzapparat erklärt jedoch, dass Formulierungen und vor allem Motive dieser Texte in späteren Romanen, vor allem jedoch in der »Recherche« durchaus Verwendung finden.
Wer sich unmittelbar auf die funkelnde poetische Kraft Prousts, die auch in diesen bisweilen fragmentarischen Texten hervorleuchtet, einlassen möchte, lese zunächst die Texte selber ohne jegliche Einführung und Einordnungen (und ignoriere, wenn möglich, auch die Fußnoten). Das gilt insbesondere für die titelgebende Erzählung »Der geheimnisvolle Briefschreiber« (zudem hier in den Erläuterungen der Spoiler erläutert wird, dem Proust unterlaufen war) und »Erinnerung eines Hauptmanns«. Letztere wurde als einzige bereits einmal veröffentlicht, im Jahr 1952. Im Band steht sie rekonstruiert aus dem vorliegenden Manuskript von Proust.
Während in der »Hauptmann«-Erzählung ein Mensch zunächst auf eine einst als elysisch wahrgenommene Landschaft zurückblickt bevor er dann auf den schönsten Moment in seinem Leben zu sprechen kommt – ein Blick eines Mannes während einer Unterhaltung mit einem anderen -, fühlt sich eine Frau in »Der geheimnisvolle Briefschreiber« von einem unbekannten Verehrer brieflich belästigt und gleichzeitig erregt. Ohnehin neurasthenisch, versetzt sie diese Annäherung in noch größere Probleme. Paradoxerweise steigern sich die Qualen noch als der Verehrer akzeptiert, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Zudem keimt ein Verdacht, der geradezu skandalös anmutet. Auf wenigen Seiten wird hier ein tragisches, unerfülltes Liebesverhältnis aufgefächert – nicht ohne Seitenhiebe auf eine damals bereits als überkommen wahrgenommene gesellschaftliche Konvention, die insbesondere von der Kirche herrührt. Fast heiter hingegen die Erzählung »In der Hölle«, ein Dialog, der mit deftiger und doch zugleich subtiler Sprache ebenfalls Homosexualität zum Thema hat, ohne es direkt anzusprechen. Von der Liebe zur Musik wird in »Nach der 8. Symphonie von Beethoven« erzählt.
Nach einigen faksimilierten Manuskriptausrissen folgen dreizehn Texte, in denen Luc Fraisse Fragmente untersucht, die als einige der Quellen für »Auf die Suche nach der verlorenen Zeit« ausgewiesen werden. Untersucht wird u. a. der Einfluss des Soziologen Gabriel Tarde, die Variationen des ersten Satzes der »Recherche« und die Beschäftigung Prousts mit der Geographie von Balbec, eines Handlungsortes. Man erfährt auch, dass Proust seinen Concièrge beauftragte, die Rufe der Straßenhändler von Paris aufzuzeichnen.
Insgesamt ist der Band weniger für Neulinge als für Proust-Kenner von Interesse. Lust auf die Lektüre des Monumentalwerkes bekommt man dennoch. Vor allem, wenn man gleichzeitig diesen Essay von Lars Hartmann gelesen hat. Der feste Plan: 2022 ist es soweit. Wieder ein Proust-Jahr übrigens.