Élisabeth Étamble, geborene Fayet, genannt Betty, 28 Jahre, ohne Beruf, wohnhaft in Paris, findet sich plötzlich im »Trou«, einer Mischung aus Kneipe und Bistro, mit »Ausländer[n] oder Franzosen, die zwischen Versailles und Saint-Germain wohnen, irgendwo bei Marly, Louveciennes und Bougival«, Lebenskünstlern und bisweilen richtigen »Spinnern« wieder. Das Restaurant bietet täglich ein Gericht zum Abendessen, dazu wahlweise Chianti oder Whisky. Bettys Erinnerungen an die letzten Tage sind bruchstückhaft und es geht dem Leser wie der Hauptfigur: Man kommt zunächst nicht so recht hinein in Georges Simenons »Betty«.
Dialoge und Monologe, die erst später verständlich werden, die somnambule, wahrnehmungsgestörte Betty, der scheinbar nicht aufhörende, prasselnde Regen sozusagen als Begleitmusik. Etliche Protagonisten des »Trou« wohnen im »Hotel Carlton« in Versailles, so auch Laure Lavancher, die Witwe eines Medizinprofessors aus Lyon oder Mario, dem das »Trou« gehört und der Laures Liebhaber ist. Sie kümmern sich um die körperlich und psychisch geschwächte Betty, die vor einigen Tagen ihren Mann Guy, dem Sohn eines bekannten Generals, nebst den beiden Töchtern (4 Jahre und 19 Monate) verlassen hatte.
Die Umstände enthüllen sich dem Leser (und mit ihm auch Betty selber) erst nach und nach. Betty war in flagranti mit einem Liebhaber erwischt worden. Für die Offiziersfamilie, die gesellschaftlich noch im 19. Jahrhundert zu leben scheint, gibt es nur eine Reaktion: Verbannung und der vollkommene Verzicht Bettys auf die Kinder; freilich mit einem großzügigen, finanziellen Angebot.
Laure kümmert sich um die Gestrandete, lässt sie in ihrer Suite im Carlton ihren Schwächeanfall auskurieren. Betty erzählt aus ihrem Leben, streift ihre Kindheit, als man sie bei jeder Gelegenheit als »die Schmutzige« apostrophierte obwohl es doch der Onkel war, der das minderjährige Dienstmädchen regelmäßig »besprang« und drohte, es mit ihr auch zu tun, falls sie nicht schweige. Da stand fest, dass »Frauen dafür gemacht« waren, dass »der Mann sie erniedrigt und ihnen wehtut in ihrem Körper.« Als sie den »braven« Guy kennenlernte, warnte sie ihn vor sich, wollte ihm sagen, was sie getan und was sie »fast getan« hätte. Aber er war zu verliebt, wischte die Bedenken weg. Sechs Jahre hielt die Ehe.
Bettys Erziehung und Sozialisierung zur Frau hieß »dulden, hieß Opfer sein« und dies hatte für sie sogar »etwas Pathetisches.« Aber sie streift alles ab, verwandelt sich. Wer jetzt eine Opfergeschichte erwartet, wird enttäuscht. Simenons Roman ist eine Befreiungserzählung. Betty überrascht, wie schnell sie sich mit der neuen Lage, den neuen Bekannten, arrangiert und sogar ein Rückkehrangebot von Guy ausschlägt. Das Leben vorher, die Ehe, die Kinder spielen ab sofort für sie keine Rolle mehr. Das ist nur noch Vergangenheit. Bettys Rigorosität erscheint sogar noch heute, 60 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Romans, bemerkenswert.
Und es geht weiter. Nach der Befreiung von allen Konventionen entwickelt sich zunächst kaum merkbar, dann steigernd, Bettys neues Leben im Umfeld der »Trou«- bzw. »Carlton«-Gesellschaft. Es wird, wie Michael Köhlmeier im Nachwort erläutert, tatsächlich »unheimlich«, aber anders, als man denkt. Bettys zerstörerischer Charakter tritt zu Tage. Die weiteren Ereignisse (kein Wort hierüber in diesem Text) ergreifen den Leser, wühlen ihn auf. So schnell wird man das nicht vergessen.
Der beste Roman von Simenon – und das will was heißen.