Seit vielen Jahren ist Olivier Roy als Experte auf dem Gebiet des islamischen Fanatismus, der gemeinhin unter dem Begriff des Islamismus subsumiert wird, bekannt. Sein neuestes Buch »Heilige Einfalt« (im französischen: »La sainte ignorance«) trägt interessanterweise den deutschen Untertitel »Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen«. Dabei kommt der französische Untertitel weit weniger voreingenommen daher und drückt die Intention des Buches besser aus. Dort heißt es (eher beschreibend): »Le temps de la religion sans culture«, was mit ungefähr »Die Zeit der Religionen ohne Kultur« übersetzt werden kann.
Roy schreibt bereits im ersten Satz, dass seine Ausführungen nicht alleine als Kritik am Islam und dessen (sogenannter) fundamentalistischer Ausprägungen zu lesen sind. Und so wird die Sicht auf das Christentum und den zeitgenössischen Protestantismus, der sich immer mehr zum Evangelikalismus radikalisiert, ausgeweitet. Gelegentlich bezieht Roy sogar das Judentum und den »Hinduismus« in seine Betrachtungen ein. Gleich zu Beginn wird mit einem allzu beliebten Talkshow-Topos aufgeräumt: Es gibt keine »Rückkehr« des Religiösen, sondern eine Veränderung. Wir sind nicht Zeugen einer Explosion der Praxis, sondern eher von neuen Formen der Sichtbarkeit des Religiösen. Das, was wir derzeit beobachten, ist in erster Linie die Auflehnung des Gläubigen, der seinen Glauben bedroht sieht und mit den kulturellen »Herausforderungen« einer säkularen Gesellschaft Probleme hat. Dabei wirkt die Säkularisierung weniger in der Weise, dass sie die Religion an den Rand drängt, sondern indem sie Religion und Kultur voneinander entkoppelt und die Religion autonom werden lässt.
Kultur im Sinne dieses Buches sind Produktionen von symbolischen Systemen, gedachten Vorstellungen und bestimmten Institutionen einer Gesellschaft. Dabei sieht Roy »Kultur« und »Religion« weniger als Antipoden, sondern eher wie kommunizierende Röhren, die in einer gewissen Balance zu halten sind. Verblüffend die Feststellung, dass eine zu weit gehende Trennung bzw. Entmischung von Religion und Kultur erst einen Nährboden für neue religiöse Bewegungen schaffen könnte. Roy nennt das »Exkulturation«. Die Exkulturation des Religiösen geschieht, wenn die religiöse Norm sich von der Kultur ablöst. Gleichzeitig hat die Kultur ihre religiösen Wurzeln sowie alles profane Wissen über das Religiöse vergessen. Dies als »Entfremdung« zu bezeichnen, wäre in Anbetracht der Dimension, die in diesem Vorgang liegt, ein Euphemismus.
Derzeit erleben wir einen Übergang von traditionellen Formen des Religiösen…zu fundamentalistischen und charismatischeren Formen der Religiosität – begünstigt durch Kommunikationsformen, die globale Verknüpfungen in Echtzeit ermöglichen und zu einer Entterritorialisierung beitragen. Diese Entwicklungen werden detailliert beschrieben und sind immanent für nahezu alle Religionen bzw. religiösen Formen (am Rande wird thematisiert, worin die Differenz zwischen Sekte und Religion besteht). Dabei finden diese Phänomene im Namen von Gleichheit und Freiheit statt, basieren also auf den (kulturellen) Errungenschaften der Aufklärung. Das Paradox besteht darin, dass die Formatierung des Religiösen, die einst stattfand, um die Beherrschung unter den Bedingungen der territorialen und politischen Homogenisierung sicherzustellen, was im Allgemeinen von einem nationalstaatlichen Projekt ausging, heute unter dem Banner der »Menschenrechte«, der religiösen Freiheit und des Multikulturalismus stattfindet.
Dabei ist Multikulturalismus keineswegs die Anerkennung ursprünglicher Unterschiede, sondern nur Ausdruck dessen, dass sich Kulturen und Religionen an einem gemeinsamen Paradigma ausrichten, und zwar dem Paradigma des kleinsten gemeinsamen Nenners. Hier wird Roy polemisch, in dem er feststellt, es entstehe ein Kommunitarismus, reduziert auf den Zugewinn. Multikulturalismus sei eine Illusion, denn er zielt auf Gemeinschaften, in denen die Ablösung von religiösen und kulturellen Markern bereits stattgefunden hat: Beim Multikulturalismus wird künstlich etwas als kulturell definiert, was nicht mehr zur Kultur gehört. Salopp formuliert handelt es sich demzufolge um die falsche Form eines nivellierenden Werterelativismus, der die Basis für so etwas wie »heilige Einfalt« ermöglicht. Eine Einfalt, die sich weitgehend vom »Wissen« um die Religion selber abgekoppelt hat (von modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen erst recht).
Profan, säkular oder heidnisch
Für Roy liegt die Modernität des Religiösen in der Trennung von kulturellen und religiösen Markern zu Gunsten der religiösen Marker. Dabei kommen drei Positionen für die Religion in Frage: Sie kann die Kultur als profan, säkular oder heidnisch abtun. Profan ist die Kultur, die sich dem Religiösen gegenüber gleichgültig zeigt. […] Säkular ist die nicht religiöse, aber legitime Kultur: Sie erlangt Würde, Legitimität und Autonomie, aber die Autonomie wird durch das Religiöse fixiert. Die heidnische Kultur ist die Zeit der falschen Götter (Mensch, Revolution, Rasse, Staat), des Konsums und des Hedonismus.
Säkulare Strömungen, die für ein Nebeneinander von Kultur und Religion eintreten, nehmen zu Gunsten derjenigen ab, die die moderne Kultur als heidnisch einschätzen und verachten. Die Möglichkeit, dass eine säkularisierte Gesellschaft… weiter im Einklang mit einer religiösen Kultur und religiösen Werten bleiben kann, nimmt ab. Wer die Gesellschaft als profan oder heidnisch definiert, duldet keine kulturelle »Parallelwert« (auch dies gilt durchgängig für alle Religionen). Dabei geht es nicht darum, dass eine säkulare, libertäre Welt, die über keine Normen verfügt, einer religiösen Welt gegenübersteht, die einer transzendenten Ordnung unterworfen ist, sondern um zwei grundsätzlich verschiedene Definitionen der menschlichen Natur.
Indirekt thematisiert er damit auch den Laizismus in Frankreich. Indem die Religion sozusagen »unterdrückt«, d. h. aus der alltäglichen Lebenswelt entfernt und zur »Privatsache« deklariert wird, entsteht der Verlust der sozialen Selbstverständlichkeit des Religiösen. Die Gläubigen empfinden sich nunmehr als Minderheit, umgeben von einer profanen, atheistischen, pornografischen, materialistischen Kultur, die sich falsche Götter erwählt hat: Geld, Sex oder den Menschen an sich. In einem laizistischen Staatswesen kann eine Religion dem Fundament einer politischen Gemeinschaft nicht ihre eigenen Prinzipien entgegensetzen. Der Gedanke von Leibniz, eine Art »Zivilreligion« könne als moralisches Bekenntnis zur politischen Ordnung und zu den Werten des jeweiligen politischen Systems ein friedliches »Nebeneinander« von religiöser und kultureller Welt ermöglichen, scheint inzwischen illusorisch. Religion tritt aus dem Status einer identitäre[n] Subkultur heraus.
Die Ursache für diese Hinwendung zum Religiösen kommt bei Roy ein wenig zu kurz. Er mutmaßt, dass die religiösen Werte nicht mehr mit den kulturellen »Markern« in Übereinstimmung gebracht werden können. Der immer stärker werdende Individualismus und die Rechte von Frauen und Homosexuellen spielen…eine Schlüsselrolle bei der Neudefinition religiöser Marker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Werte und Moralvorstellungen verändern sich in großer Beschleunigung. Roy demonstriert dies am Beispiel der Homosexualität, die noch bis in die 1970er Jahre hinein in vielen westeuropäischen Gesellschaften strafbar war. Demzufolge würde es sich um eine Art Unbehagen in (und an) der modernen Kultur handeln. Das dieses Unbehagen zur »Tröstung« in die Religion führen kann, wäre dann als Erkenntnis so neu nicht (Freund wird allerdings mit keinem Wort erwähnt). Weiter führt Roy diesen Gedanken jedoch leider nicht; auf der vorletzten Seite heißt es ausdrücklich, die Krise der Kultur sei eine andere Geschichte.
Diese Abgrenzung ist zweifellos einer der Schwachpunkte dieses Buches, denn es bleibt die Frage, ob das eine vom anderen derart rigoros zu trennen ist. Zumal Roy eindrücklich erläutert, wie kulturelle und religiöse Marker nicht nur konkurrieren, sondern durchaus im Wechselspiel zueinander stehen und sich gegenseitig befruchten können. Hierzu werden umfangreiche historische Betrachtungen über Konversionen und Missionierungen insbesondere des Christentums (inklusive des Wettbewerbs zwischen Protestantismus und Katholizismus ab dem 19. Jahrhundert) angestellt. Dabei wird der Autor nicht müde, auch die Ausnahmen von einer aufgestellten Regel aufzuführen, was den Leser gelegentlich über Gebühr erschöpft. Die dabei ausgebreiteten skurrilen Nebenschauplätze religiösen Lebens haben sicherlich einen gewissen Unterhaltungswert, aber ob es von Wichtigkeit ist, von einer jüdischen Gemeinde von Myanmar zu erfahren (inklusive deren Konversionsgeschichte) oder die jeweiligen religiösen Vorlieben der Imame von Réunion und Guadeloupe zu kennen, mag dahingestellt sein. Manche Bücher lähmen, weil sie arg pauschalisierend sind. Roy lähmt manchmal, weil er zu ausnahmeversessen ist.
Intensiv werden die Folgen der deutlicher sichtbar werdenden Religiosität erläutert. Dabei gelingen Roy durchaus interessante religionsgeschichtliche Einsichten, deren Auswirkungen noch heute sichtbar sind. Etwa, das nicht nur im Islam sondern auch im Christentum die Verachtung der modernen Gesellschaft gegenüber virulent ist. Tatsächlich kannten katholische Missionare nur eine Zivilisation: nämlich ihre. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die westliche Kultur hat für die katholische Kirche keinen Wert an sich, sondern nur insofern, als sie vom Christentum erfüllt wurde und wird. Die Kirche verteidigt nicht d i e westliche Kultur, sondern die c h r i s t l i c h e westliche Kultur. Damit steht fest: Für Katholiken kann es keine säkulare, laizistische Zivilisation geben. Eine »entchristianisierte« Zivilisation wäre demnach eine Zivilisation zweiter Ordnung.
Dennoch erzielte der Katholizismus in der stillschweigenden Toleranz kultureller »Eigenheiten« kurzfristig Erfolge in seiner weiteren Verbreitung. Den katholischen Missionaren war der calvinistische Gedanke einer reinen Religion fremd. Man missionierte insbesondere im 19. Jahrhundert in einer weitgehenden Toleranz der heidnischen Gebräuche, ja unter Einbeziehung dieser, soweit essentielle Glaubenssätze des Christentums nicht tangiert wurden. Dies ist heute in Afrika, aber auch Mittel- und Südamerika anhand zahlreicher Geister- bzw. Voodoo-Praktiken sichtbar. Spätestens nach 1945 wurde die große ideologische Rechtfertigung des Kolonialismus, die Verbreitung der Zivilisation, angegriffen und aufgehoben. Das 2. Vatikanische Konzil beschleunigte die Entwicklung eines Konzepts der Inkulturation. Dabei ging es weniger darum, das Evangelium an die jeweiligen Kulturen anzupassen, als darum, die Kulturen durch das Religiöse zu verändern. (In den 1970er Jahren hieß das in der deutschen Politik »Wandel durch Annäherung«.)
Glauben ohne Kultur führt zum Fanatismus…
Inzwischen befinden sich die traditionellen christlichen Kirchen…zwar in der Krise, sowohl demografisch wie spirituell…, aber die christliche Religion an sich erlebt einen Aufschwung allerdings in neuen – protestantischen und fundamentalistischen – Formen. Mühsam versucht der Katholizismus des Papsttums nachzuziehen. Mit Johannes Paul II. und jetzt Benedikt XVI. ist längst die konservative katholische Reaktion wieder zurückgekehrt. Die Ergebnisse des letzten Konzils werden stiekum hintertrieben. Rom ist (wieder?) überzeugt, dass es keine Relativität der Kulturen gibt. Aber die Zivilisation ist die Kultur, die die ethischen Normen der Religion integriert hat. Katholiken wollen also mit der Kultur verbunden bleiben, wenn die Differenzen nicht zu divergierend sind. Die Herangehensweise ist also eher pragmatisch. Die Religion ist nicht die Kultur, aber sie kann nicht außerhalb einer Kultur existieren.
Dies ist bei den fundamentalistischen und charismatischeren Formen der Religiosität nicht der Fall. Sie betreiben die Ablösung des Religiösen vom Kulturellen. Ihnen gilt Roys Empörung, ja Abscheu. Denn Glauben ohne Kultur ist eine der Erscheinungsformen dessen, was wir Fanatismus nennen. Hier entsteht das, was er »heilige Einfalt« nennt. Glauben ohne Kultur bedeutet auch: Glauben ohne Wissen. Es sei nicht von ungefähr, so Roy, dass der Fundamentalist über »seine« Religion so wenig wisse (ein Auswendiglernen des Koran oder des Neuen Testaments ist, wie er richtig feststellt, kein »Wissen«).
Die Vorherrschaft der religiösen Norm macht jeden Versuch zunichte, eine Kultur zu errichten. Dies führt unter Umständen zu einem krankhafte[n], pathogene[n[, oft kriminelle[n] oder suizidale[n] Bestreben, den »alten« Menschen in sich (und im anderen) auszumerzen, elementar zu finden im religiösen Radikalismus der Dschihadisten. Aber – und das macht Roy schon am Anfang deutlich – anti-kulturelle Affekte gibt es nicht nur dort: Die religiöse Dimension des Kommunismus beispielsweise bei den europäischen Maoisten, ist inzwischen nahezu unumstritten. Und für die ganz Radikalen wie die roten Khmer verhinderte gerade die Kultur die Geburt des neuen Menschen. Generell gilt also: Tabula rasa machen zu wollen, ist eine Form der heiligen Einfalt und bleibt nicht unbedingt auf das Religiöse beschränkt. Leider vertieft Roy im weiteren Verlauf diesen Gedanken nicht weiter. Eine Definition und Entwicklung einer »säkularen« Einfalt, eines politischen Fanatismus beispielsweise, findet nicht statt. Beispiele zu »weltlichen« Intoleranzen bis hin zu einer totalitären Moderne – und seien sie nur Gegenbewegungen zur »heiligen Einfalt« – vermisst man. Roy verharrt bei dem Szenario, wenn Religion nicht Teil der Kultur ist, sondern sich selber zur Kultur erhebt. Es wäre aber genau so interessant festzustellen, was geschieht, wenn Kultur sich selber zur einzigen Instanz in einen quasi-religiösen Status der Unantastbarkeit erhebt und jegliche Abweichungen mit nahezu missionarischer Inbrunst verfolgt. Oder, polemisch formuliert: Wenn eine »offiziell« der Aufklärung verpflichtete Kultur beispielsweise skeptische Selbstbefragungen per se als »Häresien« auffasst.
…aber wohin führt der Absolutheitsanspruch einer Kultur?
Ausführlich geht Roy auf die Verbreitung der verwandelten, durchaus selbstbewusst agierenden Religiosität ein. Religiöse Objekte können immer schneller »global« zirkulieren. Hierzu bedarf es bestimmter Voraussetzungen, beispielsweise, dass Religion universal erscheinen muss und nicht an eine bestimmte Kultur gebunden [ist], die man erst verstehen muss, bevor man die Botschaft begreifen kann. So »funktioniert« laut Roy der Hinduismus außerhalb Indiens nur, weil er sich von der Kultur ablöst. Das Phänomen der I‑Church, einer »Internet-Kirche« als Endpunkt der Entwicklung, macht den Gläubigen unabhängig von lokalen Bindungen und schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl von Menschen, die über den gesamten Globus eigentlich »verstreut« sind. Hier sei der Protestantismus eindeutig im Vorteil, während beispielsweise der Katholizismus noch immer auf Territorialisierung und lokale Verwurzelung fokussiert sei. Ganz stringent ist seine Argumentation nicht, zumal er seine These später wieder relativiert.
Den von Huntington prognostizierten Clash der Kulturen negiert Roy. Nicht der Zusammenprall der Kulturen ist die Quelle von Gewalt sondern die Trennung von Kultur und Religion zu Gunsten des Religiösen. Aber was bedeutet das nun? Was tun mit dem Wissen, dass die heilige Einfalt offenbar immer mehr Boden gewinnt? Man würde Roy missverstehen, wenn man ihm unterstellte, er sei gegen die Säkularisierung weil er postuliert, diese bringe das Religiöse hervor. Das Buch zeigt das Gegenteil. Aber wie sind diese Konversionen zum Religiösen aufzuhalten? Roy stellt fest: Auffälligerweise betreffen Konversionen in alle Richtungen dieselben Milieus: Immigranten der zweiten Generation, verunsicherte Schichten, »sichtbare Minderheiten«, zornige junge Leute, die auf der Suche sind. Sind es also soziale Ursachen, wie so oft angeführt wird?
Roy lässt den Leser mit diesen Fragen alleine. Dieser Rückzug auf die reine Diagnose der neuen religiösen Organisationen fügt sich in das bereits angesprochene Ausklammern der kulturellen Krisenentwicklungen (mit Ausnahme des Multikulturalismus) ein. Seine »Tröstung« kommt überraschend beruhigend daher: Das Religiöse ist zwar deutlicher sichtbar, aber zugleich ist es häufiger im Niedergang begriffen. Schließlich: Diese Veränderung ist nichts weiter als ein Augenblick, ein Moment. Sie führt nicht notwendigerweise in ein neues religiöses Zeitalter. Kommt Zeit, kommt Rat, sozusagen.
Und wie soll man die Aussage deuten, Religionen erschafften eine profane Kultur. Denn sie schmieden die Werkzeuge, die danach außerhalb des religiösen Rahmens verwendet werden. Demzufolge würde ja dann die fundamentalistische Religionspraxis irgendwann auch kulturelle »Werkzeuge« »schmieden«. Wie sehen die aus? Und wie versteht man dann den nachfolgenden Satz: Doch genau dieses Band greifen die religiösen Wiedererweckungsbewegungen von heute an. Ist die Radikalisierung des Religiösen also doch von Dauer?
Deutlich wird: Die »heilige Einfalt« ist nicht zu verwechseln mit dem naiven Kinderglauben, der sich mit einem Nischendasein abfindet und nonchalant historischen und wissenschaftlichen Thesen in Bezug auf Glaubensfragen ausweicht. Aber wie die Evangelikalen in den USA zeigen, die wesentliche naturwissenschaftliche Axiome schlichtweg ablehnen, gibt man sich nicht mehr mit dem »zweiten Platz« zufrieden, sondern beansprucht die Deutungsmacht. Dabei besitzt die Phrasen- und Parolenhaftigkeit der heiligen Einfalt den verführerischen Charme der Komplexitätsreduzierung. Dieser Affekt gegen die zunehmende Verwissenschaftlichung der Welt geht mit der Verheißung einer wie auch immer gearteten »Gemeinschaft« einher. Auch hier also eine Art Kommunitarismus, allerdings mit transzendentaler Rhetorik übergossen.
Noch ein Einwand: Arg störend sind diese unzureichend erklärten und gelegentlich doppeldeutig verwendeten Wortkreationen wie »Inkulturation«, »Dekulturation«, »Exkulturation« und »Akkulturation«. Unklar bleibt auch, warum der Begriff der »Orthopraxie« eingeführt wird. Ein Autor wie Olivier Roy hat solche verbalen Kraftmeiereien nicht nötig. »Heilige Einfalt« ist als fundamentale, aktuelle Religionskritik ein hochinteressantes und enorm lehrreiches Buch. Fast en passant ordnet Roy Problemfelder, für die andere ermüdende Essays schreiben. Roys Buch müsste Demagogen wie Dawkins und dessen Papageien als Pflichtlektüre verordnet werden. Man wünscht sich, dass der Autor ergänzend eine (mindestens ähnlich wichtige und notwendige) Kulturkritik verfassen wird.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochen Buch.
Da Religionen eine integrierende Funktion besitzen, und letzte Ursachen, Weltabläufe, Schicksale u.ä. verkünden, wäre unser Zeitalter prädestiniert für eine Wiederkehr des Religiösen und Spirituellen – wer hat nicht den Eindruck einer auseinander fallenden Welt, der Unmöglichkeit einen Überblick zu bewahren, der Gleichzeitigkeit mehrerer Perspektiven, usw. (aber ich habe keine empirischen Einwände zur Hand – schweigt der Autor diesbezüglich?).
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Warum Religion nicht als einen Teil der menschlichen Kultur begreifen, sie passt doch in die Definition: symbolische[n] Systeme[n], gedachte[n] Vorstellungen und bestimmte[n] Institutionen einer Gesellschaft.
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Was genau sind religiöse oder kulturelle Marker? Ich werde nicht schlau aus dem Begriff...
Religiöse bzw. kulturelle Marker sind – kurz gesagt – Konnotationen, Verhaltensweisen, Gebräuche, Denkstrukturen in der ein oder anderen Art. Sie treten aber, so meine Lesart des Buches, selten in Reinform auf, sondern sind miteinander verwoben. So wäre bspw. Demokratie ein kultureller »Marker«, der jedoch auch auf durch Religionen vermittelte Werte beruht.
Ich habe mir dabei eine Art Lineal vorgestellt. Rechts sind die eher religiös aufgeladenen Kategorien, links die kulturellen Marker. Ganz rechts bzw. ganz links dann die streng religiösen bzw. rein kulturellen Denkstrukturen. Roys These geht nun dahin, dass der wie sich auch immer artikulierende religiöse Fundamentalismus eindeutig nach rechts geht. Der Laizismus bspw. französischer Ausrichtung ist relativ weit links angesiedelt. Roy schweigt über eine zu starke Tendenz nach »links« fast vollständig (außer im Multikulturalismus), sondern beschäftigt sich mit der von ihm genannten »Heiligen Einfalt«, d. h. der Hinwendung zum Religiösen.
Roy zeigt, wie beispielsweise die katholische Mission im 19./20. Jahrhundert kulturelle Verhaltensweisen der zu Missionierenden akzeptierten und duldeten, obwohl diese teilweise oder sogar offen der »reinen Lehre« widersprachen. Das ist natürlich ein Prozess, der nicht nur dort auftauchte. Alleine die Tatsache, dass wir heute Weihnachten am 24./25. Dezember feiern, ist mit dem kulturellen Brauch des Wintersonnenwende-Festes geschuldet, welches um den 21. oder 22.12. gefeiert wurde (von nun an wurden die Tage wieder länger). Religion passte sich der Kultur an, die dann durch die Religion weitergeformt wurde.
Die Gründe für die erneuten Hinwendungen zum Religiösen spricht er am Rande an: Die, wie Du es nennst, auseinanderfallende Welt. Das Religiöse verspricht die zuverlässige Vereinfachung der Welt. Mit meinen Worten: Der Erdrutsch, das Erdbeben, die Klimaveränderung – all diese Phänomene brauchen nicht als komplizierte naturwissenschaftliche Phänomene betrachtet und analysiert zu werden, sondern als »Strafe Gottes« (das ist jetzt sehr vereinfachend; kaum eine Religionsinterpretation ist derart platt). Damit ist nichts ausgesagt über die Funktion von Religion an sich. Ich glaube, die bestreitet Roy gar nicht.
Roy spart die kulturellen Implikationen in seinem Buch fast aus. Daraus, dass sich aber eine Heilige EInfalt immer mehr konstituiert kann allerdings indirekt auch eine Kritik des kulturellen Habitus gelesen werden. Die Verwissenschaftlichung der Welt schafft offenbar nicht das, was die Religionen vermochten (auch wenn diese unter zum Teil mit Zwängen operierten).
Meines Erachtens hat das Zunehmen der Heiligen Einfalt auch mit einer Desillusionierung der sozialen und ökonomischen Aufstriegschancen zu tun. Der Kapitalismus, der bis vor 30, 40 Jahren noch als eine Art Ersatzreligion »Wohlstand für alle« versprach (nicht nur in Deutschland), wird nicht mehr als Chance oder Herausforderung gesehen, sondern eher als Bedrohung und scheint an seine Grenzen zu stoßen. Die Verheißung der irdischen Wohlfahrt funktioniert nicht mehr. Die Industrialisierung trug m. E. seit dem 19. Jahrhundert wesentlich zur Entsakralisierung der Welt bei. Das Studium der Medizin bekam einen höheren Stellenwert als das Studium der Theologie, weil man damit direkt und nachprüfbar Menschen retten konnte. Die Naturwissenschaften übernahmen die Funktionen der Theologie. Statt Jenseitserwartung wurde das Diesseits attraktiv. Diese(s) Versprechen funktionier(t)en nicht mehr. Auch Heinsohns These der demografischen Entwicklung bestimmter Gesellschaften greift dann: Wo es viele Söhne gibt, ist die ökonomische Sicherheit nur noch für den Erstgeborenen gewährleistet. Das Religiöse bekommt seine Attraktivität als Motor des Handelns wieder zurück.
Roy bemerkt etwas Offensichtliches, was andere übersehen.
Und zwar anscheinend absichtlich übersehen:
Es sei nicht von ungefähr dass der Fundamentalist über »seine« Religion so wenig wisse (ein Auswendiglernen des Koran oder des Neuen Testaments ist, wie er richtig feststellt, kein »Wissen«).
Die geradezu sprichwörtliche »Dummheit« /»Weltfremdheit« der »Fundies« ist demnach systembedingt: Fundamentalismus spricht Menschen an, die es gerne einfach haben, nicht allein im Sinne einfacher Erklärungen (Naturkatastrophen usw. als »Gottes Strafe«), sondern auch im Sinne des Nicht-Nachdenkenwollens. Das hat m. E. nichts mit mangelnder Intelligenz und wenig mit mangelnder Bildung zu tun, sondern auch mit der Alltagserfahrung, dass Grübeln »nichts bringt« – vor allem dann, wenn man keine wirklichen Handlungsmöglichkeiten hat, sich machtlos fühlt – und einfache Gewissheiten zufrieden machen.
So gesehen bedaure ich es, dass Roy sich offensichtlich so wenig der »linken« Seite und der weltlichen Ideologien, annimmt.
Eine persönliche Beobachtung aus dem »Neuen Heidentums«: auch in dieser »Szene« ist es so, dass Nichtwissen den Fanatismus befördert. Das gilt sowohl für weltfremde »Lamettahexen« wie für ständig die (angeblichen) »germanischen Tugenden« im Mund führende Rechtsextremisten – eine nähere Beschäftigung mit historischen Tatsachen oder ein genaueres Nachdenken über Mythen stören nur beim Spinnen von Macht‑, Opfer‑, und Hassphantasien.
#3/MMarheinecke
eine nähere Beschäftigung mit historischen Tatsachen oder ein genaueres Nachdenken über Mythen stört nur beim Spinnen von Macht‑, Opfer‑, und Hassphantasien.
Ja, genau das meinte Roy. Eine im übrigen auch für mich eher neue Erkenntnis.
Freilich darf man das nicht generalisieren. Sicherlich wissen die Imame, Mullahs oder Heilsprediger vermutlich ziemlich genau Bescheid – und zwar in und über der Diktion, die sie gerade bevorzugen. Insofern ist die Heilige Einfalt kein Phänomen der Eliten, sondern der Mitläufer.
zu #2
Diese(s) Versprechen funktionier(t)en nicht mehr.
Ich möchte insofern widersprechen: Die reine Diesseitigkeit war nie und wird nie zufriedenstellend sein. Religiöses Erleben wird es immer geben, ungelöste Fragen und Rätsel auch – ich mag mich täuschen, aber eine gewisse Ewigkeits- oder Unendlichkeitssehnsucht scheint fest in uns implementiert zu sein. Andererseits stimmt es natürlich, dass nicht alle Zeiten gleich religiös geprägt waren (und alle Menschen ebenso).
Wenn sich das Religiöse vom Kulturellen ablöst, dann muss es Zeiten gegeben haben in denen das nicht so war – nennt Roy da Beispiele (möglicherweise könnte man das europäische Mittelalter ja als umgekehrtes Extrem verstehen)?
zu #6
Er nennt nicht explizit Beispiele. Das ist natürlich ein Prozess – noch Mitte des 20. Jahrhunderts waren – so verstehe ich Roy – religiöse und kulturelle Durchdringungen miteinander verwoben. Der Bruch dürfte mit der Aufklärung begonnen haben.
Mir hat das sofort eingeleuchtet. Die vollständige »Verdrängung« alles Religiösen ist ein zwingendes Merkmal der sogenannten Postmoderne.
Wenn ich Roy richtig verstanden habe, gab es zwar durchaus den Absolutheitsanspruch des Religiösen (bspw. im Mittelalter), aber das Kulturelle wurde zumeist nicht verdrängt oder negiert, sondern, sofern es irgendwie ging, einbezogen.
zu #5
Ich sage nicht, dass ich damit übereinstimme. Ich glaube nur, dass das Religiöse spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts für viele keine Perspektive mehr darstellte. Zumindest das institutionell Religiöse verkam zur Folklore.
Schon in den 1970er Jahren nahm dann die Hinwendung zu Sekten zu – so ganz vermochten sich viele von Spiritualität und Unsterblichkeitsideen nicht zu befreien. Auch Politik bekam religiöse Züge (bspw. der Maoismus). Ich glaube, in der Form wie die Verwissenschaftlichung der Welt zunimmt, wird auch die Sehnsucht nach religiösem Überbau wieder manifest. Man sieht das ja in den USA mit einigem Erschrecken. Wenn aber dem Menschen seine »Einmaligkeit« genommen wird (bspw. durch die Aberkennung dessen, was man gemeinhin »freien WIllen« nennt), wird dies zu einer Abwendung führen.
Selbst der »neue Atheismus« ist ja derart missionarisch, dass sein religiöser Anti-Religionseifer nur noch schockiert.
Bei euch gibt es sicher auch die sogenannte »Lange Nacht der Kirchen«. Ich habe mir das angesehen, und festgestellt, dass tatsächlich viele in die Kirchen geströmt sind. Da ist durchaus Interesse und Bedürfnis vorhanden, was man aber scheinbar nicht will ist eine dauerhafte Bindung (an eine Institution), man konsumiert Religion lieber ab und an (wie weit das dann noch Glaube oder Religion ist, sei einmal dahingestellt...).
Vielleicht war das immer schon so – ich las einmal (ich glaube in der Zeit), dass das mitunter früher »nicht anders« gewesen wäre, aber die meisten gar keine andere Wahl gehabt hätten. Die abtrünnigen Schäfchen wären als zum Teil auf die Wahlmöglichkeit zurückzuführen.
zu #7
Ja, so ähnlich meinte ich das: Eine Beherrschung der Kultur durch das Religiöse, aber keine Verdrängung.
Ich finde die »Ablösungsthese« sehr interessant, vor allem ein neuer Ansatz, ich fürchte ich kann sie mir nur noch nicht gut genug vorstellen.
Was mich jetzt aber verwundert ist die Verdrängung des Religiösen in der Postmoderne – warum? Das hätte ich eher umgekehrt gesehen: Die vielen Perspektiven die die Postmoderne kennzeichnen, den Verlust des einen, müsste doch dem Religiösen eine Rückkehr ermöglichen (oder weil es plötzlich nur mehr eines unter vielem ist)?
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