August-September 2021
In den Spitalsbetten neben mir Greise ohne Lebenswillen, mit hinfälligem Körper, der für jede kleinste Verrichtung auf Assistenz angewiesen ist, selbstständig können sie nichts mehr tun, auch wenn noch ein Funken Wille da sein sollte. Ist es ihnen recht, daß sie noch eine Zeitlang im Leben gehalten werden, wollen sie das wirklich? Wo sie das Essen und das Wenige, was sie verdauen, nicht mehr behalten können, sich anscheißen (in die Windel, selbst können sie sich nicht säubern) und ankotzen (selbst können sie sich nicht säubern). Die Hilflosigkeit, in viel geringerem Ausmaß, erlebe ich jetzt an mir selbst, mit guten Aussichten auf Wiederherstellung.
Unter den Fingernägeln der Schmutz der Pfütze, in der ich saß, und das getrocknete schwärzlich-rötliche Blut, das damals, vorgestern, aus meiner Wunde an der Stirn tropfte.
Einer der Greise nimmt den Schmerz vorweg, er stößt im voraus, sobald sich die Pflegerinnen nähern, die kleinen Schreie aus, wahrscheinlich spürt er den Körperschmerz tatsächlich vor jeder Bewegung. Phantasie oder Physiologie, es kommt aufs selbe hinaus. Er brüllt nicht, sondern teilt behutsam-routiniert seine Gefühle mit, indem er das längst eingeübte Liedchen vom Schmerz zum Besten gibt. Er weiß genau, wie die Krankenschwestern, die ihn im Bett anheben und umdrehen, reagieren werden: Sie finden ihn süß wie einen hübschen kleinen Jungen. Dieses Singspiel wiederholt sich jeden Tag mehrmals: itai-itai – kawaiine – itaitai – kawaiiii . . . Der Greis genießt es wie ein junger Geck, er wird wieder zum verwöhnten Knaben auf der Schwelle zum Mannesalter, der immer aufs neue die Kunst der Verführung entdeckt. Und trotzdem leidet er Schmerzen, sie werden ihn nie mehr verlassen.
Zwei Tage ohne Bücher und zum Nichtstun, zum reglosen Liegen verurteilt – eine schreckliche Zeit, auch wenn ich kaum imstande gewesen wäre, zu lesen. Wenigstens die Bücher neben mir zu wissen, den Blick auf irgendeine Seite geheftet, wäre mir ein Trost gewesen.
Ich soll ein Gedächtnisprotokoll anfertigen, für die Versicherung oder eine eventuelle Gerichtsverhandlung, in japanischer Sprache kann ich das nicht (mit Computer wäre es möglich, recht und schlecht), also mache ich es auf englisch. Am Ende werden sie auch das von einem sogenannten Profi ins Japanische übersetzen lassen. Die ständige pingelige Übersetzerei führt dazu, daß hier außer den paar Profis kein Mensch eine Fremdsprache kann. Das ist der eigentliche Grund des Zustands, den man seit dem gleichnamigen Film »Lost in translation« nennt.
On Sunday, August 15, me and my daughter went to the shopping center Fuji Grand with the intention to watch a film and have dinner. As usual we went there by bicycle. When we arrived at the underbridge of the motorway called »bypass”, near the shopping center, there was a car driving very slowly coming from the right. Apparently, the driver didn’t know the way, guided by his GPS. He suddenly turned to his right entering the underway without signaling. I entered the underbridge behind that car, a little nervous because of the driver’s behavior. At that time, on a rainy and still clouded day, it was around seven o’clock P. M. and almost dark, the ground covered with puddles. When I came to the exit of the tunnel, riding very slowly (not being able to stop completely because of the water on the ground), I looked at the mirror in front of me on the sidewalk, a little far from the exit of the tunnel, but I could see no car coming from either side. So I went on, entering the crossroad, and at the same moment I crashed against a dark colored car which had its headlights turned off. I fell to the ground and was not able to stand up, feeling pains and blooding from a wound at my forehead. Meanwhile the car had stopped and two persons, male and female, whose faces I could not distinguish clearly because of the darkness, were approaching. Also, my daughter who had been cycling behind me arrived. I think it is the driver or co-driver who called the ambulance. During the time till it arrived I was conscious, sitting on the ground. My daughter stationed her own bicycle, and mine was carried off the road. After a while, the ambulance arrived. It was clear that I could not walk by myself and I was carried to the vehicle.
Meine Sackgasse. Die vergeblichen, teils unbewußten, mehr oder weniger wilden Befreiungsversuche daraus. Versuche, die mich nur immer tiefer in die Gasse hineintrieben, mich immer aussichtsloser feststecken ließen.
- An einem Gewittertag mit dem Fahrrad gegen eine Barriere aus blumengekröntem Beton gefahren.
- Die alten Sehnsüchte weiterverfolgt, obwohl die Erfüllungsaussichten auf weniger als Null gesunken sind. Minus eins. Minus zehn. Eisige Temperaturen bei sommerlicher Feuchthitze.
- An einem düsteren Regenabend mit dem Fahrrad aus dem Tunnel heraus gegen ein düsteres Auto gefahren. Von wegen »Am Ende des Tunnels ist ein Licht«.
Es genügt mir, die drei Zimmernachbarn, die alle wenigstens zehn, fünfzehn Jahre älter sind als ich, zu hören. Ich muß sie nicht sehen, will sie nicht sehen. Aus ihren Geräuschen, dem Stöhnen, Winseln, Jaulen, Schnarchen, aus den wenigen Wörtern, die sie den Krankenschwestern gegenüber von sich geben, vor allem aus dem Tonfall dieser Sätze, aus ihren verhaltenen Protesten und übertriebenen Höflichkeit kann ich auf ihre Persönlichkeit, ihren Charakter, ihr Aussehen, ihre ganze Geschichte, den Grad ihrer Hinterhältigkeit schließen. Wenn ich das Zimmer verlasse, vermeide ich es, sie anzusehen. Mehr als das, was ich über sie weiß, kann mir ein realitätsbedingtes Sehbild nicht über sie sagen. Ich will nicht, daß das Bild, das ich mir konstruiert habe, zerstört wird. Als mir einmal doch ein Blick auf einen von ihnen entkommt, sehe ich durch den Spalt im hellrosa Vorhang einen Totenschädel mit geschlossenen Lidern, eingefallenen Wangen, eingefallenem Mund. Wahrscheinlich atmet er schwach, der vorweggenommene Totenschädel, den ich nicht sehen wollte.
Unerträglicher Gedanke, daß ich selbst einmal in diesem ruinösen Zustand sein werde, wo mir andere eine Windel anlegen und fortnehmen, was ich zulassen muß, hilflos wie ich bin, mit Schmerzen bei der kleinsten Bewegung. Wie soll ich das durchstehen? Bis zum Ende, das ich längst herbeisehne.
Diese kleine, stämmige Frau mit dem flächigen, stets ungerührten Gesicht und den flinken Äuglein, dieses Schränkchen auf unermüdlichen, in immergleichem Rhythmus rollenden, mehr rollenden als stampfenden Beinchen, hat jederzeit den gesamten fünften Stock im Blick und auch im Griff, wenn sie hier und dort und noch anderswo hinbringt, was gerade fehlt, jede Lücke sofort erfassend. Sie ist die Wiedergeburt der Volksschülerin, einem sehr kleinen, aber kräftigen Mädchen, kleiner als alle Schulkameraden, das vom ersten bis zum letzten Schultag klaglos in die Schule lief, die drei oder vier Kilometer hinter sich brachte, Stoff aufsog und Aufgaben erledigte, bald auch Tischtennisbälle zurückschlug, von denen keiner an ihr vorbeikam, dann nach Hause rollte, drei oder vier Kilometer, und – Wiederholung des Immergleichen. Wiedergeburt? Oder hat sie sich zehnmal schneller als alle anderen, die jetzt vielleicht eine Universität oder Fachschule besuchen oder in einem Geschäft zu jobben begonnen haben, zur Frau entwickelt, immer schon schneller, auch in der Entwicklung? Ich glaube, sie wird jetzt auf dieser Stufe bleiben. Vielleicht stirbt sie nie.
Früher glich die Frau einem Tischtennisball. Jetzt, härter geworden, vergleicht man das Ganze mit ihr.
Ad Péter Nádas: Wenn man derart reich mit mündlichen und schriftlichen Erzählungen aus der Großfamilie beschenkt worden ist, und zwar über die Generationen hinweg, und wenn obendrein einige Familienmitglieder in der Öffentlichkeit wirkten, so daß viele ihrer Aktivitäten von anderen dokumentiert wurden, Parlamentsreden zum Beispiel, hat man, wenn man Schriftsteller wird, fast die Pflicht, daran weiterzuschreiben und etwas daraus zu machen, einen großen Text. Ich stelle mir das als Chance, aber auch als niederdrückende Last vor. Andererseits hat es große Vorteile, sich von seiner Familie nicht konditionieren zu lassen und sich, soweit das eben möglich ist, nicht nur geographisch, sondern auch in seiner Entwicklung, aus dem Staub zu machen. Es gab eine Zeit, wo sich Nádas von der Familie losgesagt hat, der frühe Tod der Eltern war dem vielleicht förderlich, aber losgekommen ist er letzten Endes nicht. Er hat den Familienroman in diversen Versionen geschrieben, das aber in Freiheit, als Erfinder. Seine frühkindlichen Erinnerungen sind sehr, sehr früh. Es spielt keine Rolle, wieviel daran erfunden ist oder nicht. Ohne Erfindung keine Erinnerung.
Auf dieser Station liegen gebrechliche Greise, die aufstöhnen, wenn ihre Windeln gewechselt werden; Männer, die sich einen Arm, eine Hand oder ein Bein verletzt haben, unter ihnen auch Sportler wie der junge Baseballspieler, der das Bett des sang- und klanglos in der Nacht verschiedenen Greises rechts vom Zimmereingang bekommen hat und sich nichtsahnend die halbe Nacht lang in irgendwelchen Sozialmedien tummelt, wie ich an den Lichtspielen seines Smartphones erkenne; und junge Familien mit hustenden Kleinkindern oder Babys, deren Eltern in Hauskleidung mit dem Fläschchen durch den Gang eilen, um heißes Wasser zu holen.
Abgesehen von meiner geschätzten Herzensärztin, der Kardiologin, verstehe ich mich in den Krankenhäusern am besten mit den Physiotherapeuten, den Leuten von der Rehabilitation, vielleicht nur deshalb, weil ich mit ihnen die längsten Zeitspannen verbringe, etwa fünfzehn bis dreißig Minuten zweimal täglich. Oft sind es aufgeschlossene junge Männer, neugierig, durch hierarchische Rücksichten nicht so eingeschränkt wie Pfleger, Reinigungspersonal, Büroangestellte (zum Teil auch Ärzte), weil bei ihrer Tätigkeit individuelles Urteilsvermögen wesentlich ist und sie nicht so strikt kontrolliert werden können (obwohl sie jede kleinste Handlung und Veränderung aufschreiben müssen), keinem unerbittlichen Zeit- und Organisationsplan unterliegen. Wir reden über dies und das, oft über Familie und Kinder; die beiden jungen Männer, die ich zuletzt kennengelernt habe, scheinen glücklich verheiratet zu sein und sich mehr als der Durchschnitt um ihre Kinder zu kümmern.
Erinnerung: die schön gesprenkelte Löschwiege in der Pfarrkanzlei zu Adlwang im fernen Oberösterreich.
Kurze Geburtstagsfeier heute morgen, allein, mit einer halben Tafel Alfort-Schokoladekeks und einer Dose Georgia-Kaffee.
Der Telephonanruf meiner Tochter am Geburtstag, die hörbare, spürbare Freude in ihrer Stimme, daß es mich gibt, daß ich geboren bin, daß ich noch lebe. Implizite Aufforderung zum Weiterleben, Weitermachen. Weiterschreiben.
Das Gehen im fünften Stockwerk, in alle Himmelsrichtungen, anfangs mit Gehhilfe, jeweils bis zum Fenster oder zur Glasfront, beim Hinausblick die Gegend erkennend, mir bestätigend, fast: die Landschaft dort segnend – der große Teich, wo manchmal ein, zwei weiße Reiher im Schilf oder Busch stehen; die Apotheke am gegenüberliegenden Ufer, durch deren Glasfront ich oft, während ich auf die Medikamente warte, übers Wasser und zum Krankenhaus schaue, in dem ich mich jetzt befinde; die mit Häusern gefüllten Hänge und Senken; die nächtliche Skyline; der Kagamiyama, unser Hausberg; die doppelte Bergspitze, mein hiesiger Zwillingskogel, den ich einmal bis zum ersten Gipfel bestiegen habe, für den zweiten war es schon zu spät; der Hügel, durch dessen Wald ich so gern spaziere auf dem einsamen Pfad; das Waldrandcafé (von hier aus nicht sichtbar); die ferneren Berge mit den Ortschaften, Waldtempeln, Talöffnungen dahinter; der zum Greifen nahe Bergrücken an der Ostseite, gegenüber vom Krankenhauseingang, wie ein Tierschatten nachts, gestern stand der Vollmond knapp darüber.
In ein anderes Krankenhaus überstellt, es ist viel kleiner, was Vor- und Nachteile hat. Wirkt eher wie ein Altersheim, fast nur Kranke, bei denen kaum Aussicht auf Besserung besteht, viele über achtzig, neunzig. Im Duschraum neben einem Abgemagerten, Haut und Knochen, kann sich fast nicht selbständig bewegen. Nackt gehe ich an seinem Totenschädel vorbei, während Pflegerinnen ihn mitsamt seiner Liege abduschen. Anscheinend bin ich der Jüngste hier, zumindest auf diesem Stockwerk, und ich werde das Haus bald verlassen (hoffe ich). Manche Krankenschwestern reden mit mir wie mit einem Dementen, manche brüllen, obwohl ich gut höre, was an meinen Reaktionen abzulesen sein müßte; bei anderen spüre ich die Freude, daß sie es mit einem zu tun haben, der noch mit beiden Beinen im Diesseits steht. Die Physiotherapeuten sind hier alles in allem etwas dümmer als die, mit denen ich bisher zu tun hatte, zwar gesprächig, manchmal allzu sehr, viel Blabla und wenig Therapie. Man arbeitet, oder tut so, als arbeite man. Immerhin habe ich ein Einzelzimmer, Aussicht auf eine Ausfallstraße, die meiste Zeit sitze ich am Computer, korrigiere meinen Roman. Vor ein paar Tagen ist mein Essaybuch erschienen – ich habe keine Ahnung von seinem Schicksal, und auch sonst wenig Ahnung vom Schicksal der Welt. Kein Internet, dazu meine eingefleischte Abneigung gegen das Fernsehen. Ein französischer Freund ruft mich am Kinderhandy an (mit dem ich nur wenige gespeicherte Nummern anrufen kann) und berichtet mir vom Fall von Kabul, der sich vor einigen Tagen in Afghanistan ereignet hat.
Heute in ein anderes Zimmer gewechselt, ein Stockwerk weiter oben, im Grunde genommen ist es ähnlich wie so viele andere Zimmer, in die ich mich im Verlauf meines Lebens eingenistet habe, manchmal wurden sie mir für ein paar Wochen geliehen, oder ich habe sie gemietet: von den Gästezimmern im Haus meiner Kindheit über die Bude in Rom, als ich ein blutjunger Student war, in einem Dachaufbau in der Nähe des Monte Testaccio, und die chambre de bonne im elften Bezirk von Paris, das mir ein befreundeter Schriftsteller zur Verfügung gestellt hatte, bis zu dem gemieteten Zimmer in Buenos Aires, Barrio Norte, mit Aussicht quer über den Lichthof auf die fensterlose fleckige Gegenwand, zur Zeit von Borges‘ hundertstem Geburtstag. Und hier in Saijo, Hiroshima? Aussicht auf Hügel und Berge, die Straße, die nach Takaya hinüberkurvt. Hier werde ich bleibe, mich einnisten, lesen, schreiben… Wie bisher, wie immer, wie überall.
Zwischen sieben und acht Uhr morgens die Mittelschüler, die in kleinen Pulks mit den Fahrrädern, ihr ganzes Körpergewicht auf die Pedale pressend, zur Schule hinauffahren, die sich irgendwo zwischen den Hügeln versteckt. Und gleichzeitig die Prozession der Volksschüler mit den gelben Mützen und Fähnchen, bergabwärts.
(Traum) Ich sehe durchs Fenster, im Zimmer stehend, vielleicht in einem Ryokan – oder ist es mein Krankenzimmer? –, sehe auf den Strand hinunter, wo sich im seichten klaren Wasser, das von Steinen und kleinen Felsen durchsetzt ist, eine Horde von nackten Kleinkindern tummelt, alle ungefähr gleichaltrig, sie liegen im Wasser auf dem Rücken und genießen es, daß zahllose Fische an ihren Körpern saugen und knabbern, ihren Gesichtern sieht man die Lust an diesem Geschehen an, das Wasser schaukelt sie sanft, es wiegt sie in eine selige Ewigkeit.
Die Szene müßte ein Maler der vorletzten Jahrhundertwende malen, Odilon Redon oder Max Klinger. Vielleicht hat er sie ja gemalt, und mein Traum spielt mit einem sehr fernen Tagesrest, einer Erinnerung an ein vor Jahrzehnten gesehenes Bild.
»J’ai perdu le fil de mon temps« (Crébillon, der Sohn, zitiert von Alain Finkielkraut) – à propos Alt aussehen, meinen Essay, der neulich in der NZZ war. Wer den Faden seiner Zeit verloren hat, kann bald einmal alt aussehen. Inzwischen habe ich Anschluß ans Internet und höre oft France Culture. Vorteile des digitalen Zeitalters, vor dreißig Jahren hätte ich in Japan kein französisches Radio hören können… So ganz habe ich den Faden also doch nicht verloren. Und vielleicht ist es in Wahrheit ja die Zeit, die ihren Faden verloren hat und jetzt zurückläuft, sich rückwärts spult, um alte Dummheiten zu wiederholen.
Ein paar Schritte auf dem Krankenhausbalkon. Klare Luft, scharf definierter Raum, deutliche Umrisse der Gegenstände und kräftige Farben nach dem Taifun, der uns nachts gestreift hat. Die Reisähren stehen hüfthoch, einige Felder sind schon gelb, ihr Duft weht herüber. Die Hügel am Stadtrand hintereinander gestaffelt, so frisch, als seien sie erst vor kurzem aufgetaucht (dabei stehen sie seit Jahrhunderttausenden da). Die schlanken hohen Nadelbäume hinter dem schloßartigen Bauernhof, ihre Kronen noch ein Stück näher als sonst beim Himmel, in dem ein paar silberne Wolkenplättchen wie Schulpe von Tintenfischen treiben als Kopfschmuck des einen Bergs in der Mitte der Welt.
Selbst das bescheidene, spärliche Krankenhausessen wird zum sinnlichen Genuß, dreimal täglich, in Ermangelung anderer Genüsse (kein Nachschub von draußen, keine Besuche). Einziger Luxus: eine Dose schwarzer Kaffee, manchmal auch ein Zitronenkracherl aus dem Getränkeautomaten auf dem Gang.
Ein kurzer Dokumentarfilm von einer Greyhound-Haltestelle in Huntsville, Texas, auf Mediapart. Männer, die soeben aus dem Gefängnis entlassen worden sind, warten auf den Bus, der sie nach Hause bringen wird, in irgendein fragwürdiges oder gar nicht vorhandenes zu Hause. Ein ähnliches Gefühl hier in diesem Zimmer, wo ich den Aufenthalt zum Lesen und Schreiben zu nutzen versuche, doch am Abend lauert die Depression. Unsichere, gemischte Gefühle bei der Entlassung. Wie wird der Bruder, wie wird der Freund reagieren? Man sieht die Unsicherheit auf ihren Gesichtern, während sie mit einem geborgten Handy anrufen. Der andere will vielleicht gar nichts von mir wissen. Habe ich denn eine Zukunft? Meine Tochter, jetzt ist sie zu Hause, ich kann sie jederzeit anrufen, wird eine Zukunft haben, wenigstens sie.
Am Ende des Films reinigt der Stationsvorstand, ein unsympathischer dicker Mann von bestimmt 150 Kilo, der auch einen Laden mit Artikeln für Entlassene führt und ihnen T‑Shirts und Duftwasser verkauft, mit dem sie sich für 50 Cent einmal besprühen dürfen, damit sie nicht mehr nach Knast riechen – dieser dicke Ungustl reinigt am Ende, nachdem die Buse nach und nach in alle Richtungen davongefahren sind, den unsauber zurückgelassenen Ort, indem er mit einer langen Zange, weil er sich nicht bücken kann, die Rückstände vom Boden aufhebt. Auf einer Bank an der Stationswand ist ein Buch liegengeblieben – die Bibel, was sonst. Das Buch der Bücher. Der Dicke wirft es in den Mülleimer, leert am Ende den Inhalt des langstieligen Aschenbechers hinein und verzieht sich mit einer ebenfalls auf der Bank zurückgelassenen Jacke.
Die ans Krankenhaus grenzenden Reisfelder sind schon abgeerntet, nach und nach wird das schöne Grün und Gelb allenthalben verschwinden. Einige Felder werden sich bis weit hinein in den Oktober halten, und ich werde sie Tag für Tag begrüßen, wenn ich – langsam, langsam – an ihnen vorbeispaziere, nach meiner Entlassung.
Dieser unangenehme Rehabilitationsheini – cabecita negra, grasa! –, der ausschließlich in Floskeln redet, und das pausenlos, keine Sekunde kann er schweigen. Er wiederholt, was jeder weiß und vor aller Augen ist, wiederholt es nicht nur einmal, sondern fünfmal, zehnmal, dabei sieht er nicht, was vor aller Augen ist, und schon gar nicht, was dahinter ist. Mit seinem Gerede zermalmt er das bißchen Wirklichkeit, das mich hier umgibt. Außer den Schablonen und Stereotypen wird nichts überleben, nicht einmal die Baumblätter, die sich seiner Meinung nach schon verfärben, bloß weil er den Herbst ausgerufen hat.
Eins der Stereotype betrifft die Arbeit, die klischeehafte, sinnbefreite Hochschätzung der Arbeit. Alles, was mit Arbeit zu tun hat, ist immer schwierig, bedarf der größten Anstrengung, und wer gerade arbeitet – also die meisten Leute, die meiste Zeit – erfährt den höchsten Respekt, wo nicht Bewunderung. Das Arbeitsethos wird in diesem Land nie aussterben, auch dann nicht, wenn es keine Arbeit mehr gibt. Aber es wird immer welche geben; wenn keine vorhanden ist, erfindet man sie; der Scheinarbeit geht man mit demselben Ernst nach wie der, die einen nachvollziehbaren Inhalt hat. So ist das im Grunde genommen heute schon. Es herrscht der Schein der Arbeit.
Als ich das Krankenhauspersonal darauf vorbereite, daß ich zwei Nachmittage lang ein Kolloquium mit Zoom habe und in diesen Stunden nicht gestört werden darf, erhalte ich sofort vollstes Verständnis, es wird alles getan, um geeignete Bedingungen für meine bewundernswerte Arbeit zu schaffen. Der mich am meisten bewundert, ist natürlich cabecita negra. Aber auch die anderen sind überzeugt, daß ich eine äußerst schwierige Aufgabe in Angriff nehme. In Wahrheit bezweifle ich, daß man das, was ich da tue, überhaupt als Arbeit bezeichnen kann. Auf alle Fälle kostet es mich keine große Mühe, es ist eher ein Vergnügen. Davon wollen sie natürlich nichts wissen, solche Bemerkungen schreiben sie meiner Bescheidenheit zu, die sie ebenfalls bewundern.
Gut. Sollen sie denken, was sie wollen. Hauptsache, sie schneien mir an den zwei Nachmittagen nicht ins Zimmer herein, wie sie es sonst immer tun, wenn ich ihnen nicht verrate, daß ich arbeite.
Da waren wir dann also beisammen, eine Handvoll Schriftsteller und Universitätsleute recht verschiedener Herkunft, interkulturell, wie das heutzutage heißt, natürlich gezoomt, in alle Winde verstreut und doch beisammen, alle zu Hause in ihren Wohn- oder Arbeitszimmern, ihren home-offices in Frankfurt am Main und Berlin und Paris und Nagoya, die Koordinatorin im Goethe-Institut von Tokyo, mit wohnlichem, interessantem oder neutralem Hintergrund, nur ich mit Kopfverband in einem Krankenhauszimmer, zwei Krücken und die Fernbedienung des Elektrobetts im Hintergrund, verloren in der japanischen Provinz. Man »arbeitet«.
Und ich verzichte hier darauf, die Arbeit oder das Vergnügen der anderen zu beurteilen oder auch nur darzustellen. Egal, ob diese Zeilen veröffentlicht werden oder nicht, das gehört sich nicht. Wir sind unvermeidlicherweise interkulturell, wir weben und flicken ständig an einem Netzwerk, wie wir unvermeidlicherweise globalisiert sind, mit der Nase auf den Globus gestoßen und geklebt, auch dann, wenn wir uns dagegen sträuben und unser regionales oder lokales Dasein hervorkehren, das sich längst nicht erübrigt. Ich glaube, dieses essentiell widersprüchliche, paradoxe Phänomen meine ich mit meiner selbstgebastelten kleinen Theorie von der Transversalität: konkrete Bezüge, ein weltweites Netz, ja, aber in einer Vielzahl von lokal-lokalen Verbindungen, mit Anknüpfungspunkten und geraden oder gebogenen Linien, ohne allgemeingültige Schemata, ohne Mainstreamlogik. Freiheit! Man arbeitet…
Und doch kann ich nicht umhin, mein Staunen festzuhalten über die neue Sprechweise, die sich unter jüngeren postkolonialen feministischen genderbewußten diversitätsfreudigen – und was noch alles, eine ganze Latte von positiven Eigenschaften – Schriftsteller*innen und Journalist*innen zu verbreiten scheint. Anstelle der Pünktchen kommt es zu Aussetzern, Unterbrechungen, die flink in die Rede eingestreut werden. Manche beherrschen das schon ganz virtuos, die eingelegten Pausen sind kleinwinzig und umso deutlicher, die Betonungen komplex. Schreibt man das überhaupt so? Müßte es nicht »Journalist*inn*en« heißen? »Ein*e selbstbewusste*r Journalist*in«? Ich lasse mich gern belehren, muß aber vorläufig gestehen, daß mich das alles noch sehr verwirrt. Besonders verwirrt hat mich das minimal abgehackte Sprechen eines Teilnehmers, seine (nicht ihre) mündliche Genderisierung; so virtuos sie auch ausgeführt sein mag, sie verhindert, daß ich mich auf den Inhalt des Gesagten konzentrieren kann. Aber vielleicht ist der Inhalt nicht mehr so wichtig; die konforme Form ist das, was zählt und letztlich auch den Inhalt beistellt. Abgesang auf den »Inhaltismus«.
So war das bei unserer gezoomten Arbeit, unserem Konversationsvergnügen. Viele kleine Wermutstropfen, die andere als Perlen im Champagner genießen mögen. Für mich war dann doch ein bißchen Mühe dabei, das Krankenhauspersonal darf mich maßvoll bedauern, und loben auch.
Seid subjektiv! Gedanken zur Verteidigung der Subjektivität, die die Menschen von den Maschinen und wahrscheinlich auch von den Tieren unterscheidet, sie also erst eigentlich menschlich macht. Die Sprache als Mittel und Milieu der Subjektivität, die Worte, die wir zu interpretieren gezwungen sind, weil sie vieldeutig sind, das ständig drohende Mißverständnis. Ohne Subjektivität sind wir nicht mehr fehlbar und tragen folglich auch keine Verantwortung. Menschlich sind nur Menschen, die Verantwortung tragen.
(Für alle möglichen Bereiche durchspielen: Lernen, Unterrichten, Bewerten, Rankings, Sport, VAR, Ästhetik; standardisierte Arbeit, die nicht mehr schöpferisch sein kann; Gesundheit, für die wir selbst keine Entscheidungen mehr treffen…)
Einige Zimmer entfernt schreit ein Mann, täglich mehrmals, oft eine ganze Stunde lang, er heult und hustet ostentativ, um seinen Schmerz allen mitzuteilen, mehr als den Schmerz seinen Protest, Protest gegen die Welt, gegen das Leben, das er noch lange nicht zu verlassen gedenkt, weil er doch protestieren muß, da es sonst niemand tut. Manchmal klingt es geradezu wie ein Jubel, er jubelt seinen Schmerz in die Welt hinaus. Nach einer Stunde, mehr oder weniger, ist er dann erschöpft, wahrscheinlich döst er auf seinem Bett vor sich hin, erholt sich von der Anstrengung, bis ihn der Weltschmerz und seine Pflicht neuerlich rufen. Niemand schenkt ihm Beachtung, weder die Kranken noch die Pfleger. Und ich? Beachte ihn. Mißachte ihn. Überschreibe sein Geschrei.
Sehr ungewöhnlich (in Japan): Der junge Physiotherapeut, mit dem ich während der Massagen und Übungen oft über unsere Kinder geplaudert habe – der Sohn ist ein Jahr alt, sein Vater hat mir ein paar Videos auf seinem Handy gezeigt – und über Deutschland – Österreich interessiert ihn weniger – und über die deutsche Sprache – ein paar Wörter hat er sich gemerkt –, will mich zum Abschied umarmen. Ich unterbreche ihn, weiche zurück. Ach ja, richtig, Corona! Also Faust gegen Faust, wie üblich. Dankeschön, bitteschön, tschüs!
© Leopold Federmair