»Der Winter der Literatur« lautet der Untertitel von Uwe Wittstocks »Februar 33«. Es ist die Zeit vom 28. Januar 1933 bis zum 15. März 1933, die er Revue passieren lässt, 47 Tage in 35 chronologisch geordneten Kapiteln. Sie erzählen vom Beginn eines gewaltigen Epochenbruchs, einer furchtbaren Zeit, an dessen Ende Millionen von Toten zu beklagen sind. Das Buch beginnt harmlos mit dem Presseball, dem letzten großen Fest in Berlin, auf dem sich auch Schriftsteller und Künstler zeigen. Kurz darauf folgt der »Regierungsantritt« Hitlers, durch Hindenburgs Ernennung. Das, was vor ein paar Tagen noch unmöglich schien, trat ein. Viele glaubten, dass die neue Regierung wie so viele andere zuvor nicht lange bestehen würde. Dann muss man an die Einleitung denken: man wusste damals schlichtweg noch nicht, was das bedeutete – mit dem heutigen Wissen ist es leicht, einige Protagonisten ob ihrer vermeintlichen Naivität zu zeihen.
Die Form des Buches erinnert zunächst an das kollektive Tagebuch »Echolot« von Walter Kempowski. Hier wurden Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen, Zeitungsartikel oder Notizen von prominenten und weniger prominenten Persönlichkeiten im Original und weitgehend unbearbeitet chronologisch auf tausenden von Seiten nebeneinander publiziert. Von Kempowski stammte lediglich das kurze Vorwort. Vor allem ist hier das »Echolot« zu nennen, welches in vier Bänden den Zeitraum von 1. Januar 1943 bis 28. Februar 1943 umfasst. Ein beeindruckendes Werk, in dem der Anfang vom Ende – Stalingrad fällt – der Höhepunkt darstellt (vielen ist auch damals die Dimension nicht deutlich). Wittstock macht es jedoch anders: Er erzählt aufgrund der ihm vorliegenden Dokumente (die am Ende genannt werden) in einer Art Doku-Drama-Stil (ohne Fuß- oder Endnoten). Um eine größere Unmittelbarkeit zu erzeugen, schreibt er im Präsens. Kurz kommt einem Florian Illies’ »1913« in den Sinn, aber Wittstock verfällt glücklicherweise nicht den phantasmagorischen Zampano-Stil von Illies.
Nicht immer erscheinen Erfindungen des Autors und die »Tatsachenberichte« sauber getrennt. Manchmal gibt es wertende (überflüssige) Einschübe, etwa wenn einmal von den »besten Zeitungen« die Rede ist, bei denen jemand gearbeitet hat oder eine Reportage »sensationell« war. Das sind vermutlich die »Interpretationsfreiheiten«, von denen Wittstock zu Beginn schreibt. Hinzu kommt, dass mitunter auch die Original-Quellen nicht immer historisch zuverlässig sind, etwa wenn sie mit großen zeitlichen Abstand verfasst wurden. Im Nachwort gibt Wittstock an, dass er, wenn möglich, Dokumente präferiert hat, die »parallel zu den Ereignissen entstanden« seien.
Schwerpunkt der Betrachtungen ist die literarische Szene in Berlin und München. Man erfährt von schätzungsweise 50 Autoren, wie sie die Machtübernahme durch Hitler (bzw. der Koalition unter Führung von NSDAP und DNVP) erleben. Die Reaktionen reichten von sofortiger Panik bis Gleichmut; am Ende war letzterer bei nahezu allen binnen kurzer Zeit verschwunden. Viele Künstler waren nach dem Reichstagsbrand und noch vor der Neuwahl im März 1933 bereits geflohen, manche Hals über Kopf, andere trickreich, um nicht im letzten Augenblick noch festgesetzt zu werden. Neben der Verhaftung drohte vor allem die Annullierung des Reisepasses. Eine Flucht ins Ausland wäre dann nicht mehr möglich gewesen. Tragisch und damals noch nicht abzusehen, dass einige Exilländer (Frankreich, Tschechoslowakei) im Laufe der Zeit auch nicht mehr sicher waren. Nach der ominösen Reichstagswahl vom 5. März begann der Willkürstaat. Das Fenster für ein halbwegs geordnetes Exil schloss sich für die meisten.
Parallel zu den Sorgen und Nöten der Künstler, die nicht selten schnell lebensbedrohliche Ausmaße annahmen, gibt es knappe Erläuterungen, wie die Nazis ihre Macht zu festigen beginnen. Es ist verblüffend, wie rasch da eine gesellschaftliche und juristische Infrastruktur »umgepolt« wurde. In nur wenigen Wochen sind in mehreren Großstädten wichtige Positionen beispielsweise in Polizei und Justiz mit SA- oder NSDAP-Leuten besetzt. Hitler regiert mit Notverordnungen, die alle von Hindenburg unterschrieben werden. Ende Februar 1933 ernennt Hermann Göring, der »preußische Innenminister«, 40.000 SA- und SS-Männer und weitere 10.000 Angehörige des »Stahlhelm« zu Hilfspolizisten und unterminiert damit systematisch die im Sinne der Weimarer Republik ausgebildete Polizei.
Dazu gibt es Kurzmeldungen von den Straßenkämpfen, Anschlägen und Übergriffen zwischen nazistischen und kommunistischen Gruppen, die ständig zuzunehmen scheinen (in Berlin waren sie spätestens seit 1932 nahezu an der Tagesordnung) und zu zahlreichen Toten führen. Seltsam, dass Wittstock auch die grassierende Grippewelle in die Meldungen einbezieht, die erst im Laufe des Februar abzuklingen scheint und die Zahlen der Infektionen angibt. Das erinnert recht deutlich an die aktuelle Covid-19-Situation und konstruiert damit unterschwellig eine gewisse Ähnlichkeit zwischen damals und heute (obwohl im Vorwort bei aller Besorgnis über neonazistische Umtriebe im aktuellen Deutschland solche Parallelen zwischen der Weimarer Republik und der Gegenwart negiert werden).
Über die Situationen der Schriftsteller erfährt man, wenn man es genau nimmt, eher wenig Neues. Die Exilgeschichten und Qualen beispielsweise von Heinrich Mann und Bertolt Brecht sind hinlänglich bekannt. Sie werden mit diesem Buch aufgefrischt. Im Vergleich mit den anderen Schicksalen wie etwa von Erich Maria Remarque, Else Lasker-Schüler, Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Gabriele Tergit, Alfred Döblin, Oskar Maria Graf oder Mirjam Sachs (die Liste ist bei weitem nicht vollständig) erscheinen sie am Ende fast noch privilegiert. Etwas zu kurz kommt die innere Emigration von Erich Kästner oder Ricarda Huch. Zwar umreißt Wittstock am Ende die Schicksale der am meisten beachteten Protagonisten, aber dies geschieht dann doch oft ein bisschen knapp. Interessant sind die fast protokollarisch wiedergegebenen Kabale in der Preußischen Akademie der Künste, Abteilung Dichtung, die unter anderem zum Ausschluss Heinrich Manns führen (nebenbei lernt man, dass es ein gut funktionierendes Rohrpostnetz in Berlin gegeben hat). Unangenehm fällt Gottfried Benn auf, der sich, warum auch immer, opportunistisch auf die Seite der Nationalsozialisten stellte.
Und dann gibt es am Ende eine Stelle, die den Leser ergreift: Thomas Mann ist mit seiner Frau nach einer kurzen Vortragsreise zur Erholung in die Schweiz gereist. Es ist der 10. März 1933, und auch Hitlers »Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat«, die der Diktatur endgültig Tür und Tor öffnet, wurde von Hindenburg unterzeichnet. Eine Verhaftungswelle ist die Folge; der Rechtsstaat ist abgeschafft. Vereinzelt werden bereits Bücher verbrannt. Mann will nach München zurück, seine Arbeit am Joseph-Roman fortsetzen; auf dem aktuellen Stand scheint er nicht zu sein. Er erhält teilweise codierte Warnungen von seinem Verleger und seinem Sohn Klaus, die er nicht versteht. Schließlich begreift er: Eine »Lebensepoche« ist abgeschlossen. Noch weiß er nicht genau, was das alles bedeutet. Aber wir, die Leser, wir wissen es.
Am 10. März 1933 zeigt sich Victor Klemperer (der bei Wittstock nicht vorkommt) verwundert, »wie wehrlos alles zusammenbricht«. Und er konstatiert, das, was vor dem 5. März geschehen sei, wäre nur ein »Prélude« zu dem, was noch kommt. Aber er blieb auch – und das Martyrium für ihn und seine Frau begann. Nein, dieser Februar 1933 war kein »Winter der Literatur«. Es war der Winter, mit dem das Grauen begann. Wittstocks Buch, in einem Zug gelesen, macht den Leser für kurze Zeit fast zum Zeitzeugen. Das ist in dieser Ballung bisweilen erschreckend. Einiges spricht dafür, dass dieser Schrecken beabsichtigt war.
Lieber Herr Struck,
vielen Dank für diese schöne Rezension. Ihr Resümee: »Wittstocks Buch, in einem Zug gelesen, macht den Leser für kurze Zeit fast zum Zeitzeugen« nehme ich als großes Kompliment. Ich freue mich darüber umso mehr, da mir genau das vorschwebte, als ich das Buch schrieb: Ich wollte den Lesern so genau und lebendig wie möglich vor Augen stellen, wie schnell seinerzeit nach einer einzigen fatalen politischen Fehlentscheidung Demokratie und Rechtsstaat von Antidemokraten zerstört wurden.
Eine Anmerkung noch dazu, dass ich die Grippewelle, die im Januar und Februar 1933 Deutschland heimsuchte, mit in meine Erzählung aufgenommen habe – was Ihnen »seltsam« erscheint. Die Grippepandemie hatte damals durchaus Einfluss auf das Verhalten der Menschen, auch der Menschen, deren Schicksal ich im Buch beschreibe: Hermann Kesten zum Beispiel war im Januar an Grippe erkrankt, seine ganze Familie liegt am 30. Januar mit Grippe im Bett (S.42). Er kann deshalb das Land nicht so schnell verlassen, wie er gern will, obwohl er bereits Visa für Frankreich beantragt hat. Auch Alfred Kerr hat eine üble Grippe (S.104/105) und muss mit hohem Fieber von den Nazis nach Prag fliehen. Beide Erlebnisse werden ergänzt durch die regelmäßigen Meldungen in den damaligen Tageszeitungen über die Zahl der Neuinfektionen und den dramatischen Aufruf an alle Assistenzärzte oder Hilfsärzte, zur Notfall-Mitarbeit dringend in die überforderten Krankenhäuser zu kommen (S.74). Auch das dürfte zur Verunsicherung der Bevölkerung in jenen Tagen beigetragen haben. Ich hielt es deshalb aus der Logik der geschilderten Ereignisse für sinnvoll, die Grippewelle im Buch zum Thema zu machen. Aber egal.
Ich freue mich über Ihre Rezension und das schöne Lob, dass es dem Buch gelingt, den Leser von heute »fast zum Zeitzeugen« der politisch vielleicht wichtigsten Wochen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu machen.
Mit besten Grüßen Uwe Wittstock
Mein »seltsam« ist – wie ich durch Ihren Einwurf feststelle – ungenau. Es fällt einem natürlich die Parallele zu den täglichen Inzidenzzahlen von heute auf und ich nehme an, dass dies durchaus intendiert war, um den Leser von heute noch enger in die Vergangenheit hineinzuziehen. Das ist natürlich legitim. »Seltsam« ist es zum einen eher dahingehend, dass man damals solche Zahlen überhaupt erhob und veröffentlichte. Und zum anderen weil dann doch – ein Schelm, wer Böses dabei denkt? – plötzlich eine Gemeinsamkeit zwischen Damals und Heute existiert.