Ich kenne Vera Vorneweg seit Sommer 2018. Eines Tages fand ich eine Ausgabe der (inzwischen eingestellten) Literaturzeitschrift »Text+Bild« in meinem Briefkasten. Ein positive Folge der Impressumpflicht. Wir wohnten damals nur ein paar Straßenzüge auseinander und trafen uns fortan zwei, drei Mal im Jahr im »Schweidnitzer Eck«, sprachen über Literatur und Lektüren, über Peter Handke, Esther Kinsky, Karl Ove Knausgård, Gerhard Rühm oder Eva-Maria Alves, und andere.
Im Herbst 2018 erhielt Vorneweg ein Stipendium des Landes Thüringen und lebte einige Monate in der Ortschaft Kaltenlengsfeld. Ihre Eindrücke und Gedanken während des Aufenthalts hatte sie von ihrem Notizbuch in den Computer übertragen, dann ausgedruckt und an bestimmten Stellen im Ort angebracht, wie beispielsweise an einer Bushaltestelle. Literatur wurde somit öffentlich. Vorneweg betonte in den unvermeidlichen Stellungnahmen den Medien gegenüber, dass dieses Dorf sie zur Schriftstellerin gemacht habe.
»Ein ganz besonderes Buch« sollte aufgrund dieses Aufenthalts entstehen, so hieß es in einer Lokalzeitung. Man kennt das: Ausgezeichnete sind angehalten, das neue Umfeld in ihre Texte einfließen zu lassen. Dabei gibt es Texte über Großstadtmenschen in Dörfern und/oder in anderen regionalen Umgebungen zur Genüge. Sie drohen häufig in falsche Idyllik abzugleiten, oder, noch schlimmer, sich in gönnerhafte Arroganz zu verzetteln. Nebenbei stellt sich das Dilemma, dass sich Ortspersönlichkeiten ungeachtet ihrer Verfremdungen im Text womöglich falsch (oder richtig) getroffen fühlen. Es ist nicht einfach.
Bei einem erneuten Besuch in Thüringen 2019 geriet Vorneweg in den Landtagswahlkampf. Sie war empört über Aussagen auf den Plakaten der AfD, die sie unmöglich bei der Ein- oder Durchfahrt ignorieren konnte. Aber es schien, als habe sie ihr Thema gefunden. Sie berichtete mir über das Schreiben an einer Erzählung, die, wie sie sagte, nur zum Teil mit ihren Erfahrungen im Dorf zu tun habe, aber eine Notwendigkeit für sie sei.
Der Text selber blieb mir verborgen. Ich begrüßte das, obwohl meine Neugier mit jeder Erörterung stieg. Leider gab es Schwierigkeiten für den Text einen adäquaten Verlag zu finden, was sich aufgrund der Corona-Pandemie noch verschärfte. Zwischenzeitlich widmete sich Vorneweg der Gestaltung des öffentlichen Raumes mit Literatur in Düsseldorf. Auch hier half ein Stipendium. Auf einer Rollade (neue Schreibweise eigentlich »Rolllade«) einer verlassenen Gastwirtschaft in Düsseldorf Oberbilk schrieb sie Eindrücke auf, die beim Schauen und Hören von der Straße und der unmittelbaren Umgebung des Hauses entstanden. Der Besitzer der Lokalität hatte ihr diese Nutzung gestattet. Erst wenn das Haus renoviert wird, verschwinden auch die Rolläden mit den Texten. Vergängliche Kunst. Immerhin: Ihre Impressionen sind hier auch darüber hinaus festgehalten.
Es sind kurze Notate, meist nur zwei, drei Sätze, die eine unmittelbare, flüchtige Gegenwart beschreiben, nein: sie erzählen und gleichzeitig jenseits einer bloßen dokumentarischen Wahrnehmung transzendieren. Die Eindrücke überlagern sich bisweilen und manchmal entsteht der Eindruck, sie würden sogar miteinander interagieren. Dabei treten bisweilen die Personen, die Handelnden, zu Gunsten des Ortes, der Straße, des Platzes in den Hintergrund. Man kann sich beim stetigen Lesen einen Rhythmus angewöhnen, der einen Sog erzeugt und die oberflächlich betrachtet belanglos erscheinenden Handlungen bedeutungsvoll machen. (Oder ob dieses Gefühl der Anwesenheit auch damit zu tun hat, dass ich diese Straße, die unweit von meinem ehemaligen Wohnort liegt, kenne? Etwa wenn von der Buslinie die Rede ist, die zum Flughafen führt, dann weitet sich dieses Bild in mir unweigerlich, weil ich selber zwei, drei Mal morgens um fünf Uhr mit Gepäck in diesem Bus eingestiegen bin, um knapp 45 Minuten später am Terminal anzukommen und mich schlaftrunken in das Chaos eines Flughafens zu stürzen.)
Vorneweg beschriftete auch Steine und Äste in der Natur, Automobile und zuletzt sogar – in einer Art Kunstaktion – Barhocker. Und wer aus der Entfernung die schöne, sanft geschwungene und gut leserliche Handschrift sieht, meint ein Gemälde zu erkennen oder wähnt sich in archäologischen Gefilden, bei alten Kulturen etwa, die ihre Botschaften auf Tontafeln oder in Höhlen anbrachten. Man kann nicht anders, als versuchen, sie zu entziffern.
Eine Schlagwortjägerin ernannte Vorneweg fix zur »Poetin der Straße«. Dennoch wäre es besser, diese Arbeiten bei der Lektüre von Vera Vornewegs jetzt endlich erschienener Erzählung nicht zu vergessen, aber vorerst auszublenden. Es ist nicht so selten, dass die Werke von Schriftstellern nicht in der Chronologie des Entstehend erscheinen. Und so dürften große Teile der Erzählung »Kein Wort zurück« vor der anregenden Wimmelbildprosa im Düsseldorfer Raum (und sonstwo) entstanden sein.
Zu Beginn des Buches ist die Ich-Erzählerin auf der Suche nach dem Fundament ihrer Schriftsteller-Existenz (sie würde »Schriftstellerinnen-Existenz« schreiben bzw. hinzusetzen). Sie möchte eigentlich ihre Erlebnisse von Kindheit und Jugend aus ihrem Heimatdorf niederschreiben, welches sie später verlassen hat (dies wird nie konkret angesprochen), bemerkt allerdings eine gewisse Sprach- bzw. Wortskepsis in ihr aufsteigen. So weit, so bekannt. Einige der von ihr erkorenen »Wortkinder« scheinen sich einem erzählerischen Gebrauch durch sie zu verweigern. Wörter werden hier zwar nicht zu modrigen Pilzen, aber die Erzählerin hat schlichtweg »keinen Zugriff mehr auf bestimmte Wörter«, weil diese von anderer Seite in ihr unliebsamer Weise in Besitz genommen werden und damit, das ist die Hypothese, beschmutzt sind und für das schriftstellerische Schreiben, für das Erzählen, nicht mehr zur Verfügung stehen.
Es gibt zahlreiche Versuche der Erzählerin, diese Form der Schreibhemmung zu überwinden. So werden von nun an alle Texte, die ihr begegnen, systematisch seziert: »Ich spürte, dass ich Wortpaare, ja, sogar ganze Sätze, Worttoraden, Wortquartette, wie sie mir auf Reklameschildern, Tafeln oder T‑Shirts begegneten, direkt auseinandernahm und von ihrem Hintergrund abtrennte. Meine Gedanken zerlegten ab jetzt jeden Satz in seine Teile, in die einzelnen Wörter, ich löste jeden Wortbestanteil aus seinem von Menschenhand zusammengesetzten Satzgefüge heraus und gewöhnte mir an, immer zuerst das einzelne Wort in einer leeren Umgebung, in einem großen weißen Raum zu betrachten.«
Worte werden somit dekontextualisiert und schließlich ‘gereinigt’. Gleichzeitig erhalten sie durch die Erzählerin ihre je eigenen Definitionen, die auf Karteikarten notiert und später in Glasbehälter verbracht werden; einige Kostproben davon werden in der Erzählung eingestreut. Auf diese Weise sollen Begriffe vor unliebsamen Verwendungen geschützt werden. Man bekommt zwischenzeitlich den Eindruck einer literarischen Alchemistenküche.
Rasch konzentrieren sich die Bemühungen auf ein Wort, welches essentiell für das »Schreibprojekt« (dieses Wort steht nicht bei Vorneweg; es ist meine Wahl) ist, sich aber nicht mehr aussprechen, nicht mehr schreiben, nicht mehr artikulieren lässt. Die Ursache ist die für die Autorin ungeheuerliche Inbesitznahme dieses Wortes auf Wahlplakaten einer Partei (es ist natürlich die AfD, die namentlich jedoch nie erwähnt wird; lediglich einmal schimmert das »neue Blau« hervor). Es ist das Wort »Heimat«, welches durch die Verwendung für rechtsnationalistische Parolen verloren zu sein scheint. Ihre Erzählung, die Heimat als Ursprung benötigt, beginnt sie zwar, gerät jedoch mehrmals ins Stocken. Indem das Wort »Heimat« verloren ist, droht die Erzählerin ihre Heimat zu verlieren.
Noch ist der Verlust nicht dauerhaft. Die Erinnerungen kommen zurück; zunächst nachts. Sie besucht mehrmals ihr Heimatdorf, erzählt nun von David, dem Fußballspieler, einer Liebelei mit ihm und dem Volksfest mit Rahmkuchen mit Stachelbeeren, gießt »alles Gewesene und Nicht-Gewesene« in Form. Episodisch gelingt dieses Erzählen, etwa vom wilden Birnbaum oder der Beerdigung eines Jugendfreundes (eben jenes David). Die Eltern streiten häufig; sie lebt (erlebt) ihre Kindheit vor allem bei den Großeltern, die verniedlicht werden bevor am Schluss, in der ergreifendsten Stelle der Erzählung, eine jähe Desillusionierung eintritt, nein: sich ereignet. Eine eigentlich eine kleine Szene, aber dann doch eine Begebenheit, die vieles, vielleicht alles in ihrer Jugend verändert.
Die Erzählerin ist unstet, begibt sich auf Reisen, auch in die nähere Umgebung. Zwischenzeitlich ist sie wieder verborgen, die Heimat, »in Gewahrsam genommen« von Menschen, die in Gasthäusern in Holzfällerhemden Zigeunerschnitzel mit Extra-Soße essen und die der Protagonistin mehr als nur einmal die Kehle zuschnüren, bevor sich diese schüchtern und eingeschüchtert zur Bestellung von Sauerampfersuppe oder einem Salat mit Bratkartoffeln entschließt und dann doch flieht.
Nein, dies sei nicht mehr »ihr Land« schreibt sie einmal. Aber was bedeutet das? Und: War es das jemals? Sie evoziert einen Besuch als Schülerin im Konzentrationslager Buchenwald, erinnert den Namen eines besonders brutalen Nazi-Vollstreckers (es ist der einzige reale Name im Buch – zuviel der Ehre?). Sie weiß um die Vergangenheit des Landes. Daher noch dringender die Frage: Warum überlässt sie den neu-dunklen Gestalten dieses Land, überlässt ihnen ihre Beute wie »Heimat«, »Muttersprache« oder »Vaterland«?
Der Romanist und Philologe Victor Klemperer hat 1947 in seiner Sprachenstudie »LTI« (»Lingua Tertii Imperii«) die Herrschaftssprache der Nationalsozialisten präzise analysiert. Manche Begriffe werden seitdem nur mehr im Kontext mit der Propaganda der Nazis gesehen und folglich gemieden. Klemperer resümierte: »Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen.« Ähnlich argumentierte Dolf Sternberger (zusammen mit Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind) im »Wörterbuch des Unmenschen«. (In beiden Werken findet übrigens der Begriff »Heimat« keine besondere Erwähnung.) Sowohl Klemperer wie auch Sternberger haben allerdings keine simplen Ver- oder Gebotsschriften verfasst, an denen man ablesen kann, welche Wörter man noch verwenden darf und welche nicht. Wichtig sind die Kontexte, in denen die Begriffe von den Nazis (und bei Klemperer später, in den Tagebüchern, auch von den Kommunisten) eingesetzt wurden.
Die Sensibilisierung der Verwendung und Besetzung von Begrifflichkeiten durch unerwünschte Weltanschauungen erfährt aktuell durch diverse identitätspolitische Diskussionen eine neue Dynamik. Die Befindlichkeiten der Protagonistin der Erzählung von Vorneweg, die ihren Heimatbegriff desavouiert sieht, streift diese Thematik. Aber statt einer kämpferischen Verteidigung, die sich gegen eine feindliche Übernahme stemmt, verharrt sie trotz ihrer Rastlosigkeit in einer seltsamen Passivität.
So begegnet ihr ein Mann in einer Bäckerei. Ein Zeichen auf der Lederjacke ist eindeutig. Neben einem Rotmilan (der Vogel ihrer Kindheit – also ein positives Zeichen) findet sich dort eine »Achtundachtzig«. Sie ist verstört und als sie sich besinnt, versucht sie nun den längst entschwundenen Mann wieder zu finden, weil sie glaubt, ihm die »in Gewahrsam« genommenen »Wortkinder« entreißen zu können. Subtil treibt die Erzählung in dieser Phase in ein Gut-Böse- bzw. Schwarz-Weiß-Spiel. Fleischesser gegen Vegetarierin etwa. Eine Kirche ist ein »kalter Klotz aus braunem Gestein«. Die Gaststätte, in der sie den Mann mit der Lederjacke vermutet, hat eine »dunkelbraune Holzvertäfelung« und entpuppt sich schließlich tatsächlich als Neonazi-Kneipe mit entsprechenden Devotionalien im Hinterzimmer. Es endet dann in einer Mischung aus Mystik und Märchen.
»Kein Wort zurück« verweigert sich zuverlässig (und zweifellos gewollt) einem Genreetikett. André Schinkel, der Lektor dieser Erzählung, spricht in seinem Nachwort von einer »gothic novel«, also einer Art Schauerroman. Einerseits schildert eine Schriftstellerin fast essayistisch ihren Sprachverlust. Andererseits will sie aus ihrer Jugend und Adoleszenz erzählen; die Motivation hierzu bleibt im Dunklen. Die Klammer bildet das politische Statement gegen die Okkupation von Begrifflichkeiten durch eine politische Partei. Der Versuch einer Erklärung, warum die Wahlslogans verfangen, unterbleibt. Die Figuren, die die Erzählerin argwöhnisch beäugt und vor denen sie sich fürchtet, bleiben leider nur Schablonen.
Der Umgang der Erzählerin mit der Problematik ist eher dem eines permanenten Entsetzens. Nur einmal heißt es kämpferisch: »Ich hatte keine Heimat, ich erschuf sie erst, indem ich sie mir erzählte.« Diese Stellungnahme erinnert an das, was Fabjan Hafner einst Peter Handkes »Erneuerungssehnsucht« nannte. Handke sieht die Aufgabe des Dichters (unter anderem) darin, »missbrauchte« Wörter »erlösen« zu können, in dem man ihnen eine »besondere Bedeutungswandlung oder Richtungsänderung ermöglicht«. Immerhin könnte dies den Titel der Erzählung »Kein Wort zurück« erklären, der in einer Art Trotz die Besetzung von Begriffen durch politische Propagandisten bekämpft werden und das Territorium der Literatur behauptet werden soll. Insgesamt wird dies jedoch durch den Text bzw. das Vorgehen der Erzählerin nicht beglaubigt.
Verwundert ist der Leser als im Nach- und Dankeswort vom Aufenthalt der Autorin in Kaltenlengsfeld berichtet wird. Leider verleitet dies zu Spekulationen nach Gemeinsamkeiten zwischen Autorin und Erzählerin, dem letzten, aber eigentlich ungehörigen Ausweg des tastenden Textexegeten. Vielleicht ist diese Auslegung am Ende der Tage auch beabsichtigt, um das Bekenntnishafte der Erzählerin für sich, die Autorin, reklamieren zu können. Wäre also der Aufenthalt als ein Er-Leben im Schauerort zu lesen, der gleichzeitig zum Schauplatz der Schriftsteller-Initiation wurde? Und wie geht es weiter? Es besteht die Hoffnung, dass Vera Vorneweg darüber demnächst mehr erzählen wird. Mich würde das freuen.