3sat übertrug diesmal alles vom Bachmannpreis 2022. Als Corona-Reminiszenz diente die Teilung zwischen Jury (im Studio) und lesenden Autoren (im Garten; mit Zuschauern). Der Wechsel zwischen Studio und Garten wurde von zwei Moderatoren ausgefüllt. Cécile Schortmann war im Garten und las vor Beginn jeder Lesung die Online verfügbaren Kurzportraits der Autoren vor und sagte die sogenannten Portrait-Videos an. Sie wäre also eigentlich überflüssig gewesen, wenn man ihr nicht das Pausenprogramm überlassen hätte, welches aus schlecht geführten, Interviews und zum Wettbewerb nicht passenden Autorinnenportraits bestand (da hätte man gerne die Kriterien gewusst). Christian Ankowitsch versuchte im Studio, die Jury-Diskussion zu leiten. Man schaltete immer hin und her, was an frühe Zeiten des Schwarz-Weiß-Fernsehens erinnerte, als es über Kontinente ging und man stolz war auf die Verbindung von Köln und Washington.
Aber es geht ja um die »Texte«. Aus der Tradition des Zuschauens wurde bei mir irgendwann nur noch eine Art Gewohnheit (mit vereinzelten, blitzenden Ausnahmen). Insbesondere in diesem Jahr erinnerte ich mich an einen DER Klagenfurt-Momente, die ich nie vergessen wollte. Als Iris Radisch noch in der Jury saß (ich glaube sogar schon in ihrer Eigenschaft als Jury-Vorsitzende), bremste sie die sich einem Text in kleinkarierter Weise zugewandte Jury und warf sinngemäss ein, man möge doch nicht den Zauber zerstören, den man soeben gehört habe. Das Schlimme daran ist, dass ich vergessen habe, um welchen Text es ging. Aber ich erinnere mich noch genau, wie eigentlich alle Juroren damals zunächst in ein Schwärmen gerieten, bis dann jemand die üblichen ein, zwei korrekturwürdigen Dinge anbrachte und darauf die Diskussion losging, welche Referenz diese Stellen (und andere) bediene. Ich glaube, es wurde von Kafka bis Stifter alles angesprochen und man wendete sich schon ab, begann mit dem gerade Gehörten ein bisschen zu hadern, als Radisch ihren Ordnungsruf anbrachte. Denn eigentlich war nach zehn Minuten alles gesagt.
Nahezu jede Diskussion hätte man heuer ebenso kommentieren können, wenngleich es einen Unterschied gab: Die Referenzen, Assoziationen, »Traditionslinien« wurden schon zu Beginn wuchtvoll in die Diskussion eingeführt. Damit wurde nun vor allem über Sinn und Unsinn der vorgebrachten Fundstücke gestritten. Der Text, seine Sprache, die Form – sie traten in den Hintergrund bzw. sie wurden zu Spielmaterial für die Rechtfertigung (oder die Widerlegung) der vorgebrachten Referenz. Besonders zwei Juroren trieben dieses Spiel stellenweise ins Absurde: die Jury-Vorsitzende Insa Wilke und, obwohl er dieses Verfahren mehrfach und zu recht kritisierte, der Bad-Boy der Truppe, Philipp Tingler. Wie zum Triumph erkannte er in den gelben Zähnen einer Figur in einem Text eine Parallele zu Thomas Manns »Buddenbrooks«. Während Wilke in einem anderen Text eine Mutter fand, die gar nicht vorkam, aber die von ihr erschaffen wurde, um den Text damit in eine Deutungsebene zu überführen, die sie sich überlegt hatte.
Diese Form der Trigger-Kritik, die das Ganze nicht mehr sieht, weil sie mit Einzelheiten gefasst ist, in »Jonas« sofort die Geschichte vom Walfisch assoziiert, und bei »Leda« oder »violettem Schnee« beflissen ihre Bildung präsentiert, birgt die Gefahr der Instrumentalisierung durch die Autoren. Und sie zeigt ihnen, dass es weniger um Literatur als um die Aneinanderreihung von Referenzpunkten geht, über die dann trefflich gestritten werden kann. Wobei das Rad der Definitionen stets neu erfunden zu werden droht; nichts schien länger als 30 Minuten Bestand zu haben und selbst die Auslegung des Begriffs »Kitsch« muss immer neu verhandelt werden. Was den Zuschauer irgendwann langweilt.
Hier zeigt sich der Nachteil, dass die Juroren die Texte wochenlang im voraus erhalten. Sie suchen dann nach Formulierungen und Bildern, die verwendet oder, wie es neudeutsch heißt, paraphrasiert wurden. Jetzt ist es nicht ehrenrührig, derart Texte zu untersuchen. Aber die bloße Aufzählung der gefundenen Phrasen sagt über den Text recht wenig aus. Sie dienen, so hatte man mehrmals das Gefühl, nur zur Profilierung des jeweiligen Finders. Als wollte man bei einer Mahlzeit die einzelnen Zutaten wieder neu separieren wollen.
Über die Freude der Fundstücke wird die Analyse der Literarizität vernachlässigt. Oder sie wird trivialisiert, wie dies bei Philipp Tingler häufig der Fall war, der sich oftmals mit seinen fallbeilähnlichen Urteilen beispielsweise über die Konventionalität eines Textes der lästigen Kritik entzog. Denn ob ein Text in die 1970er Jahre gepasst hätte oder nicht ist kein Kriterium. Es wäre doch an ihm gewesen, dem Verfechter der Transzendenz in Texten (diese These vertrete ich im übrigen auch), gewesen, die An- oder Abwesenheit dieses »doppelten Bodens« (Reich-Ranicki) herauszuarbeiten.
Leider scheint es so, dass das breite Publikum an solchen Diskussionen wenig Interesse hat. Bei Twitter kann man nachlesen, welche Kriterien relevant sind. Zwei Schwerpunkte dominieren: Zum einen die »Meinung«, das »Gefallen«, welches meist spontan ausgedrückt wird (oftmals während des Textes). Und dann die zahlreichen außerliterarischen Bezüge: Welche Tasche liegt bei Frau Delius? Was trägt Herr Kastberger heute? Was soll die Bühne im Garten symbolisieren (es erinnerte an ein Basislager bei einer Safari-Expedition)? Diese Beliebigkeiten gibt es schon länger; sie begannen mit der sogenannten »Automatischen Literaturkritik«, in der Texte nach bestimmten Phrasen abgesucht und bewertet wurden. Obwohl die Konstrukteure dieses Suchspiels inzwischen ermüdet sind, wird der Eindruck von Jahr zu stärker, dass das Umfeld des Ereignisses fast wichtiger ist als die Erfassung der jeweiligen Texte ist.
In diese Kerbe schlägt auch Anna Baar in ihrer fulminanten Rede. Der »Geschichtenbetrieb« habe »die Sprache zur Ader gelassen«, schreibt sie. Und es »scheint heute fast obszön, schreibend über die Ufer des Alltagsgeplappers zu treten. Man schreibt lieber nach der Rede als nach der Schrift zu reden, um nicht als bemüht zu gelten oder als rückwärtsgerichtet. Dabei gilt der Jugendjargon manchen als Nonplusultra. Die Disziplinierung des Autors, von Gert Jonke hier vor bald zwanzig Jahren besprochen, dient nicht der Literatur, jedenfalls nicht als Dichtung, sondern dem Marktgerechten. So bilden sich vor den Geschäften willkommene Warteschlangen. Aber wenn man dran ist, gibt es wenig zu kaufen zwischen flotten Plots, derber Provokation und Betroffenheitsmilde: Weißbrotliteratur ohne besonderen Nährwert.«
Ein harter Befund? Der sich – nebenbei gesagt – auch im Kontext zu Klagenfurt an die Juroren richtet, die ja die jeweiligen Texte aussuchen. Immerhin habe ich dieses Jahr mit Alexandru Bulucz einen neuen Autor gefunden. Wir folgen uns zwar auf Facebook, aber als jemand, der Gedichten gegenüber zu ungeduldig ist, freue ich mich nun, ihn als Prosa-Autor zu lesen. Seinen Text konnte mir auch die Wilke-Interpretation nicht vergällen.