Im Zug die üblichen Samstagnachmittag-Baseballfans in ihren roten T‑Shirts, roten Kappen, roten Cardigans, roten Taschen, roten Socken, roten Schlapfen, alles rot, nur die Hosen nicht, bei den Hosen ist grün in Mode, das merkt man auch hier. Ah, mein Buch paßt dazu, die Fahrtlektüre, ein Roman von Philip Roth, natürlich in Rot. Dann Straßenbahn, Einkaufsstraße, Shoutengai, Parco, das Kaufhaus für junge Leute, wo ich früher oft einkaufen war, als ich mich noch halbwegs jung fühlte, plaudern mit meiner Lieblingsverkäuferin, die ich neulich vor einem Café getroffen habe, sie arbeitet schon lange nicht mehr in der Boutique.
»Und jetzt?«
»Hier in der Gegend.«
»Da gibt es doch nichts.«
Sie hat sich schon früher für schicke Autos interessiert, und hier, wo es nichts gibt, gibt es nicht wenige Zulieferungsfirmen für Matsuda, auf deutsch Mazda.
Wir lachten, gingen unserer Wege. Die Boutique im Parco ist nicht mehr das, was sie war. Die Geschäftsleitung der Kette, zu der sie gehört, wollten sie noch mehr verjüngen, jetzt stehen dort dämliche Jungs mit toupierten Frisuren als Verkäufer herum, lebende Schaufensterpuppen, wenig Kunden. Ich muß ohnehin in den zehnten Stock, den letzten. Club Quattro, hätte ich im Keller erwartet, Google Maps spezifiziert das nicht, ist aber oben über den Dächern der Stadt. Was man dann gar nicht merkt, wenn man einmal drin ist in der Bude. Fensterlose Säle dieser Art haben allesamt etwas von den alten Beat-Kellern, Gott hab sie selig. Kühl, gedämpft, nicht zu groß nicht zu klein, vorne Stehpublikum, hinten Sitzplätze an zwei langen Theken. An den Seitenwänden drei vergrößerte Fotos, die wie Vorhänge wirken, rechts die Szenerie des zerstörten Hiroshima im August 1945, darunter ein neues Foto desselben Orts, die Dächer der Stadt, wie man sie vom Parco aus sieht, links ein sofort als solches erkennbares Kunstwerk, eine Collage, die linke Hälfte des Fotos sehr bunt, die rechte dunkel, überwiegend schwarz wegen der alten Leute, die da in Trauerkleidung auf dem Boden liegen, sich dabei aber, nach ihrer Mimik zu schließen, recht gut amüsieren. Auf der linken Hälfte stehen und liegen und krabbeln fast nackte, nur mit Windeln bekleidete Babys auf der grünen Wiese, ein paar Tiere sind auch da, eine große Schildkröte, ein Fuchs, ein kleines Nashorn, und in der Mitte des Ganzen, schwarz-weiß oder grau-weiß, der Atompilz, das Zentralmotiv der ganzen Anordnung. Leben und Tod? Leben und Leben. Oder Leben und Tod und noch immer Leben.
Ach ja, das Konzert findet am 6. August statt, nicht um 8 Uhr 15, sondern am Abend. Abgesehen von den Vorhangfotos, die bald im Dunkel verschwinden werden, ist nicht viel davon zu merken. Der Moderator sagt pflichtschuldig ein paar Worte, auch die Jüngeren, auch die Alternativen sollen an diesem Tag daran erinnert werden und nicht vergessen, daß es immer noch Atomwaffen gibt und Kriege geführt werden.
»Wart ihr um acht Uhr schon wach? Habt ihr die Ansprachen gehört? Im Fernsehen, ja? Nein? Macht nichts.«
Gar so jung sind die Anwesenden nicht, die meisten wohl etwas jünger als die Musiker, die alle über vierzig sind. Auch viel Jüngere, doch. Studenten zahlen den halben Preis. Eigentlich sind es zwei Konzerte, die wir zu sehen bekommen. Das erste von Kotoringo (ich schreibe den Künstlernamen so, wie man ihn auf japanisch ausspricht), eine Sängerin, die sich am Klavier begleitet und an diesem Abend noch von zwei anderen Musikern begleitet wird, einem Schlagzeuger, der sein Instrument mit nackten Händen schlägt, oder eher streichelt, und einem Cellisten, der das Cello manchmal zupft wie einen Baß. »Kotoringo« ist eine Zusammenziehung von kotori, Vögelchen, und ringo, Apfel, wozu es eine kleine autobiographische Geschichte der Sängerin gibt, eine Geschichte, die so nett und naiv ist wie die ganze vierundvierzigjährige Person, die vielleicht wirklich so nett und naiv ist, wie sie wirkt. Eine hervorragende Pianistin, im klassischen Repertoire geschult, selten jazzig, die Rhythmen gleichmäßig, die Stimme hell und sicher, in dieser Kombination doch irgendwie befremdlich, zumindest für den, der Kotoringos Musik noch nicht kennt. Sie spielt ihre eigenen Kompositionen, die ausgewogen und repetitiv sind, die Texte so, wie es ihr Künstlername erwarten läßt, kindlich und ein wenig durchtrieben (soweit ich sie verstanden habe). Beim letzten Stück gesellt sich ein zweiter Schlagzeuger dazu, es ist der Mann der Band, die nach der Pause auftreten wird, und die beiden liefern sich ein freundschaftliches Duell, bei dem das Klavier anfangs noch mitzuhalten versucht (Triell?), dann aber aussteigt, Kotoringo erhebt sich, tritt an den seitlichen Bühnenrand, staunt die beiden Schlagenden offenen Mundes an, hält sich zeitweise die Hand vor den Mund, klatscht einmal in die Hände, applaudiert am Ende begeistert, setzt sich dann noch einmal für ein paar Schlußakkorde ans Klavier. So ist sie, Kotoringo. Nicht von dieser Welt. Wie ihre Musik. Wie alle Musik.
Lange Umbaupause. Allerlei Gerätschaften, Verstärker, Synthesizer, Verzerrer. Die beiden Gitarristen von Toe, gestandene Männer, stehen einander gegenüber, mit viel Leerraum zwischen ihnen, damit sich die Klänge richtig begegnen; hinten in der Mitte das Schlagzeug, der Bassist wie üblich ein wenig abseits. Auch der Leadgitarrist, aber so etwas gibt es bei denen eigentlich nicht, Solo und Rhythmus sind eins, alles ist oder wird Rhythmus, jede Bewegung bahnt sich den eigenen Klangweg – also der eine Gitarrist, Hirokatsu Yamazaki, brummt im Sitzen und über sein Instrument gebeugt ein paar Halbsätze vom leider immer noch nicht überall gesicherten Frieden, seine Stimme ist heiser und weich, viel gelassener als das, was in einer Broschüre, die mir draußen in die Hand gedrückt worden ist, die brav interviewte und übersetze russische Punkband Criminal State von sich gibt. Klar, der Krieg ist, von Japan aus gesehen, weit weg, nicht vor der Haustür wie in Rußland. Der Sound, instrumental erzeugt, fast ohne Gesang, den die Gruppe auf der Bühne erzeugt, ist gewaltig, dabei alles andere als Noise, im Gegenteil, sehr differenziert, nuanciert und exakt, aber die kühlen Landsleute beginnen sich zu bewegen, Köpfe und Schultern werden geschüttelt, gegen Ende hüpfen die Körper, wie man es sogar noch im Postrockzeitalter erwartet.
Ebenso die Frau neben mir. Sie hüpft zwar nicht, weil sie sich neben mich gesetzt hat, in der hintersten Reihe, aber sie zuckt mit den Schultern, anfangs unmerklich wie ich selbst, ein leichtes Schwingen, hin und her, dann aber kräftiger, schließlich heftig – ohne mich, ihren Nachbarn, anzustoßen, Gott bewahre! Zufrieden wirkt sie, befriedigt. Dafür ist sie gekommen.
Diese Frau, mindestens einen Kopf kleiner als ich und sehr schlank, ihre Unscheinbarkeit noch betont durch ein langes dunkelgrünes geblümtes Sommerkleid, wahrscheinlich eine oder zwei Nummern zu groß, so daß man kaum eine Taille erkennen konnte, war schon in der ersten Hälfte neben mir gestanden. Kotoringo hatte sie höflich applaudiert, ein Ruck ging erst durch sie, als der zweite Schlagzeuger, Takashi Kashikura, Mitglied der Toes, auf die Bühne kam und zu spielen begann. Während der langen Pause hatte ich mich an die hintere Theke gesetzt, ein sehr bequemer Ort, leicht erhöht, mit guter Sicht auf die Bühne, und als es wieder losging, tauchte die Frau auf, sie hatte am Boden gesessen, und setzte sich, nachdem sie kurz überlegt hatte, neben mich. Und da begann nun dieses Schwingen und Schütteln, eben der Rock and Roll, der kein Rock’n’Roll mehr sein will, sondern Postrock oder Math-Rock, irgendwas Intellektuelles, Abstraktes, das die sinnliche Eindringlichkeit der Töne aber nicht fortnahm, sondern nur noch mehr steigert. Unwillkürlich begann ich mitzuempfinden, was die Frau empfand, ich spürte die Musik in ihrem Körper, bewegte mich selbst, wenn auch weniger heftig, im selben Rhythmus, der ein anderer war und doch derselbe, wie das immer so ist, all die Nuancen interpretierte ich anders als sie, aber schließlich waren es Nuancen, gerade die kleinen Unterschiede, das leichte Gegeneinanderschwingen, brachten uns noch näher zusammen. Mehrmals schielte ich zu ihr hinüber, viel konnte ich in dem Dreivierteldunkel nicht sehen, zuerst die weiße Coronamaske, dann aber auch schon die scharf geschnittene, eher lange Nase, die von der Maske nicht verdeckt wurde, die feuchte Haut, das ziemlich flache Gesicht, überhaupt nicht sichtbar, wenn sie es mir nicht wenigstens ganz leicht zuwandte oder ich mich ganz leicht nach vorn neigte, die schnurgeraden, dunklen, knapp über den Schultern ungestuft abgeschnittenen Haare. Die Umrisse ihrer Schenkel unter dem Kleid. Der aufrechte Nacken, die Härchen dort (nein, die konnte ich nicht sehen). Alles klein, aber nicht zierlich, durchaus kräftig, schließlich kam das ganze Wogen und Schütteln, kam die Erschütterung, die mich betraf, aus diesem Körper. Musikalische Erschütterung. Wunderbare Postrockzeit, auch wenn da draußen immer noch Kriege geführt wurden. Gab es ein Draußen?
Ich weiß nicht, ob ich mich für das, was ich hier schreibe, entschuldigen muß. Schließlich leben wir nicht nur im Postrock‑, sondern auch im MeToo-Zeitalter. Toe and MeToo. Was am Abend des 6. August 2022 durch mich gegangen ist, war ein erotisches Erlebnis. Eine gemeinsame Lusterfahrung, keine einsame. Auch nicht die Lust der Gruppe, also des Publikums und der Künstler, die allgemeine Erotik der Musik, obwohl diese ebenso wirklich war und auf die Lust von uns zweien Einfluß nahm, sie wohl erst ermöglichte und hervorrief und dann mehr und mehr verstärkte. Möglich, daß sie die Lust als einsame empfand. Ich glaube es nicht, denn ich habe gespürt, wie sie zu mir herüberschielte. Und da war keinerlei Abwehr, eher im Gegenteil: Zustimmung zur Einstimmung. Auch keine Aufforderung, die Erotik sollte auf die Zeit der Musik und dieses einen Konzerts beschränkt bleiben. Ein bleibender Augenblick, ja. Einer, der nicht weitergeht, und genau darin besteht sein Glück. Als die letzten Töne verklungen waren – das Ende natürlich lange hinausgezögert, auch Kotoringo durfte noch einmal auf die Bühne und ihre helle Stimme in den ebenso hellen, aber urdichten, wendig-zähen Toe-Sound mengen, gleichsam über alldem fliegend, aber fast unhörbar, sphärisch, abgehoben, entflogen. Die Lerche nur noch steiget nachträumend in den Duft…
Apfelduft? Nein, kein Duft. Die Klimaanlage funktionierte einwandfrei. Alles sauber, professionell, abgegrenzt. Die Frau im dunkelgrünen Sommerkleid stand noch eine Weile da, sie suchte nach nichts, wartete auf niemanden, brauchte vielleicht ein paar Minuten, um zur Besinnung zu kommen (»Wo bin ich?«), wirkte zufrieden, befriedigt, sie hatte bekommen, was sie erwartet hatte (ich aber viel mehr, denn ich hatte gar nichts erwartet). Eine fast nicht wahrzunehmende Kopfbewegung, als würde sie sich bedanken. Bei den Musikern? Bei mir? Beim Saal, bei der Musik? Sie schaute in keine bestimmte Richtung und ging dann entschlossen weg, nach Hause. Vielleicht zu ihren Lieben. Ich stelle mir vor, daß sie verheiratet ist, vielleicht hat sie Kinder, sie wird einen Blick in ihr Zimmer werfen, um zu sehen, wie sie schlafen. Sie hat keinen Grund, unzufrieden zu sein. Aber auf die musikalische Erschütterung kann und will sie nicht verzichten. Muß sie auch nicht. Manchmal hört sie zu Hause Toe, aber es ist nicht dasselbe, im Körper entfaltet diese Musik erst all ihre Kräften und Nuancen, wenn sie die Körper der Hörenden so angeht wie an diesem Abend des 6. August.
Ich bin langsam an den heruntergelassenen Rolläden vorbei zum Bahnhof gefahren. Wollte zuerst zu Fuß gehen, ein Stück den Fluß entlang, wie heißt er dort, Kyobashi, aber da war wieder diese Schwäche, genau wie damals, vor einigen Wochen, als ich das Friedensmuseum besucht hatte. Die Stärke von Toe hatte mich letztlich geschwächt. Das Glück hat seinen Preis. Der Bahnhof war wieder voller Rotkäppchen, Carp gegen Tigers 6 zu 5, die Freude der Fans so maßvoll wie üblich, wir sind hier nicht in Europa. In der Menge erkannte ich von hinten an Aufschrift seines T‑Shirts (deren Wortlaut ich inzwischen vergessen habe) einen Besucher des Toe-Konzerts. Einen Moment lang hoffe ich, auch die Frau im grünen Kleid hier zu sehen. Aber wozu? Wozu… Bestimmt sitzt sie jetzt in ihrem Auto und fährt Richtung Westen, sagen wir, nach Hatsukaiichi. Oder sie geht zu Fuß in irgendein nahes Wohnviertel. Vielleicht hat sie es jetzt schon ein wenig eilig.
Ich auch, meine Tochter wartet (bilde ich mir ein). Im Zug schlage ich das rote Buch auf und lese ein paar Seiten lang, was dem kleinen Philip wieder so vor Augen und zu Ohren kommt. Sein Bruder Sandy, der Vierzehnjährige, ist zusammen mit seiner Tante ins Weiße Haus eingeladen. Dort residiert Charles Lindbergh, in Europa ist wieder mal Krieg und Amerika hält sich heraus, Seite 204. Bin gespannt, was Lindbergh und seine Landsleute im Pazifischen Krieg machen werden. Oder gibt es gar keinen Pazifischen Krieg? Dann wird auch die Bombe nicht auf Hiroshima gefallen sein, und es hätte kein Konzert von Kotoringo und Toe gegeben. Oder doch, einfach so, ohne Eight-Six.
-.-.-
© Leopold Federmair