Eine kleine Pfingstpredigt... in der mein Heiliger Geist die Stelle in einem Roman von Dieter Wellershoff ist, (»Der Himmel ist kein Ort«). Ich hatte das Buch letztes Jahr geschenkt bekommen und war so begierig gewesen, es zu lesen, dass ich die Stelle beim ersten Mal übersehen haben muss. Jedenfalls kommt es mir jetzt so vor, und ich bin froh, im Wiederlesen »in dürftiger Zeit« noch einmal darauf zu stoßen. Sie lautet: Du bist kein Sonderfall, sondern ein Beispiel für viele. Und das verpflichtet dich.
Möglich, dass es im ersten Moment nur das Paradox war, das in mir klang: Sind wir doch gewohnt, uns am namhaft gemachten, am heroischen Einzelnen zu orientieren, und steht also der Gedanke, dass der Gewöhnlichste als das verbindlichere Vorbild taugte, scheinbar dagegen.
Es sagt diese Sätze im Buch einmal ein Pfarrer zum anderen, während eines Austauschs über ihre Arbeit, nämlich die des täglichen Ringens um das Richtige. Man kann wohl nicht so weit gehen diesen Roman (von 2009) als einen zur aktuellen Krisenkirche zu verstehen – tatsächlich, gewissermaßen aus dem Inneren (sowohl des Alltags seelsorgerisch-pragmatischer Arbeit wie der eines der Arbeiter »im Weinberg des Herrn«) ist er es aber doch, vielleicht sogar weitergehend, als es in der öffentlichen Debatte über die Missbrauchsfälle und das (nicht nur weltliche) eklatante Versagen der Kirche und einen gehörigen Teil ihrer Vertreter möglich ist. Wer weiß schon, wie es sich im Inneren der – anscheinend stark verbürokratisierten – Institution Kirche anfühlt?
(Ich jedenfalls, nicht gläubig, hatte nach dem Religionsunterricht kaum je wieder – außer einmal bei einer Taufe, einmal während eines Begräbnisses – mit Pfarrern oder Pastoren zu tun. Und ich verstehe, mein Bild von ihnen ist auch durch das der schon immer in ihrer Teilverengung suspekten Geister à la Mixa et.al. ziemlich entstellt: Wer nicht auch seine Zweifel zeigen kann, demonstriert für mich eher wenig Glaubwürdigkeit. Und das müsste gerade auch bei Führungspersonal gelten, zumindest in der Branche.)
(Und, im Buch ganz nebenbei mitbehandelt: Die Aufhebung des Zölibats bei den Katholiken mag die Linderung einer Not versprechen, sie schaffte aber gleich wieder jede Menge neue.)
Aber zurück zu diesen zwei Sätzen. Man begreift leicht, dass es in ihnen letztlich um die Eigenbestimmung eines jeden geht: Wer bin ich mir selbst in bezug auf die anderen? Im Zeitalter der eitlen Kämpfe um so etwas wie Individualismus vor dem Horizont seiner Unmöglichkeit hat das durchaus etwas Brisantes. Und wird doch ausgedrückt als subtil platzierte Frage, in geradezu ausdrücklicher Einfachheit. Zumindest auf mich, der sich seit je als Randgänger begreift (anfangs eher dazu gemacht wurde), nahezu seine sämtlichen Emanzipationsbewegungen und »Befreiungen« daran ausrichtete bzw. von dort herleitete (und natürlich immer auch ein bisschen darunter gelitten hat), hat das unversehens einen starken Effekt.
Das Einfachste erfordert ja bekanntlich die längste Gedankenarbeit. Kann sein, man muss sich in seinem Metier der Weisheit nähern und zugleich offen dabei bleiben wie Dieter Wellershoff, um so etwas noch einmal derart formulieren zu können. Du bist ein Beispiel – und das verpflichtet dich. Kann man ein sozialeres Programm formulieren? Gäbe es ein radikaleres? Und taugte es nicht ebenso zum mindesten Credo eines jeden!?
Die Konfliktsituationen im Roman erscheinen als keine konstruierten, auch sie lassen sich leicht umbrechen als Bewährungsfälle für jedermann: Wie immer geht es in ihnen um das Unglück – hier in Form eines Autounfalls, einer an ihren Unmöglichkeiten gescheiterten Ehe, Weltfälle, aus denen sich die grundsätzlichsten Lebenszweifel ergeben – wie um das neue Glück: In der Begegnung mit einem dann doch besonderen, einen tief berührenden Menschen. Dazwischen findet alles weitere statt, im Roman wie im Leben.
Doch ist hier, in einem Kunstwerk also, die Welthaltigkeit beider anderswie »transzendiert«. Der Lärm der Welt scheint daher zu kommen, dass man »die letzten Dinge« zwar andauernd behandelt sieht, dass die Formen solcher Behandlungen einen aber nicht mehr erreichen. (Zumindest mich nicht: Schon in der Schule – und es ist seither nicht besser geworden -, als mir für eine Mediensache einmal die Aufgabe zufiel die im Lauf eines Fernsehabends anfallenden und dann nie mehr weiter beachteten Toten zu zählen, habe ich das nicht ertragen – aus Langeweile. Oder, intellektuell durchdrungen, lehrsatzmäßiger gesprochen: Am Extremfall wird erkennbar, dass hochkulturelle Subjektivierungen nicht möglich sind ohne die Aufrichtung eines Gewaltverhältnisses im Innern des Subjekts. Peter Sloterdijk, Weltfremdheit.)
So haben diese Sätze – noch einmal: Du bist kein Sonderfall, sondern ein Beispiel für viele. Und das verpflichtet dich. fast etwas Erweckendes, etwas Apellatives... wie auch etwas Erleichterndes: Darin, dass sie einen sich in der Anschlussfähigkeit an alle zu begreifen geben, dass man letztlich dieselben Dinge zu teilen hat und das durch deren Wesentlichkeiten etwas geschaffen ist, das nicht hintergangen oder überkommen, aber auch niemals ganz durchschaut werden kann: Es bleibt unverfügbar. Und zuletzt wird niemand gleicher als ein anderer sein, obwohl das jedermann andauernd so erscheint.
Die Sätze sind aber auch eine Zumutung: Darin, die eigenen, von Verführern und Selbstverführungen eingeflüsterten Verstiegenheiten immer etwas unangepasste Persönlichkeit wieder einmal wahrzunehmen, ebenso im selbst geschaffenen »Kontext« wie vor der ewigen Kontingenz: Eine Winzigkeit, eine zufällige Begegnung oder unvorhersehbare Begebenheit, eine Krankheit können alles ändern.
Und worin läge die Verpflichtung, vor allem ohne religio, ohne die Rückbindung an so etwas wie Glauben? Eben darin, zuletzt nicht ohne sie zu sein. In den Vergewisserungen, mit denen man sich täglich neu seinen Anstrengungen ergeben muss, seinem nicht zu fliehenden Beispiel. Und wie man, trotz aller Gegenwehr und Selbstherrlichkeit, dazu aufgerufen bleibt. Und wenn auch alle anderen das eigene Versagen nicht bemerken, weiß man darum selber doch sehr genau.
Oder klingt das jetzt schon zu christlich? Zu brav? Zu weltfremd? Ich frage mich das. Und wäre heute nicht Bescheidenheit an sich schon etwas Obskures?
Wie wär’s da mit einer »christlicheren« Version? Die ja tatsächlich – und nicht nur da – eine immense Selbstermächtigung formuliert:
»Dass ‘er’ jetzt kommen und dieser so unwirklichen Wirklichkeit ein Ende machen werde, war seine große Gewissheit, und für sie trat er wie sein Meister Johannes als Verkünder auf. Noch lassen die ältesten ins Neue Testament aufgenommenen Evangelien diese Zeit hindurchschimmern, in dem er in seinem Bewusstsein nichts war als ein Prophet. – Aber es gibt einen Augenblick in seinem Leben, wo die Ahnung, dann die Gewissheit über ihn kommt: Du bist es selbst. Es war ein Geheimnis, das er zuerst kaum sich selbst, dann seinen nächsten Freunden und Begleitern eingestand, die nun die selige Botschaft in aller Stille mit ihm teilten, bis sie die Wahrheit endlich durch den verhängnisvollen Zug nach Jerusalem vor aller Welt zu offenbaren wagten.«
Jedes Mal beim Wiederlesen dieser Stelle halte ich den Kerngedanken, dieses: Du bist es selbst, egal in welche Richtung gedacht, auf welchen Gott hin, auf irgendeinen oder keinen, für etwas ganz Außerordentliches. Und man muss dazu auch nicht glauben. Andererseits kann man aber auch nicht nichts glauben, und ich vermute, dass selbst das Wenige an religiös gefärbtem Gefühl in jedermann manchmal ausreicht, um das Beispiel(i> zu sehen und dessen es uns andauernd so lebendig vor Augen zu halten versuchten Skandal, egal wie es benannt wird: Jesus, Mohammed, Buddha, Gandhi... Osama. (Der steht hier nicht im Text als Effekt, sondern weil er eben nicht ausgeschlossen werden darf – sonst wäre alle religiös gedachte Beispielgebung sinnlos.)
(Und mit der Quelle des Zitats ergibt sich auch wieder eine schöne Klammer: Es ist aus Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes«. Und wie tief apokalyptisch geprägt, und das heißt zuletzt: bleibend erlösungsbedürftig, unsere Weltbilder sind, entnehme jeder seinen Fernsehnachrichten.)
Was mir selber, da anscheinend religiös gefärbt, geblieben ist, ist eine bestimmte Idee der Nächstenliebe – und das nicht, weil ich sie als Gebot verinnerlicht hätte. Sondern weil sie mir einerseits, später sozusagen kantisch verstärkt, tief vernünftig scheint. Und andererseits als virulente Idee das wo möglich Beste im Menschen andauernd »aktualisiert«. Dass die weltlichen Regelungen allein nicht ausreichen und erodieren, zeigte dieser Trend zur Zuspitzung auf die Person, ob in der Politik oder in der Promi-Welt, ob in dem bindungslos gewordenen, sich ausschließlich sich selber verantwortlich Dünkenden der globalen Akteure oder in der Heroisierung etwa des die Erzählung immer erst stiftenden Sonderfalls im Film (und seit Langem sind das ja übrigens auffällig oft Psychopathen: der Freak also als Normalfall). Und das alles wiederum vor dem gesellschaftlichen Auftrag zur Eigenverantwortung, zum Selbst-Unternehmertum, zur sozial-performerischen Ich-AG.
Dialektisch könnte man hier natürlich ebenfalls jeweils den großen Beispielgebenden verorten. Aber der einzelne Triumphierende ist dann am Ende immer auch der Scheiternde (auf eine gewisse Weise sogar im »happy end«). Und wie weit weg oder nahe das an dem grundierenden Jesus-Narrativ ist, mag sich jeder selber denken.
Theologische Spitzfindigkeiten haben mir selten etwas bedeutet (obwohl sich hier eine wichtige Disziplin an hochkomplex auf uns alle rückwirkenden Sachverhalten arbeitet), die Bibel ist für mich ein Märchenbuch. Ich würde kirchlich formatierten Glauben – mit Luhmann – eher als ein Ansammlung von bewährten Medien sehen, die es braucht, um wesentlich menschliche Dinge, »letzte Dinge«, auch menschlich zu verhandeln; insofern blieben die überlieferten Rituale wichtig, als Rückbindung wie als evolutionär gewonnene Form. Sie einfach zu erneuern, sie an den eh schon fragmentierten Zeitgeist zu adaptieren, nähme ihnen wichtige Bindungs-Energien. (Obwohl ich da keine eigenen Interessen habe, überzeugt mich hier der so beispielgebende wie sonderlich bleibende Martin Mosebach: „Instant Karma“ wäre etwas für Neo-Pagane, die ihre Feste längst als Event feiern und bei stark gefühlsmäßiger Ansprache gleich rufen: santo subito: Sofort heilig! [Und dann profitiert davon eine »Kartoffel« wie der in Smolensk zum Heil der Nation wallfahrende Lech Kaczynski! Je mehr Heilige desto mehr Gelächter!])
Ohne es jetzt im Einzelfall durchgehen zu wollen, vermute ich, das – ein vernunftgeleitetes Plädoyer zur Beibehaltung der Kirche – ist auch, was der seinerzeit so sehr für seine »religiöse Kehre« angefeindete Habermas lediglich meinte: Es braucht einen Ort, wo gewisse immanente Dinge noch verhandelt werden können, weil sie den Menschen sonst nicht nur abhanden kommen, sondern dieses Fehlen dann auch kommunikative Vernunft selber und Souveränität mit der Sache zunehmend vermissen lassen wird – und dann viel schlimmere Dinge nach sich zieht als das Offenbarwerden einer scheiternden, also menschlich geformten Institution wie der Kirche. (Schlimmere als etwa Banalisierung und Fanatisierungen, oder überhaupt: Der Abfall der Gottesverlassenheit (Rudolf Heinz), mittels dem sich jederzeit unsere neuen Verirrungen auszudrücken vermögen.)
Ansonsten müssen wir uns eben weiter in unseren modernen Weltfremdheit einrichten und dabei ab und zu die erstere bedenken, ein jeder ein Beispiel wie ausschließlich für sich selbst. Das Zeitalter auch transzendent geklärter Vernunft lässt wohl noch auf sich warten.
Lose Gedanken
Ich kenne dieses Buch nur aus Rezensionen, aber geht es nicht auch darum, dass der Pfarrer immer mehr zu zweifeln beginnt? Darin schien es mir ähnlich einem Film aus den 70ern, und zwar nach Jack Golds »Katholiken«. Der Film zeigt vor dem Hintergrund der Lefèvre-Separatistenbewegung wie ein Abt einem Amtsbruder, einer Art »Prüfer« (wenn ich es richtig in Erinnerung habe) gesteht: ‘Da ist nichts mehr.’ Er kann nicht mehr glauben. Er hat das Gefühl, seine Gebete verhallen; er empfängt keine »Signale« mehr. Das muss ein furchtbares Gefühl sein, weil die ganze Welt zusammenbricht. (Ich weiss nicht mehr genau, ob dies aufgrund der Veränderungen des Konzils kam.)
Und es ist ja paradox: Ausgerechnet beim Glauben diese Gewissheit, die keine Glaubensgewissheit ist (also Gewissheit, zu glauben), sondern die Gewissheit ist, »das Richtige« zu glauben. Ist nicht das Implementieren des immer auch denkbaren Zweifels einfach zu neu für eine solche Organisation wie die Kirche? (Aber wer, wenn nicht die Kirche sollte dies schaffen? Ich meine damit die katholische Kirche; die Protestanten sind viel stärker »gläubig«; nicht zweifelnd. Und das Personal des Islam ist in diesem Bezug schlichtweg rückständig.)
Und erleben wir nicht in der Politik, in der Gesellschaft auch das Leugnen jeglichen Zweifels? Es ist ja nicht so, dass nur Mixa und Konsorten Dogmatiker sind – die Politik, die Freizeitindustrie, die Künstler, die sogenannten Intellektuellen – letztlich beharren alle irgendwie auf ihre über Jahrzehnte oder Jahrhunderte errungenen Übereinkünfte wie Demokratie, Freiheit, Konsum, Erholung, usw.
Und tatsächlich: Eine Stellungnahme wie Du bist kein Sonderfall, sondern ein Beispiel für viele. Und das verpflichtet dich. mutet da mehr als nur weltfremd an. Weltfern. (Hätte das nicht auch bei Handke stehen können?) Schon als Aufgabe, als Pflicht (ein Kant-Begriff, den man gerne diskreditiert hat). Diese Form der »Vorbildfunktion« berührt viele unangenehm, weil es doch so schön bequem ist, sich aus derartigen Verpflichtungen durch (s)einen Individualismus, der allseits fester Konsens ist, hinwegzumogeln. Das »Nichteinmischungsprinzip« gilt doch längst als kommode Form der Nachbarschaft. Wer dagegen verstößt, wird beargwöhnt. Hinzu kommt auch noch, dass diejenigen, die gerne als Beispiel figurieren würden, jene sind, die man im Allgemeinen nicht als solche sehen möchte.
Man mache sich nichts vor: jemand wie Jesus würde heute auch noch überall anecken. Er würde beschimpft, gemaßregelt und verhöhnt. Eben wegen seiner »Weltfremdheit«.
Ich habe dennoch das Gefühl, dass in den Büchern des Neuen Testaments ungleich mehr steckt, als uns Exegeten und Kirchenbürokraten erzählen. (Und damit meine ich keine versteckten politischen oder sozialrevolutionären Botschaften.) Insofern hat die Kirche in den letzten zweitausend Jahren versagt: Knapp einhundert Jahre nachdem die Aufklärung die Freiheit postulierte, erkannte Nietzsche resignierend, dass Gott tot ist (das war tatsächlich kein Triumphgerede, sondern eine Zustandsbeschreibung). Er »verwundert[e] sich« – wie man sich nur wundern kann! – »daß heute des Sonntags früh noch die Glocken für einen vor zweitausend Jahren gekreuzigten Juden läuten«. Ist es aber nicht das, was immer noch berührt? Wer, wenn nicht die Kirche lässt dafür die Glocken läuten?
Das Gemeine der Gemeinde
Überspitzt gefragt: Eine Glaube ohne Zweifel – wäre er denn einer? Den paradoxen Strukturen entkommt man in diesen Gefilden eh nicht. (Auch Augustinus’ credo qui absurdum: Ich glaube, weil es widersinnig ist, kommt bei Wellershoff natürlich vor. Auf die weitere Handlung im Buch bin ich absichtlich nicht eingegangen – ich finde es derart reich, dass man sicher auch andere „Stellen“ hätte herausnehmen können, so sie einen berührten. Aber der Zweifel, als sozusagen wesentliches Moment jeglicher condition humaine ist sicher das Thema des Buchs.)
Und wer hätte für Zweifel noch Zeit? Im Roman geht es dann weiter auch darum, dass die Religion keine Antworten mehr liefert, auch weil sie längst so ein weiteres, unendlich ausdifferenziertes System von kulturellen – und das heißt hier: zu konsumierenden – Unterscheidungen ist. Auf einer (im Buch übrigens schlüssig eingebauten) „Tagung“ all der vielen arbeitsteiligen Sinnspezialisten lässt Wellershoff sie aufeinanderprallen – bis zu ihrer Beliebigkeit. Und der Protagonist zieht dann sein Fazit: Ein jeder muss die wesentlichen Fragen mit sich selber abmachen.
Den angesprochenen Film kenne ich leider nicht, aber den „Prüfer“ – einen effizienten, durchaus auch spirituell alerten Funktionär – gibt es bei Wellershoff auch. Es folgt dann noch eine weitere Prüfung, eine weltliche, menschliche... und danach, mit der Niederschlagung des Unruheherdes in der Gemeinde (bezeichnenderweise durch einen Selbstmord des Südenbocks – man denke da auch an Rene Girard -), geht alles wieder zu seiner Reibungslosigkeit über. Der Pfarrer ist hier sozusagen der verschärfte Fall eines Jedermann, die persönlichen Prüfungen im Weltlichen sind dann allermeist nur banaler.
Die Leugnung der Zweifel entspricht wohl eben dem Effizienzdruck allenthalben. Und ich habe das ebenso in Businessmeetings erfahren, wie mit Abweichlern, mit zuviel Nachdenklichkeit umgegangen wird: Ein gewisses Maß ist nötig und willkommen, aber dann greifen wieder die Übergewissheiten des Systems. Kann sein, diese Balance muss bis ins Unendliche ausgeglichen werden, der Einzelne steht dahinter zurück. Das scheint wiederum paradox, wird in ihm doch das Unhintergehbare bei all diesen Entscheidungen ausgetragen: Wer bin dabei ich, was sind die in mir wirksam werdenden Kräfte eines Größeren, das mich vereinnahmt, wo gäbe es noch eine Autonomie. (Dabei sind ja selbst Manager Getriebene, Politiker sowieso.) Aber dass man auch im Kleinsten “Beispiel“ ist und gibt – diesen Gedanken fand ich, finde ich immer noch genug verblüffend, ihn lebendig zu halten. Er müsste auch helfen, die einen selber ja eher nur neiderhaltende Gleichgültigkeit zu bekämpfen. Und da träfe sich das Soziale mit dem Christlichen (sogar in jemandem wie mir).
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Ich muss zugeben, dass ich die „Testamente“ praktisch nicht kenne. Und auch die Unterschiede zwischen den Konfessionen sind mir eigentlich gar nicht so klar; ich bin da eher ungebildet und habe das bisher auch nicht als Mangel verstanden. Aber in beiden Fällen (und ich habe ein paar muslimische Freunde, letztlich ist das dort auch so), geht es auch im Glauben in einer „Gemeinde“ anscheinend erst mal um ein Arrangement mit Konformität und Koexistenz. Unterschiede wären dann die Kontrollmöglichkeiten des Individuums innerhalb solcher größeren Verbände. Der Katholizismus muss ja (ist noch?) in ländlichen Regionen auch einmal sehr rigide gewesen sein.
Was ich aber schon länger zu wissen glaube: Über Kirche nachzudenken lohnt es sich nicht (für mich wenigstens), über die in Religionen verhandelten Dinge aber sehr wohl: Allein schon weil sie etwas Dissidentes berühren, etwas, das nicht eingemeindet werden kann. (Hier kein Wortspiel.) Und darum zu „ringen“ es eher weniger Orte gibt.
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Zu den Glocken noch:
Einmal, auf Sri Lanka oder in Südindien war das, glaube ich, habe ich, schon länger akklimatisiert mittels den dazu touristisch verführenden Umständen, auf einmal die Glocke einer unverkennbar katholischen Sonntagskirche gehört – und auf einmal verstanden, wie sehr das eigentlich unbewusst / unverstanden „Heimat“ für mich bedeutet. Zu Hause müssen natürlich die Revolutionäre auf die Kirchturmuhren schießen, aber dort? Ich erinnere mich, dass ich tatsächlich ein starkes Angerührtsein verspürte. Mit „Glaube“ whatsoever hatte das nichts zu tun. Aber mit der überraschenden Einsicht, dass auch ich, dass ich auch als Fremder / in der Fremde Angehöriger von Gemeinden bin.
Ich weiss nicht, ob der Zweifel nicht indirekt ein wesentliches Element des Glaubens ist. Wenn man denn den Gläubigen als »Subjekt« betrachtet und nicht als bloßen Zitateempfänger. Nur die Möglichkeit des immerwährenden Zweifels macht einen Glauben erst »wertvoll«.
Was mich am Ritus des Gottesdienstes abstösst ist dieses kollektive Bekräftigen – auch des Glaubens. Hier liegt doch auch ein bisschen der Keim des Zweifels – oder? (Vielleicht mehr als eine Spitzfindigkeit: Glaubt man demjenigen Angeklagten mehr, nur weil er immer seine Unschuld bekräftigt?)
Und liegt hier nicht der Unterschied zwischen dem »verordneten« Ritus (der in anderem Zusammenhang wieder Vorteile bietet) und dem »Glauben« des einzelnen? Es ist auch bei mir so: Die Kirche interessiert mich höchstens als soziologischer Raum – der Glauben bzw. die Schriften sehr. Es gilt, dies zu trennen, um den Kopf für den Glauben freizuhalten bzw. ihn mindestens theoretisch zu ermöglichen. (Daher ödet mich auch dieser Dawkins-Atheismus an: Er ersetzt den Glauben an den Glauben an den Unglauben und parfümiert sich damit avantgardistisch; reine Affekthascherei.)
Dennoch ist die Identifikation mit dem Papst für viele Katholiken ein Vorteil. Gäbe es ihn nicht, müsste er vom medientheoretischen Standpunkt her fast noch erfunden werden. Die Protestanten leider m. E. unter dieser Atomisierung ihrer Protagonisten. Der Islam sowieso. Aber es zeigt sich, dass die Ära eines Papstes zu stark bestimmend ist. Ein Teufelskreis.
(Sehr schön, diese »Heimat«-Geschichte.)
Glaube als »Schnittstelle« des Sozialen?
Ich vermute schon, dass, wäre der Glaube unbezweifelbar, es – schon allein wegen der Natur des Menschen – zu Gegenbewegungen kommen würde. Das beweist letztlich die Historie aller Dogmatismen. Und immer war der Kampf um den richtigen Glauben weltverändernd, das ging jedermann an (teilweise ja bis heute, auch in säkular geprägten Ländern).
Der andere Aspekt aber wäre die innere Lebendigkeit eines Glaubens, seine letztlich stärkere Legitimität und „Weltverhaftetheit“. (Es gibt ja genug Beispiele, wo Glaube zum Rücktritt aus der Welt führt.) Und woher könnte aber die Lebendigkeit kommen wenn nicht aus dem Subjekt selbst? (Ein weiterer Aspekt, der mir noch aufgefallen ist in dem Roman, wie es auch ein eigenes, beispielgebendes Narrativ des „Ringenden“ gibt – prominent und paradigmatisch natürlich Augustinus, aber in der Moderne sehr stark auch Van Gogh.)
Was außerdem zu unterscheiden wäre, wäre der innere vom nach draußen getragenen Zweifel. Der Letztere natürlich immer in der Nähe offener Häresie, der innere vielleicht näher an gelebter Wahrhaftigkeit. (Das Wissen um eine Falschheit im Glauben ja schon sprichwörtlich seit den Pharisäern.)
Während zu Urzeiten eine strafbewehrte Autorität das alles regelte, ist der heutige Zweifel also auch einer mit der modernen Qualität „Selbstverantwortlichkeit“ – damit aber auch vielleicht durchschlagender, vernichtender für den Fall, dass die innere Verstrickung eine ernsthafte, weitreichende ist. Das wertet Glauben im gewissen Sinne per se auf, macht in in anderem Sinne disponibel bis unverbindlich – also Privatsache.
Und in den Graden also solcher Ernsthaftigkeit mit sich selbst, spiegelten sich da nicht auch Verankerung und Verantwortung im Sozialen – ein Gradmesser also für eine Gemeinschaftlichkeit, die in ihren Qualitäten befragbar gehalten werden müsste? Denken Sie an Camus’ „Pest“, überhaupt Katastrophen, in denen Menschen auf einmal ihr bisheriges indifferentes Verhalten aufgeben und andere werden: Es geht auf einmal um was, eine Verwesentlichung des Lebens tritt ein, und in solchen Situationen entscheiden sich dann auch oft Gewissheiten – oder eben wiederum Verhältnisse gegenüber dem Zweifeln.
Das Weltliche – Regularien, Riten und „Stellvertreter“ auf Erden – wäre dann je etwas an Versuch zu äußerer Formgebung für das, was im Inneren des Subjekts diffus, widersprüchlich, „ringend“, wandelbar bliebe, vulgo: lebendig. Und lebendig, das sind auch die anderen um einen herum, das ist vor allem auch das Soziale und an diesen Stellen entscheidet es sich vielleicht? (Oder es bleiben klassische Entscheidungssituationen?)
Mit Zweifel meinte ich nicht den »modernen«, eventuell sogar naturwissenschaftlich abgeleiteten Zweifel. Ich meinte schon das Rütteln im eigenen Fundament hervorgerufen durch beispielsweise Katastrophen, die man erlebt. Denken Sie an das Erdbeben von Lissabon im 18. Jahrhundert. Und Helmut Schmidt sagt heute, er könne nicht mehr glauben, nach dem ein Gott so etwas wie Auschwitz »ermöglicht« habe (das Theodizee-Problem eben).
Etwas anderes dann, wenn jemand plötzlich bemerkt: Meine Gebete verhallen. Da ist nichts mehr. Da ist kein »Echo« mehr. Das muss nicht nur Resultat des Zweifels sein, sondern vielleicht sogar seine Ursache. Wir gestehen Menschen inzwischen Behandlung zu, die sich in ihrem Geschlecht unwohl fühlen, aber was ist mit denen, die sich in ihrem Glauben nicht mehr »verstanden« fühlen?
Jetzt meine »ketzerische« These: Ist es wirklich so, dass der Glaube zum Rücktritt aus der Welt führt, beispielsweise in Klöstern oder in der Meditation? Die Gläubigen würden das Gegenteil behaupten: Es wäre ein Eintreten in die Welt – und das, was hier so treiben, ist dieses Surrogat, was man »Leben« oder »Welt« nennt. In diesem Sinne hatte ich immer jemanden wie Heidegger versucht zu verstehen, der mit seiner Daseinslehre sozusagen eine »säkulare« Welt neu begründen, nein, das Verschütte wieder herausheben wollte.
Zweifel als »Seinsverschärfung«
Ja, diese Art Zweifel meine (und meinte) ich letztlich auch. Er wäre auch ohne aktuelle Bedrängung das, wodurch das eigene bisschen Existenz Wesentlichkeit gewinnt.
Schmidts Auschwitz-Argument (wie auch Adornos „Kein Poesie-nach-Auschwitz“) sind ja längst widerlegt: Als aus der Empörung etwas zu gewinnen suchende Volten, die hinter der Komplexität ihrer Gegenstände zurückfallen.
Eine Strategie anlässlich dieses ernsten, inneren Stummwerdens wüsste ich auch nicht. Außer eben, lang entschiedene (oder damit ausgeblendete) Fragen noch einmal neu zu stellen, die Prüfung gewissermaßen zuzulassen, inkl. den Auferlegungen, die das bedeutete. Denn nur so kann sie ja dazu verhelfen, sie auch „nachhaltig“ zu absolvieren.
Insofern wäre diese Pfarrers-Kaste – als Wissende wie „Exekutive“ in einem funktional differenzierten System von Spezifizierungen, hier also: Fachleute für Konnexionen und Verstrickung mit Metaphysik – beispielgebend für den Frieden der „Gemeinde“: Sie erleiden stellvertreterhaft diese Prüfung verschärft für die anderen (die Schafe).
Von daher sehe ich dann aber auch das „Ketzerische“ Ihrer These nicht so ganz: Sie scheint mir nicht nur richtig, sondern sogar einigermaßen “systemkonform“ (wenn ich das Bestreben Jesus’ um Lebendigkeit in seiner Anhängerschaft richtig deute: Er wollte nämlich auch keine Herde der „Glaubensgestillten“).
(Heidegger scheint mir jetzt etwas zu mächtig, es dem armen „Beispiel“ des Pfarrers bei Wellershoff aufzubürden. Aber sicher lässt sich dessen Ringen seinerseits um ein durchdringendes Verständnis des Seins so interpretieren. Und auch der Zug zu einer Verwesentlichung in banalen Lebensumständen steckt da drin.)
Vielleicht sind ja Schmidts und Adornos »Vorbehalte« – die Theodizee-Frage – formal widerlegt. Aber für den Naiv-Gläubigen stellte das sicherlich mehr als nur eine Erschütterung dar. Da mögen dann vatikanische und/oder philosophische Traktate Entwarnung geben – ein Gott, der all die beschworenen Eigenschaften haben soll und dann so etwas »zuläßt«, ist eigentlich schwer zu vermitteln. Oder aber es ist – da rauschen dann schon die Verschwörungstheorien heran – ein Teil eines »großen Plans«.
Die Kirchen haben aber nicht nur ihren Urgrund verloren – die Erklärung eines Gottes, der das Leid zuläßt (früher war das Leiden der Welt ja gar nicht derart präsent; heute werden ölverschmierte Vögel in Echtzeit übertragen und erschüttern die Leute fast mehr als die blutverschmierten Strassen nach einem Selbstmordanschlag in Bagdad). Sie haben auch ganz banal ihre sozial-alimentäre Funktion längst eingebüßt. Der Staat hat ihnen diese Bürde abgenommen (sie geben noch ihren Namen dafür her; ansonsten eher wenig). Eine Bürde, die auch ihre Existenzberechtigung war. Und schon vorher haben sie die Deutungshoheit über die Welt an die Naturwissenschaften verloren. Die Kirchen werden, wollen sie nicht untergehen, Freizeitparks werden, die »Angebote« unterbreiten. Für den wahren Glauben, den sie vertreten, geht es allen längst zu gut – oder zu schlecht.
Daher gilt das Wort der »Prüfung« auch nicht mehr. Der moderne Bürger will nicht »geprüft« werden; das wähnt er seit Schule (bzw. Universität) hinter sich. Der Autoriätsverlust, der mit den (sogenannten) 68ern einher ging, machte der Institution Kirche gänzlich den Garaus (die residuen werden gerade mit den Mißbrauchsvorwürfen und dem Umgang der Kirche damit entsorgt). Da erscheint der nette freundliche Mann aus Tibet viel »weltlicher« (wobei sich wieder einmal die Gnade der Unwissenheit ‘offenbart’). Tatsächlich ist ja längst die Sehnsucht nach denjenigen, zu denen man aufschauen kann, wieder da. Aber man orientiert sich eben heute ganz schnell »global«. Der Pfarrer um die Ecke muss gegen die Präsenz des Dalai Lama konkurrieren.
Das ketzerischer meines Einwurfs liegt darin, dass heutzutage Klosterbrüder (oder ‑schwestern) als weltfremde (sic!), weltferne Sektierer angesehen werden. Die neuen Atheisten mit ihrer stumpfsinnigen Naßforschheit werden sie vermutlich früher oder später »befreien« wollen (es gibt eine Stelle in Grass’ erstem Memoirenbuch, in der er seine Schwester aus dem Kloster »befreit« wie aus den Klauen von Entführern – und sich dessen auch noch rühmt). In diesem Sinne ist die Moderne buw. die »neue Moderne« längst autoritär: Wer nicht ihren Lebensstil führt, ist abstrus. Er muss bekehrt werden (siehe Afghanistan – hier besonders die Grünen) oder denunziert. Der Gedanke, dass sie (und damit wir) in einer abseitigen Welt leben, kommt ihnen nicht.
So wäre »weltfremd« eigentlich das, was es anzustreben gilt, wen man mit »Welt« diese Welt nimmt.
Ein Rest an Beunruhigung
Zu dem „Gott“. Also, der könnte ja auch der grausame sein, einer eher der älteren, heidnischen, und die eigentlich etwas unbedarfte Logik von Gut & Böse könnte sogar etwas Undurchschaubares, dem Menschen Auferlegtes sein, womöglich sogar dass die es sich nicht ihrerseits leicht machen und die fälligen Entscheidungen an höhere Sphären delegieren. Aber mit solchen Überlegungen wäre man vielleicht tatsächlich schon zu sehr bei der Moraltheologie. (Die dann vielleicht sogar fruchtbar würde, für’s irdische Hier & Jetzt?)
Ich würde gerne noch einmal zurück zu der Faszination, dass man selber, auch als teilweiser „Schöpfer“ der Bedingungen seiner Beispielhaftigkeit, heute entscheidender ist als diese Delegation etwa auch an die großen Fragen, Theoriegebäude, Gottesbeweise – in Camus’ Diktion also „absurd“. Selbst wenn man nichts von den großen Fragen durchschaut, weiß man doch – und das könnte wiederum Teil eines Bedingten wie eines „großen Bedingungslosen“ sein -, dass man nicht nur vom Weltlichen her verantwortlich ist: Zumindest ist man es zuletzt sich selbst. Da helfen dann keine Ausflüchte mehr. Und die anhaltende Verblüffung wäre, dass das etwas Glückhaftes sein kann, etwas Epiphanisches.
Denn im Bewusstsein „der letzten Dinge“ muss man diese ganze arbeitsteilige Welt, den säkular erlösen sollenden Staat, sowieso als grundlegend unzureichend erkennen. Die Verantwortung beweist aber, lebendig gelebt, dass man in seinem Bereich sehr wohl entscheidend sein kann. (Entscheidender zumindest als diese Haltung der Delegation an ein Glaubenssystem, welches auch immer.) Überspitzt, gleichwohl fast priesterlich formuliert, könnte man sagen: In der Bindung läge tatsächlich das Momentum an Selbstbefreiung (nämlich jedes Mal wieder neu mit Fragen beginnen zu müssen).
Dass man all diese Prüfungen lieber ablehnt, ist klar – das muss nicht mal groß begründet werden, Menschen sind ja auch von ihrer Natur her Hedonisten. Wenn man aber auch mit dem so oft einher gehenden Individualismus Ernst machte, müsste man ja zugeben, dass auch die „Kirche“ unserer modernen Lebensstile – dogmatisch genug – diese grundlegendere Antwort der Verantwortung gar nicht mehr erst versucht und also von daher diese Lücke lässt, die, die einen selber dann implizit und immer wieder betrifft. (Das Vakuum, die Sinnfrage usw.). Selbst also, wenn an ein Credo à la „Nimm, soviel Du kriegen kannst.“ „Erfolg heiligt alle Mittel.“ „Ich zuerst“ usw. glaubte.
Und ja, da stimme ich dann wieder mit Ihnen überein: Sich unberufen diese Fragen zu stellen ist vielleicht per se weltfremd. Und ob man dann die damit anklingenden Traditionen noch befragen will / soll? Wäre es denn nötig, wenn man sich in diesem dahin Befragtsein per se erkennt? Da wäre dann doch eine Berufenheit. („Jeder Mensch ist ein Philosoph.“) Und mit seinem gelebten Beispiel machte man sogar irdische Politik! (Oder klinge ich da jetzt schon wie Heiner Geißler?)
Die Umformulierung des initialen Satzes jedenfalls (Du bist kein Sonderfall, sondern ein Beispiel für viele. Und das verpflichtet dich) klingt vor dem Hintergrund dann nicht besser:
Du bist kein Individualist, sondern ein Massenmensch. Und das erlöst dich nicht.
Besser ist es aber wohl, wenn man etwas auch positiv formuliert.
Vermutlich ist bei uns die Delegation der »großen Fragen« an das Individuum selber – also dieser existentialistische Ansatz – für die meisten auf Dauer unmöglich. Und steckt nicht in Camus’ Sisyphos auch ein bisschen Protestantismus?
Das Päckchen der Selbst-Verantwortung (der Verantwortung für sich selbst) zu tragen, möchte doch jeder wenn möglich vermeiden. Ich habe neulich einen Bericht über eine Pauschalreise den spanischen Teil des Jakobswegs entlang gesehen: den »Pilgern« wurde das Gepäck hinterhergefahren; sie trugen nur einen leichten Rucksack. Und sie wurden in kleinen Hotels und Pensionen in Halbpension versorgt – nicht in den Pilgerheimen. So stellt man sich heutzutage »pilgern« vor.
Und so stellen sich viele auch ihr Leben vor. Weil sie es nicht besser vorgemacht bekommen (da sind wir beim Vorbild!). Die großen Sinnstifter haben verspielt – das Individuum als Sinnstifter (?) ist leidlich überfordert. Daher blüht zum Beispiel die Esoterik.
Dem (post?)modernen Individualisten ist nur schwer zu vermitteln, ein »Massenmensch« zu sein. Man sage: soziales Wesen, aber das verschafft nur unwesentlich mehr Anhänger. Er will eigentlich beides – Individualist und Gruppenteil. Wie könnte sonst so etwas wie Facebook funktionieren? Die einsamen Individualisten warten doch nur auf Ansprache durch das »Du«! Und sie wähnen sich in dem Irrglauben, diese Entscheidung selbst zu treffen.
»Masse« hat spätestens nach Canetti einen Hautgout. Und Sie haben ja recht: Ein »Massenmensch« zu sein, erlöst ja nicht. Aber vielleicht tröstet es ja, weil man sich darauf zurückziehen kann, unbedeutend zu sein im Verhältnis zur Masse? So entstehen ja dann Massenströmungen: Das Mitgehen suggeriert die Atomisierung der eigenen Schuld. Es entlastet. Und das ist wiederum sehr »modern«.
Candidus
Nachdem ich Ihren obigen Text und die nachfolgenden Kommentare gelesen habe, möchte ich ergänzend Helmut Schmidts Antwort „einlinken“, auf die Frage hin, „wodurch sein Gottesbild heute denn bestimmt werde“.
aus: Buchjournal Herbst 2008, S. 46–49 ( online finde ich merkwürdigerweise kein Datum zu diesem Artikel; wenn ich dieses Heftchen nicht aufbewahrt hätte, ein Datum hätte ich nicht nachvollziehen können, bzw. belegen können):
„Auf die Frage, wodurch sein Gottesbild heute denn bestimmt werde, antwortet er: „Meine Vorstellung von Gott ist im Laufe des Lebens immer unschärfer geworden. Zugleich aber ist mein Respekt vor anderer Leute religiöser Glaubensüberzeugungen immer noch gewachsen.“
Auf dieser Seite ist der Beitrag im Ganzen nachzulesen:
Ich habe Ihre Buchvorstellung „Der Himmel ist kein Ort“ von D. Wellershoff mit Interesse gelesen. Anfangs war mir der Buchinhalt nicht bekannt, allerdings nach dem „Setzen lassen“ war mir so, als würde ich den Roman kennen. Aber ich glaube, auch ich habe Rezensionen gelesen und dann im Kopf weit nach hinten abgelegt.
Nun werde ich nach Ihrem Blogbeitrag das Buch selbst verinnerlichen und bin neugierig, inwieweit ich die Aussage: „Du bis kein Sonderfall, sondern ein Beispiel für viele. Und das verpflichtet dich.“ für mich interpretiere.
Zweifel an der religiösen Glaubensüberzeugung sind mir erstmals Mitte der siebziger Jahre gekommen. Bis dahin bin ich wohlbehütet in einer schönen Welt groß geworden; die Eltern, geprägt von Krieg, Flucht, Verlust der Väter durch Kriegsgefangenschaft und Tod an der Front, haben alles versucht, um dieses eigens erlebte Entsetzen nicht in die neu gegründete Familie zu projizieren.
Bis zum Konfirmandenunterricht gelang ihnen das auch recht gut.
Mein damaliger Konfi-Pfarrer hatte statt Bibelstunde die zwei Jahre Unterricht genutzt, um uns hauptsächlich mit dem Holocaust zu konfrontieren, u.a. haben wir in dieser Zeit etliche Filme über die Judenvernichtung gesehen. Viele Bilder dieser Dokumentationen haben bei mir ein sog. Schlüsselerlebnis ausgelöst. Ich fing an, überall in der Weltgeschichte nach ähnlichen Tragödien zu fahnden. Das Samenkorn „Zweifel an Religionen und Glauben“ fing an Wurzeln zu treiben. (War ganz sicher nicht im Sinne des Pfarrers, den ich übrigens bis heute sehr schätze. Und auch die seelsorgerische Arbeit ist unersätzlich).
Ich mache jetzt einen großen Sprung, von den siebziger Jahre in die achtziger Jahre, genauer gesagt in das Jahr 1989. Es reicht, wenn ich hier das Stichwort „ Platz des himmlischen Friedens“ nenne. Auch dieses Inferno an Schrecklichkeit liess und lässt mich zweifeln; in was für einer Welt lebe ich denn? Gerade in diese Zeit wurde meine Tochter geboren. Deshalb unbedingt die Anmerkung: ich bin nicht müde, nur sehr kritisch geworden; es gibt zum Glück auch sehr viel Positives!
Gregor Keuschnig nannte u.a. das verherrende Erdbeben von Lissabon am 1.11.1755 mit anschließendem Tsunami, 60 000 Menschen kamen in einer Nacht um; Voltaire hatte in „Candid“ Leibniz für seine „die beste aller möglichen Welten“ angegriffen. Auch hier berechtigte Zweifel.
Es gibt ja unendlich viele Beispiele bis in die heutige Zeit hinein, wie der Balkankrieg, Ruanda, Kambodscha/Rote Khmer, und so viel mehr, da reichen mir für das Aufzählen die „Laptop- Seiten“ nicht.
Und ich merke schon, ich darf meinen Brückenschlag zum obigen Schmidt-Zitat nicht vergessen.
Möchte sagen: auch meine Vorstellung von Gott ist mit der Zeit immer unschärfer geworden. Allein wegen dieser Aussage habe ich die Buchvorstellung „Ausser Dienst“ von Helmut Schmidt aufbewahrt.
Glockenschlag. Mein Schlußsatz: trotz meiner großen Zweifel an Religionen ( die in meinen Augen fast nur Unheil angerichtet haben), komischerweise kann ich mir ein Dorf ohne Kirche und Glockenschlag nicht vorstellen.
Aber das ist ein anderes Thema ...
@ GK persönlich: Ich würde mich freuen, wenn das aktuelle neue Blog-Thema zu allererst stehen bleiben würde. Durch den seitlichen Kommentarüberblick kann ich einerseits Diskussionen verfolgen, andererseits nehme ich auf der Twoday-Startseite neu hinzugekommene Beiträge wahr.
[EDIT: 2010-05-25 22:05]
Ich bin teilweise auf Ihren Kommentar hier eingegangen.
Ich glaube, dass es eine leichte Verdrehung der Geschichte ist, pauschal zu behaupten, die Religionen hätten »fast nur Unheil« angerichtet. Man muß einiges aus der Zeit heraus betrachten (bspw. den Fanatismus der Kreuzzüge oder der Eroberungen). Desweiteren sollte man bedenken, dass unsere säkular-kapitalistische Moderne à la longue viel mehr Unheil anrichtet: Sie wird – so stehen die Prognosen – die Erde wenn nicht ökologisch vernichten, so doch nachhaltig »prägen«. In dem Moment, als Gott »tot« war, begann die ökonomische und soziale Moderne – mit all ihren verwerfungen und Kriegen. Der entfesselte Mensch in seiner Hybris ohne Bezug oder Bindung zu einer ihm übergeordneten Macht handelt nicht wesentlich besser als der religiös fanatisierte des 17. Jahrhunderts (nur, dass wir diesmal auf der »richtigen« Seite stehen).
Das ist kein Plädoyer für die Rückkehr des Religiösen. Aber das Religionsbashing mache in Anbetracht der Katastrophen, die sich in den letzten einhundert Jahren ereignet haben und die sich noch ereignen werden, nicht mit.
[EDIT: 2010-05-27 08:20]
Vielen Dank für Ihre Antworten. Ihre Kritik zum Religionsbashing ist richtig.
Die Pauschalbehauptung „fast nur Unheil“ werde ich hiermit umgehend ändern in „ ... hat viel Unheil angerichtet...“. Ich hoffe, die neu formulierte Aussage kann als „Nicht-Bashing“ betrachtet werden.
Eine Ergänzung von meiner Seite aus: Naturkatastrophen, Kriege und Tod lösten und lösen Wellen von uneigennütziger Hilfe aus, die es in höchstem Maße zu würdigen gilt. Ohne menschlichen Zusammenhalt, der sich sehr häufig durch einen gemeinsamen Glauben stärkt, würden Menschen diese Kraftakte nicht bewältigen können.
Z.B. Ausland: die Tsunami-Katastrophe 2004 ..., Inland: das eingestürzte Stadtarchiv in Köln 3/09, das Jahrhunderthochwasser 2002, ... .
Trotz dieser Erkenntnisse bleiben Fragen offen.
Ich habe im letzten Jahr Natzweiler-Struthof im Elsass gesehen, und ich bin u.a. durch den „Kartoffelkeller“ gegangen ( selbst klaustrophobieresistente Personen überfällt da ein Fluchtverhalten): ja, und ob man/frau will oder nicht, es drängen sich Gedanken auf, wie, ich zitiere Sie „ ... ein Gott, der all die beschworenen Eigenschaften haben soll und dann so etwas „zuläßt“, ist eigentlich schwer zu vermitteln.“
Kann die Theodizee-Frage überhaupt beantwortet werden?
Im Jahr 2006 las ich von Martin von Arndt den fiktiven Brief: „Calvin an Miguel Serveto ‑Die Nacht vor seiner Hinrichtung“. Das war für mich der Anlass, mehr über Serveto’s Tod zu erfahren und ich bin so auf Stefan Zweig gestossen. Sein Buch „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“ provoziert, wie so manch andere Lektüre, den Gedanken: >Religion macht Angst<.
In „Die Zeit“ fand ich 2009 den Artikel „Feuer und Geist – Johannes Calvin“, der die Fragen nicht beantwortet, trotzdem ist er lesenswert: http://www.zeit.de/2009/27/A‑Calvin
Ich hoffe jetzt, Sie mit folgenden Links nicht zu „erschlagen“, habe sie einfacherhalber rausgesucht:
Leider habe ich keinen Hinweis auf den fiktiven Brief gefunden. Falls Sie das Buch nicht schon kennen: „ Der 40. Tag vor Sophienlund“.
Natzweiler-Struthof im Elsass
http://www.google.de/#hl=de&source=hp&q=kz+im+elsass&aq=f&aqi=g1&aql=&oq=&gs_rfai=&fp=9b9a5efee5bc75fe
Kartoffelkeller
http://www.struthof.fr/fileadmin/MEDIA/Pdf_Ressources/07_Mediatheque/telechargement/guide/Plaquette_visiteur_DE.pdf
Feuer und Geist – Johannes Calvin
http://www.zeit.de/2009/27/A‑Calvin
Stefan Zweig – Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt
[EDIT: 2010-05-27 21:57]