Ri­chard Da­vid Precht / Ha­rald Wel­zer: Die vier­te Ge­walt

Precht/Welzer: Die vierte Gewalt

Precht/Welzer:
Die vier­te Ge­walt

We­ni­ge Ta­ge vor der of­fi­zi­el­len Ver­öf­fent­li­chung des Bu­ches »Die vier­te Ge­walt« schlug den bei­den Au­toren für ihr Werk ei­ne gro­ße Por­ti­on Hä­me und Un­ver­ständ­nis ent­ge­gen. Grund wa­ren vor al­lem die für das Buch­mar­ke­ting vor­ge­nom­me­nen (und von den Leit­me­di­en be­reit­wil­lig ge­führ­ten) In­ter­views, in dem bei­de (oder auch nur ei­ner von bei­den) vor al­lem ih­re Po­si­ti­on zum Russ­land-Ukrai­ne-Krieg und den deut­schen Waf­fen­lie­fe­run­gen noch ein­mal poin­tiert – und teil­wei­se mit gro­ßer Ar­ro­ganz – vor­brach­ten. Precht und Wel­zer sind ge­gen die Lie­fe­rung von schwe­ren Waf­fen an die Ukrai­ne (und zwar ge­ne­rell – nicht nur von Deutsch­land), weil sie ei­ne Es­ka­la­ti­on fürch­ten. Russ­land sei, so das Cre­do, Atom­macht. Dass Atom­mäch­te in der Ver­gan­gen­heit durch­aus ih­re In­va­sio­nen auf­grund zu ho­her Ge­gen­wehr ab­ge­bro­chen ha­ben, schei­nen sie nicht zu wis­sen. Statt­des­sen schla­gen sie Ver­hand­lun­gen mit Pu­tin vor, ob­wohl des­sen Re­gime die Be­din­gun­gen hier­für mehr­fach er­klärt hat: Hier­zu wä­re die Ka­pi­tu­la­ti­on der Ukrai­ne not­wen­dig.

Mehr­fach ha­ben Precht wie auch Wel­zer (hier der Ein­fach­heit hal­ber mit der Sig­le »WP« ab­ge­kürzt) in »Of­fe­nen Brie­fen« zur Ein­stel­lung der mi­li­tä­ri­schen Un­ter­stüt­zung der Ukrai­ne auf­ge­ru­fen. Dies und das ag­gres­si­ve Mar­ke­ting führt zu ful­mi­nan­tem Wi­der­spruch ins­be­son­de­re in den so­ge­nann­ten so­zia­len Me­di­en (Twit­ter, Face­book). Dass die über­wäl­ti­gen­de Mehr­zahl der Kri­ti­ker das Buch bis da­hin nicht ge­le­sen hat­ten (bzw. es nicht le­sen konn­ten) spielt kei­ne Rol­le. Man schloss schlicht­weg vom In­halt der bis­he­ri­gen State­ments von WP auf das Buch.

Om­ni­prä­sen­te Dar­lings

Bei­de Au­toren sind seit vie­len Jah­ren pu­bli­zi­stisch om­ni­prä­sent und man kann sie als Dar­lings des Me­di­en­be­triebs be­zeich­nen. Ha­rald Wel­zer, Au­tor zahl­rei­cher Bü­cher ist ei­ne be­kann­te Fi­gur der sich pro­gres­siv ge­ben­den De­growth-Be­we­gung und gern­ge­se­he­ner Gast in den Me­di­en. Ri­chard Da­vid Prechts Kar­rie­re ver­dankt sich vor al­lem dem öf­fent­lich-recht­li­chen Sy­stem: es war die Li­te­ra­tur­kri­ti­ke­rin El­ke Hei­den­reich, die sein Buch »Wer bin ich – und wenn ja, wie vie­le?« der­art em­pha­tisch lob­te, dass es prak­tisch über Nacht zum Best­stel­ler wur­de. Zu­schau­er von po­pu­lär­wis­sen­schaft­li­chen Sen­dun­gen konn­ten von da an dem so­ge­nann­ten Phi­lo­so­phen Precht schwer ent­kom­men; sei­ne Bü­cher wur­den stets in ent­spre­chen­den Sen­dun­gen »vor­ge­stellt« (Eu­phe­mis­mus für be­wor­ben) und er­reich­ten dem­entspre­chend ho­he Ver­kaufs­zah­len. Tat­säch­lich hat Precht kei­nen ein­zi­gen phi­lo­so­phi­schen For­schungs­bei­trag pu­bli­ziert und spielt in der aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie kei­ne Rol­le.

Nun ha­ben al­so WP ein Buch ge­schrie­ben, in dem sie un­ter an­de­rem be­kla­gen, dass die so wich­tig ge­wor­de­nen Talk­show­run­den im deut­schen Fern­se­hen nicht pa­ri­tä­tisch nach Um­fra­ge­er­geb­nis­sen be­setzt sind. Weil sie her­aus­ge­fun­den ha­ben, dass im Früh­jahr bis zu 46% der be­frag­ten deut­schen Be­völ­ke­rung ge­gen Lie­fe­run­gen schwe­rer Waf­fen an die Ukrai­ne ge­we­sen sind, lei­ten die bei­den dar­aus ab, dass Dis­kur­se die­ses (schwan­ken­de) Stim­mungs­bild je­des Mal ab­zu­bil­den ha­ben. Man soll­te al­so kei­ne Mi­li­tär­ex­per­ten, Geo­po­li­tik­wis­sen­schaft­ler oder Russ­land­for­scher ein­la­den, son­dern, so wird sug­ge­riert, ver­mehrt wis­sens­fer­ne Ak­teu­re, de­ren ein­zi­ge Qua­li­fi­ka­ti­on dar­in be­steht, ei­ne be­stimm­te Mei­nungs­quo­te zu er­fül­len.

In­ter­es­sant ist da­bei, dass die­se Dis­kus­si­ons­run­den von WP wie ei­ne Art Ring­kampf be­trach­tet wer­den, in dem es nur »pro« oder »con­tra« gibt. Zwar be­kla­gen die bei­den im Lau­fe des Bu­ches ex­akt die­se bi­nä­re Aus­rich­tung und set­zen sich (et­was ob­skur for­mu­liert) für »mehr als fünf­zig Schat­tie­run­gen von Grau« (wer kommt da nicht auf ei­nen Buch­ti­tel?) ein, die »nicht an­ge­mes­sen re­prä­sen­tiert« sei­en – aber man sel­ber be­treibt das »Entweder-Oder«-Spiel sehr häu­fig.

Die neue Ver­schwö­rung: Jour­na­li­sten ja­gen die Po­li­tik

Zu Be­ginn wird ge­gen die Hy­bris der »vier­ten Ge­walt« an­ge­schrie­ben – durch­aus zu­recht, denn die Fra­ge stellt sich, wer die Kon­trol­leu­re kon­trol­lie­ren soll. Der öf­fent­lich-recht­li­che Rund­funk wird mal für sei­ne Po­li­tik­nä­he kri­ti­siert, dann wie­der ge­lobt als Hort der Se­rio­si­tät. Kurz er­schei­nen die »Di­rekt­me­di­en« (ge­meint sind Twit­ter, Face­book, et. al.) als »Fünf­te Ge­walt«, aber das wird rasch ver­wor­fen. Ins­be­son­de­re Twit­ter ist für WP nicht nur nicht sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig, son­dern die Wur­zel al­len Übels, weil hier die In­spi­ra­ti­on der Jour­na­li­sten für ih­re Po­li­tik­ma­ni­pu­la­ti­on ih­ren Ur­sprung hat.

Die Haupt­the­se des Bu­ches ist aber ei­ne an­de­re. Das gän­gi­ge Nar­ra­tiv, dass die Me­di­en in­fil­triert sei­en von der Po­li­tik und de­ren Agen­da ver­fol­gen wür­den, wird hier ab­ge­lehnt. »Rea­li­sti­scher ist«, so heißt es, »dass po­li­ti­sche Wil­lens­bil­dung und po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen viel­fach durch ei­nen an­ti­zi­pie­ren­den Kon­for­mis­mus auf das zu er­war­ten­de Me­di­en­echo ge­prägt sind.« Die Jour­na­li­sten (oder, er­wei­tert be­trach­tet, Me­di­en­ma­cher) hät­ten, so die zen­tra­le Aus­sa­ge die­ses Bu­ches, das Agen­da­set­ting und da­mit die Kon­trol­le über die Po­li­tik über­nom­men. Sie be­stimm­ten, wel­che The­men wie be­han­delt wer­den.

In Wel­zers und Prechts Ge­dan­ken­kos­mos sind die Jour­na­li­sten der Leit­me­di­en die Strip­pen­zie­her der Po­li­tik. Dies be­zieht sich auch auf so­zio­lo­gi­sche oder ge­sell­schaft­li­che Be­fun­de. So exi­stiert bei­spiels­wei­se die Dia­gno­se der »ge­spal­te­nen Ge­sell­schaft« für die bei­den Au­toren nur als Me­di­en­phä­no­men, her­vor­ge­ru­fen durch die Be­schrei­bung von Jour­na­li­sten. So löst ei­ne Ver­schwö­rung ei­ne an­de­re ab.

Die vol­le Kon­zen­tra­ti­on im Buch gilt al­ler­dings dem ak­tu­el­len Russ­land-Ukrai­ne-Krieg. Man nimmt Ro­bin Alex­an­ders Buch­ti­tel »Die Ge­trie­be­nen« (es ging um die Flücht­lings­kri­se) wört­lich: Ge­trie­be­ne sei­en die Po­li­ti­ker, die sich von we­ni­gen Jour­na­li­sten in Rich­tung Waf­fen­lie­fe­run­gen und be­din­gungs­lo­se Un­ter­stüt­zung der Ukrai­ne trei­ben las­sen wür­den. Hier­für wird der Be­griff »Me­dio­kra­tie« ein­ge­bracht. Das geht so weit, dass die Par­tei­en Grund­satz­po­si­tio­nen auf­ge­ben wür­den, um den jour­na­li­sti­schen For­de­run­gen nach­zu­kom­men. In­di­rekt ist da­mit ge­sagt, dass Jour­na­li­sten und Ex­per­ten Pro­pa­gan­da­ma­schi­nen der ukrai­ni­schen Sei­te sei­en und ver­such­ten, die Po­li­tik dem­entspre­chend zu len­ken. Bei Ge­fal­len wer­den die Po­li­ti­ker dem po­ten­ti­el­len Wäh­ler po­si­tiv prä­sen­tiert.

Ma­ni­pu­la­tio­nen

Um dies zu be­wei­sen wird bis­wei­len ma­ni­pu­la­tiv vor­ge­gan­gen. So will man die Aus­sa­ge, dass Russ­land in der Welt »iso­liert« da­ste­he, da­hin­ge­hend wi­der­le­gen, dass bei der Ab­stim­mung in der UN-Ge­ne­ral­ver­samm­lung am 02. März 2022 »ins­ge­samt die Hälf­te der Welt­be­völ­ke­rung« »nicht zu­ge­stimmt oder sich ent­hal­ten« ha­be. Ne­ben ei­ni­gen afri­ka­ni­schen Staa­ten sind dies na­tür­lich vor al­lem Chi­na und In­di­en. Hier wird ei­ne Ent­hal­tungs­ent­schei­dung ei­ner Re­gie­rung bei­spiels­wei­se aus geo­stra­te­gi­scher Op­por­tu­ni­tät (Roh­stoff­lie­fe­run­gen) mit Zu­stim­mung zur In­va­si­on gleich­ge­setzt.

Groß ist das Froh­locken der Of­fe­nen-Brie­fe-Schrei­ber PW über ei­nen Ar­ti­kel der »New York Times« (NYT) vom 19. Mai 2022, der von der »Ber­li­ner Zei­tung« (BZ) am näch­sten Tag auf­ge­grif­fen und kom­men­tiert wird. Im Ar­ti­kel wird zu be­den­ken ge­ge­ben, dass die USA ih­re mi­li­tä­ri­sche Hil­fen ei­nem Ziel un­ter­ord­nen und ge­ge­be­nen­falls dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Gren­zen der Un­ter­stüt­zung auf­zei­gen müss­te. Ein »Sieg« sei il­lu­so­risch, bzw., so steht es im Ori­gi­nal-Text, müss­te de­fi­niert wer­den. Ob­wohl es zu Be­ginn heißt, dass die­ser Mei­nungs­ar­ti­kel vom »Edi­to­ri­al Board« der NYT stammt, sug­ge­riert der Be­richt­erstat­ter der BZ dies als neue Blatt­mei­nung, die im Wi­der­spruch zu den bis­he­ri­gen Ar­ti­keln der Zei­tung stün­de.

WP über­neh­men die­se Sicht und sug­ge­rie­ren, dass mit der »New York Times« nun auch die Re­gie­rung Bi­den ei­nen po­li­ti­schen Schwenk voll­zo­gen hät­te, der in den deut­schen Leit­me­di­en nicht oder nur un­zu­rei­chend auf­ge­nom­men wor­den sei. Das passt na­tür­lich in die Ver­schwö­rungs­agen­da, dass Jour­na­li­sten Takt­ge­ber der Po­li­tik sei­en. Zu­mal, und das steht wört­lich im Buch, die Au­toren des Ar­ti­kels die Her­aus­ge­ber der »New York Times« sei­en.

Tat­säch­lich wird im Ori­gi­nal (wie auch in der BZ) das »Edi­to­ri­al Board« als Ver­fas­ser ge­nannt. Da­bei han­delt sich nach ei­ge­nen An­ga­ben »um ei­ne Grup­pe von Mei­nungs­jour­na­li­sten, de­ren An­sich­ten auf Fach­wis­sen, For­schung, De­bat­ten und be­stimm­te lang­jäh­ri­ge Wer­te ba­sie­ren« (Über­set­zung G. K.). Sie schrei­ben, wie es heißt, un­ab­hän­gig von den Kol­le­gen im Nach­rich­ten­zen­trum. Sie sind nicht die Her­aus­ge­ber. In­ner­halb des Blat­tes ver­kör­pern sie eben das, was WP doch ei­gent­lich so hoch hal­ten: Mei­nungs­plu­ra­lis­mus.

Es fällt im Ver­lauf des Bu­ches im­mer schwe­rer, an Ver­se­hen oder Aus­rut­scher zu glau­ben. Der Gip­fel der Ten­denz­haf­tig­keit zeigt sich, als WP den Druck von Jour­na­li­sten auf Re­gie­rungs­po­li­ti­ker be­kla­gen, öf­fent­lich für den Sieg der Ukrai­ne ge­gen Russ­land ein­zu­tre­ten. Die Pas­sa­ge im Buch lau­tet nun: »Im Ju­ni 2022 for­der­ten die Kom­men­ta­to­ren in vie­len Leit­me­di­en Po­li­ti­ker da­zu auf, den zu die­sem Zeit­punkt be­reits äu­ßerst frag­wür­di­gen Satz zu sa­gen: ‘Die Ukrai­ne wird die­sen Krieg ge­win­nen.’ « Als Be­leg wird hier Jür­gen Kau­bes Bei­trag in der FAZ über die Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin vor­ge­bracht. In Wirk­lich­keit wünscht sich Kau­be von Lam­brecht die Aus­sa­ge, dass die Ukrai­ne den Krieg ge­win­nen sol­le bzw. müs­se. Man kann nun in der Tat die­se Form des Be­kennt­nis­jour­na­lis­mus kri­ti­sie­ren, aber man soll­te es red­lich tun. Es ist ein gro­ßer Un­ter­schied den Sieg der Ukrai­ne als Wunsch oder als Fak­tum zu äu­ßern. Letz­te­res stand nie zur De­bat­te. Man fragt sich, ob hier Tat­be­stand der Ir­re­füh­rung oder Lü­ge er­füllt ist. In je­dem Fall rech­net man mit der Dumm­heit der Re­zi­pi­en­ten, denn die­se bräuch­ten ein­fach nur den Text von Kau­be zu le­sen.

Nichts Neu­es

Da­zwi­schen gibt es durch­aus auch ein­mal ideo­lo­gie­freie Me­di­en­kri­tik, wo­bei vie­les längst fest­ge­stellt, be­klagt, kri­ti­siert und/oder miss­bil­ligt und Ge­gen­stand di­ver­ser Auf­sät­ze und Bü­cher wur­de. Da geht es um die An­pas­sung von Leit­me­di­en an die so­zia­len Me­di­en, der sich im­mer stär­ker her­aus­schä­len­de Sen­sa­tio­na­lis­mus, der zu­wei­len auch ba­na­le Be­ge­ben­heit zu gro­ßer Be­deu­tung auf­pumpt, der zu­neh­men­de Ak­ti­vis­mus im Jour­na­lis­mus, die feh­len­de »In­te­gra­ti­on« von Wi­der­spruch im be­rich­te­ten Ge­samt­bild oder die »He­li­ko­pter­per­spek­ti­ve« von Jour­na­li­sten, die sich mehr um die Be­find­lich­kei­ten der Po­li­ti­ker küm­mert als um die Bür­ger, die die Fol­gen der po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen tra­gen müs­sen. Es wird ge­gen den »ana­ly­tisch-frucht­lo­sen Hal­tungs­jour­na­lis­mus« ge­wet­tert (au­ßer im Kli­ma­wan­del­jour­na­lis­mus – der wird ge­lobt) und na­tür­lich fällt das Wort »Eli­te« und der stil­le Kon­sens in­ner­halb der­sel­ben. WP at­te­stie­ren ei­ne »Ga­la-Pu­bli­zi­stik« mit »ge­ho­be­ner Pa­pa­raz­zi-Hal­tung« und we­ni­ge Zei­len spä­ter wird der Duk­tus der Schrei­ben­den als Volks­päd­ago­gen kri­ti­siert. Jour­na­lis­mus zeich­ne sich im­mer mehr durch »Über­per­so­na­li­sie­rung und Über­psy­cho­lo­gi­sie­rung« aus. Be­klagt wird die De­kon­tex­tua­li­sie­rung von Zi­ta­ten, die zu Schlag­zei­len mit Skan­dal­po­ten­ti­al um­ge­bo­gen wer­den. Ge­nau die­ses Spiel wird aber sel­ber be­trie­ben, wie oben an­ge­deu­tet wur­de. Eben­falls nicht neu sind die Ein­las­sun­gen zu Zei­tungs­ster­ben und Me­di­en­wan­del oder die Ex­kur­se über Grup­pen­dy­na­mik oder Her­den­ver­hal­ten.

Und so rich­tet die Kla­ge über den »mo­ra­li­schen Ge­richts­hof über den Wol­ken« die Ver­fas­ser sel­ber. Sie wol­len die Ur­sa­che für den Krieg, der im­pe­ria­le Ge­stus von Pu­tin ge­gen­über der Ukrai­ne, nicht se­hen, ob­wohl die Re­den des rus­si­schen Prä­si­den­ten al­le auf dem Tisch lie­gen. Sie wol­len nicht er­ken­nen, dass Ver­hand­lun­gen mit Russ­land nur dann er­folg­reich wä­ren, wenn die Ukrai­ne ih­re ter­ri­to­ria­le In­te­gri­tät an Pu­tin de­le­gie­ren und ka­pi­tu­lie­ren wür­de. Die Prä­ze­denz­fäl­le hier­zu aus dem Jahr 2014 und die wei­te­re Ent­wick­lung da­nach kom­men bei ih­nen nicht vor.

Wel­zer und Precht bil­den zu­sam­men mit dem Po­li­to­lo­gen Jo­han­nes Var­wick, der Lin­ken-Po­li­ti­ke­rin Sahra Wa­gen­knecht, der Schrift­stel­le­rin Ju­li Zeh, dem ehe­ma­li­gen Ge­ne­ral Erich Vad (einst Be­ra­ter der Re­gie­rung Mer­kel) und dem SPD-Pro­vinz­po­li­ti­ker Ralf Ste­g­ner die Speer­spit­ze der in deut­schen Dis­kurs­run­den ein­ge­setz­ten Dau­er­skep­ti­ker, was die mi­li­tä­ri­sche Un­ter­stüt­zung der Ukrai­ne an­geht (an­de­re Prot­ago­ni­sten sind Ali­ce Schwar­zer, Mar­got Kä­ß­mann, Alex­an­der Klu­ge [er wird von WP zum »Den­ker des Krie­ges« er­nannt], Ran­ga Yo­geshwar oder Klaus Ernst – um nur ei­ni­ge zu nen­nen). Ir­gend­wo ist im­mer ei­ner von ih­nen zu Gast, wenn es dar­um geht, die ak­tu­el­le La­ge zu kom­men­tie­ren. Da­bei müs­sen sie nicht be­fürch­ten, mit ih­ren in der Ver­gan­gen­heit nicht ein­ge­trof­fe­nen La­ge­be­ur­tei­lun­gen kon­fron­tiert zu wer­den. Au­ßer­dem ist die Dis­kus­si­ons­füh­rung meist auf State­ments ein­ge­rich­tet; die di­rek­te Kon­fron­ta­ti­on mit Ge­gen­ar­gu­men­ten bleibt zu­meist aus, weil die Mo­de­ra­to­ren ih­ren Ab­lauf­plan für wich­ti­ger hal­ten als den Aus­tausch un­ter­ein­an­der.

»Lö­sungs­ori­en­tier­ter Jour­na­lis­mus«

Die be­haup­te­ten De­fi­zi­te in der Teil­ha­be der Ver­hand­lungs­a­po­lo­ge­ten im öf­fent­li­chen Raum hal­ten ei­ner ge­nau­en Be­trach­tung nicht stand. Ne­ben den abend­li­chen Fern­seh-Dis­kus­sio­nen kom­men sie zum Bei­spiel re­gel­mä­ssig in mor­gend­li­chen Ein­zel­in­ter­views im Ra­dio zu Wort. Der be­reits er­wähn­te Po­li­to­lo­ge Jo­han­nes Var­wick hat ei­nen ei­ge­nen You­tube-Ka­nal ein­ge­rich­tet, auf dem al­le sei­ne State­ments und Dis­kus­si­ons­bei­trä­ge ab­ge­spei­chert sind. In vier Mo­na­ten fin­den sich 15 hin­ter­leg­te Bei­trä­ge (Talk­shows und Ein­zel­ge­sprä­che). Da­zu kom­men noch acht Links zu Ver­an­stal­tun­gen auf di­ver­sen Po­di­en oder Kon­gres­sen. Ralf Ste­g­ner kommt auf ein gu­tes Dut­zend Ein­la­dun­gen – so­wohl in öf­fent­lich-recht­li­chen Sen­dern wie auch in »Bild«-TV. Sei­ne »Ex­per­ti­se« ver­harrt da­bei seit Mo­na­ten auf dem Ni­veau fort­ge­setz­ter Ah­nungs­lo­sig­keit, die in um­ge­kehrt pro­por­tio­na­lem Ver­hält­nis zu sei­ner rhe­to­ri­schen Ag­gres­si­vi­tät steht. Da­bei fällt auf, dass die Vor­her­sa­ge­fä­hig­keit die­ser Prot­ago­ni­sten eher über­sicht­lich ist; man hät­te auch ei­nen Wür­fel rol­len las­sen kön­nen – ver­mut­lich mit bes­se­ren Re­sul­ta­ten.

Die­se Ein­wän­de sol­len die zum Teil in­fan­ti­le und tri­via­le Be­richts- und Dis­kus­si­ons­kul­tur in deut­schen Me­di­en nicht leug­nen. Die im­mer glei­chen Fra­gen, be­ant­wor­tet von den im­mer glei­chen Per­so­nen mit den im­mer glei­chen Flos­keln, zie­lend auf die ra­sche Schlag­zei­le, den prä­gnan­ten Be­griff, Es ist das gro­ße Pro­blem ei­nes Me­di­en­be­triebs, der über Jahr­zehn­te Re­zi­pi­en­ten nicht for­dern woll­te, son­dern auf bil­li­ge Af­fek­te und Af­fir­ma­ti­on setz­te – und wei­ter setzt. Lei­der gibt es in Deutsch­land kei­ne re­le­van­te, kennt­nis­rei­che und durch­set­zungs­star­ke Me­di­en­kri­tik, die ver­meint­li­che Fak­ten auf­be­rei­tet. Zu­meist be­schäf­tigt man sich mit den In­vek­ti­ven und Lä­cher­lich­kei­ten der »Bild«-Zeitung oder er­geht sich – wie die Dis­kus­si­on um »Die vier­te Ge­walt« zeigt – in Me­ta­dis­kus­sio­nen. Der öf­fent­lich-recht­li­che Rund­funk wird so­weit es geht ge­schont; die Ver­wer­fun­gen dort wer­den zu­ge­klei­stert, weil es oh­ne sie noch schlim­mer aus­se­hen wür­de. Man be­dient nur sei­ne Echo­kam­mer – und wer weiß, wo­hin die Kar­rie­re noch ein­mal geht.

Am En­de plä­die­ren Precht und Wel­zer für ei­nen »lö­sungs­ori­en­tier­ten Jour­na­lis­mus« – so, als hät­te es die Aus­füh­run­gen zu­vor, in dem ex­akt dies Jour­na­li­sten vor­ge­wor­fen wur­de, nicht ge­ge­ben. »Pres­se und Rund­funk sol­len die Ge­plag­ten um­sor­gen und die Um­sorg­ten pla­gen« – so wird vier Mal der bri­ti­sche Jour­na­list Da­vid Rand­all zi­tiert. Es ist der Wunsch nach ei­nem pa­ter­na­li­sti­schen Jour­na­lis­mus, der nicht nur be­rich­tet, son­dern auch gleich fer­ti­ge Re­zep­te lie­fert. Sie kom­men der Ent­mün­di­gung des Re­zi­pi­en­ten gleich. Schließ­lich wer­den noch die Pro­jek­te von Wel­zer ge­lobt und – das ist ver­mut­lich ernst ge­meint – ein »Eu­ro­pa­funk«, ei­ne Art eu­ro­päi­sches öf­fent­lich-recht­li­ches Ra­dio- und Fern­seh­sy­stem vor­ge­schla­gen. Da kann sich der Le­ser schon die neue, tau­sen­de Mit­ar­bei­ter um­fas­sen­de Be­hör­de vor­stel­len; ver­mut­lich eher ein Alp­traum.

Es ist ein gro­ßes Miss­ver­ständ­nis, »Die vier­te Ge­walt« als me­di­en­kri­ti­sches Buch zu be­zeich­nen. Das ist es nicht. An­son­sten hät­te man an­de­re Fel­der be­ackern kön­nen, wie et­wa die Flücht­lings­kri­se 2015 oder, noch er­gie­bi­ger, die Be­richt­erstat­tung wäh­rend der Pan­de­mie. Bei­des klingt kurz an, aber dar­um geht es nicht. WP fürch­ten wohl, bei die­sen The­men in den rech­ten Stru­del zu ge­ra­ten. Hier­von set­zen sie sich fast zwang­haft ab; die NZZ wird so­gar als »klei­ne, rech­te Ni­sche« im zeit­ge­nös­si­schen Jour­na­lis­mus ab­ge­tan. Wel­zer und Precht ha­ben mit hei­ßer Na­del ein The­sen­buch ge­strickt, wel­ches sich als Me­di­en­kri­tik tarnt. Die­ser er­weist man ei­nen Bä­ren­dienst da­mit. Sie spie­len vir­tu­os auf der Kla­via­tur des von ih­nen so ge­brannt­mark­ten Er­re­gungs­jour­na­lis­mus. Ca­mou­fliert wird dies mit ei­nem pa­the­tisch for­mu­lier­ten Be­kennt­nis zur De­mo­kra­tie – so als sei­en al­le, die wi­der­spre­chen An­ti-De­mo­kra­ten und nur Wel­zer und Precht die wacke­ren Ver­tei­di­ger. Das ist, soll­te es ernst ge­meint sein, ein be­son­ders schwe­rer Fall von Grö­ßen­wahn.

Hin­weis: Die Zi­ta­te ent­stam­men den mir vom Gold­mann-Ver­lag am 23.09.2022 zu­ge­schick­ten pdf-Do­ku­ment.

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  1. Zu der Op Ed der New York Times:
    da liegt Precht bzw. lie­gen Precht / Wel­zer of­fen­bar falsch, dass es sich um die Her­aus­ge­ber der NYT han­de­le, aber ih­re Aus­sa­ge, dass ein sol­cher Kom­men­tar, sie sa­gen: von ei­nem der Chefs deut­scher Qua­li­täts­zei­tun­gen – man kann bes­ser von Leit­ar­ti­kel re­den – nicht denk­bar ist und auch nicht ge­schrie­ben wur­de mei­nes Wis­sens, wird da­durch nicht falsch.

    Nun kann man zu Recht ein­wen­den, dass es auch et­was an­de­res ist, den Op Ed-Stand­punkt die­ses Bei­spiels aus ame­ri­ka­ni­scher Sicht als in­nen­po­li­ti­sche Kri­tik im – an­geb­li­chen – In­ter­es­se west­li­cher Part­ner schrei­ben, als dies aus deut­scher Sicht zu tun. Trotz­dem fällt auf, dass die deut­sche Re­gie­rung in­nen­po­li­tisch durch­aus in vie­len Leit­ar­ti­keln ge­nau­so kri­ti­siert wur­de, bloß mit ent­ge­gen ge­setz­ter Stoß­rich­tung: dass sie zu lang­sam und we­nig, zu un­ent­schlos­sen ma­te­ri­ell klar im Krieg Par­tei er­grif­fe.

    Als näch­stes kann man fra­gen, ob und war­um es denn ei­ner sol­chen dem nyt-Kom­men­tar ähn­li­chen Mei­nungs­stücks be­durft hät­te, und wenn ja, wes­halb.

    Es könn­te sein, dass deut­sche Me­di­en sich der Sta­bi­li­tät der deut­schen Ukrai­ne-Un­ter­stüt­zung in der Be­völ­ke­rung so we­nig si­cher sind, dass sie lie­ber gar nicht aus­pro­bie­ren, ob ein ein­fluss­rei­cher Kom­men­tar sie ins Rut­schen brin­gen könn­te. Das wä­re zwar gut ge­meint, aber nicht gut ge­macht. Bes­ser wä­re, die Ar­gu­men­te auf den Tisch zu le­gen und in ei­ne of­fe­ne Dis­kus­si­on zu ge­hen.
    Das wird Gast­au­toren/-in­nen über­las­sen, de­ren Bei­trä­gen Twit­ter dann re­gel­mä­ßig schon für ge­fähr­lich ge­nug für die deut­sche Öf­fent­lich­keit hält. qed.

  2. War­um soll­te denn ein Kom­men­tar wie vom »Edi­to­ri­al Board« von ei­nem Chef ei­nes deut­schen Leit­me­di­ums ge­schrie­ben wer­den? Aus Grün­den der Aus­ge­wo­gen­heit et­wa? Tat­säch­lich gab es ja Tex­te/Vi­de­os von Ste­fan Aust, der in der all­ge­mei­nen Waf­fen­lie­fe­rungs­dy­na­mik ei­nen Brems­klotz ge­setzt hat bzw. be­reits auf die Zeit nach dem Krieg rekurriert(e). Er sieht üb­ri­gens auch, dass Russ­land nicht al­lei­ne steht und warnt – m. E. zu recht – vor ei­nem »an­ti­west­li­chen Block«, aus dem am En­de dann Chi­na als Ge­win­ner her­vor­geht.

    Der Ar­ti­kel aus der NYT ist des­halb in­ter­es­sant, weil er eben nicht die Waf­fen­lie­fe­run­gen und die mi­li­tä­ri­sche Un­ter­stüt­zung der USA ge­ne­rell in Zwei­fel zieht, son­dern statt­des­sen ei­ne min­de­stens mit­tel­fri­sti­ge Per­spek­ti­ve der USA-Re­gie­rung an­mahnt und fragt, wel­che Zie­le man an­strebt (bspw. Russ­land per­ma­nent in ei­nen Kon­flikt zu hal­ten, Pu­tin als Kriegs­ver­bre­cher zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen oder die Aus­wei­tung des Krie­ges auf an­de­re Re­gio­nen zu ver­hin­dern).

    WP ge­wich­ten den Text an­ders (über den »Feh­ler«, die Au­toren des Tex­tes als Her­aus­ge­ber zu be­zeich­nen, bin ich ja schon ein­ge­gan­gen). Der Satz im Buch lau­tet:

    »Auf­fäl­lig ist auch, dass die­se Kon­for­mi­tät im deut­schen Jour­na­lis­mus stär­ker ist als et­wa in Frank­reich und in vie­len an­de­ren eu­ro­päi­schen Län­dern, ja, so­gar ge­schlos­se­ner als in den USA, wo die Her­aus­ge­ber der New York Times, der ein­fluss­reich­sten Zei­tung der Welt, dem Wei­ßen Haus vor­war­fen, mit sei­nem mi­li­tä­ri­schen En­ga­ge­ment den ‘lang­fri­sti­gen Frie­den und die Si­cher­heit auf dem eu­ro­päi­schen Kon­ti­nent’ zu ge­fähr­den.«

    Schon der Ein­schub »ein­fluss­reich­ste Zei­tung der Welt« spritzt sub­ku­tan die The­se in die Adern des Le­sers: dass die NYT Ein­fluss auf die Welt­po­li­tik ha­be.

    Die Schluß­fol­ge­rung von WP ist aber min­de­stens un­ge­nau. Die Fra­ge­stel­lun­gen des »Edi­tio­ri­al Board« hat­te ich schon skiz­ziert. Die Stel­le im Ori­gi­nal lau­tet:

    »Wi­t­hout cla­ri­ty in the­se que­sti­ons, the White Hou­se not on­ly risks lo­sing Ame­ri­cans’ in­te­rest in sup­port­ing Ukrai­ni­ans – who con­ti­n­ue to suf­fer the loss of li­ves and li­veli­hoods – but al­so jeo­par­di­zes long-term peace and se­cu­ri­ty on the Eu­ro­pean con­ti­nent.«

    Tat­säch­lich müs­sen sol­che Hil­fen, so­fern sie nicht im er­sten Af­fekt pas­sie­ren, wohl über­legt und mit ei­ner Stra­te­gie ver­se­hen sein. Wir spre­chen über Mit­te Mai – der Krieg war fast drei Mo­na­te alt und die Rus­sen hat­ten sich aus Kiew und Um­ge­bung be­reits zu­rück­ge­zo­gen (But­cha war schon be­kannt). Die In­va­si­ons­trup­pen for­mier­ten sich um; der Don­bas bil­de­te nun den Schwer­punkt. Man ging von ei­nem Ab­nut­zungs­krieg aus. An Ver­hand­lun­gen oh­ne ter­ri­to­ria­le Zu­ge­ständ­nis­se an Russ­land war nicht zu den­ken – das hät­te auch die bis­he­ri­gen Hil­fen kon­ter­ka­riert. Die im Ar­ti­kel auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen sind al­so be­rech­tigt, aber sie stel­len die Un­ter­stüt­zung nicht per se in­fra­ge.

    In deut­schen Talk­shows tin­gel­ten zu die­sem Zeit­punkt be­reits Leu­te wie Var­wick, Vad, Wa­gen­knecht und Ste­g­ner. Ins­be­son­de­re Var­wick ha­be ich seit dem 25.2. wahr­ge­nom­men; er emp­fahl be­reits nach dem zwei­ten Tag ei­ne Ka­pi­tu­la­ti­on der Ukrai­ne. Da­von ist er streng ge­nom­men bis heu­te nicht ab­ge­rückt – ob­wohl all sei­ne Vor­be­hal­te ge­gen Waf­fen­lie­fe­run­gen (nied­ri­ger Aus­bil­dungs­stan­dard der Sol­da­ten; Trans­port­we­ge, die zu Ziel­schei­ben wer­den könn­ten; Lo­gi­stik) ver­pufft sind. Was bleibt ist sei­ne Angst vor er Es­ka­la­ti­on durch Nu­kle­ar­waf­fen. Au­ßer ei­ne ein­sei­ti­ge Ein­stel­lung der Kampf­hand­lun­gen hat er nichts zu bie­ten; Ar­gu­men­ten geht er aus dem Weg.

    Es ist schlicht­weg ein Ge­rücht, das in deut­schen Me­di­en die Vor­be­hal­te ge­gen mi­li­tä­ri­sche (und auch wirt­schaft­li­che) Un­ter­stüt­zung der Ukrai­ne nicht statt­ge­fun­den ha­ben. Ich ha­be meh­re­re Tex­te bspw. vom Mi­li­tär­hi­sto­ri­ker Mar­tin von Cre­veld ge­le­sen, der dü­ste­re Vor­her­sa­gen ab­gab. Aust ha­be ich schon er­wähnt. Rein­hard Mer­kel kam mehr­fach zu Wort; die vie­len Dis­kus­sio­nen um die »Of­fe­nen Brie­fe«...

    WP su­chen sich für ih­re Me­di­en­kri­tik aus­ge­rech­net die Ukrai­ne-Be­richt­erstat­tung aus. Das fin­de ich in­ter­es­sant. Die Pan­de­mie hät­te bei­spiels­wei­se viel grö­sse­re An­griffs­flä­chen ge­bo­ten (z. B. wur­de in den ge­fühlt hun­der­ten Talk­shows mei­nes Wis­sens nie die Mass­nah­men em­pi­risch be­legt bzw. dies »ge­for­dert« – man über­nahm blind die Nar­ra­ti­ve der Lau­ter­bachs und Dro­stens und um zu zei­gen, dass es noch schlim­mer geht, wur­den die No-Co­vid-Ak­ti­vi­sten noch ein­ge­bun­den). War­um man dies macht – dar­über will ich lie­ber nicht spe­ku­lie­ren.

  3. Ist ein biss­chen viel, wenn man die Richt­li­ni­en der Po­li­tik vor­ge­ben möch­te, und zu­gleich ei­ne Sy­stem­kri­tik un­ter­nimmt. Das sind doch zwei deut­lich ver­schie­de­ne Ebe­nen. Ich kom­me WP so weit ent­ge­gen, dass die bei­den erst jüngst ge­merkt ha­ben, dass der Zeit­geist ih­rer ei­ge­nen Mei­nung ent­ge­gen weht; das ist im­mer är­ger­lich, wenn es ei­ne Zeit lang ganz gut lief. Wir al­le has­sen »ko­gni­ti­ve Dis­so­nanz«, die sich als nicht mehr­heits­fä­hi­ge Mei­nung be­merk­bar macht. Ei­ni­ge Punk­te von WP wür­de ich un­ter­schrei­ben: der Kon­for­mis­mus ist ein Re­sul­tat der Kom­mu­ni­ka­ti­on in­ner­halb der öf­fent­lich­keits-er­zeu­gen­den Klas­se: man be­rich­tet und kom­men­tiert im Hin­blick auf die Mei­nung und die Kennt­nis­se der »vie­len An­de­ren«. Twit­ter ist Gift. Ich weiß, was die an­de­ren wis­sen und schrei­ben, al­so schrei­be ich ge­ra­de mal so viel an­ders, dass ich noch ein »Pro­dukt« ha­be, und nicht völ­lig im Grau des Main­stream ver­schwin­de. Die pa­ra­no­ide­ste In­ter­pre­ta­ti­on (Au­ßen­an­sicht) für die­se An­pas­sungs­lei­stung ist dann die Ver­schwö­rung: die Leit­me­di­en sind ma­ni­pu­la­tiv und in­ter­es­sen­ge­lenkt. Aber wo­her kom­men die Be­feh­le?!?! – Es ist Mo­de ge­wor­den, ei­ne fal­sche Po­li­tik zu kri­ti­sie­ren oh­ne zu sa­gen, was rich­tig wä­re. Das fing ja schon bei den ge­for­der­ten Ver­hand­lun­gen an. Man for­der­te Ver­hand­lun­gen, woll­te aber kei­ne Po­si­ti­on an­ge­ben, und igno­rier­te die Di­ver­si­tät der Teil­neh­mer. Das war der Bann­kreis des Zeit­ge­sche­hens. Es gab nur zwei La­ger, und ei­ne Mei­nung: Die Ukrai­ne ist der We­sten, der We­sten ist Deutsch­land, Deutsch­land ist Eu­ro­pa, und die EU ist die NATO, falls je­mand Zwei­fel hat. Selbst die For­de­rung der NYT ha­be ich schon im Fe­bru­ar for­mu­liert: Un­ter­stüt­zung fo­re­ver, und wha­te­ver it ta­kes?! – Ja, selbst­ver­ständ­lich! Oh­ne ge­mein­sa­me Po­si­ti­on ist die Ver­wei­ge­rung der Ver­hand­lung die op­ti­ma­le Lö­sung! Und muss man ei­gent­lich ver­han­deln, wenn man gar kein Kriegs­teil­neh­mer ist?! In der Ein­falt liegt gro­ße Kraft, wür­den die Sa­mu­rai sa­gen. – Von der in­ter­na­tio­na­len Po­li­tik im We­sten kriegst du schon lan­ge nicht mehr als den klein­sten ba­nal­sten Nen­ner, und das ist ei­ne bit­te­re Pil­le für WP. Die Mehr­heits­mei­nung ist gar kei­ne Mei­nung, das wür­de ich be­strei­ten. Es sind Ge­mein­plät­ze und über­trie­be­ne Hoff­nun­gen. Der Grö­ßen­wahn kommt nur von der Un­ge­duld. Man will nicht mehr zu­schau­en.

  4. Ge­mein­plät­ze sind meist un­be­frag­te, vor­aus­setz­ung­lo­se Aus­sa­gen. Im Ukrai­ne-Kon­flikt pral­len zwei auf­ein­an­der: Zum ei­nen der Ge­mein­platz, dass sich im­pe­ria­li­sti­sche Ag­gres­si­on im zwi­schen­staat­li­chen Be­rei­chen nicht loh­nen darf. Zum an­de­ren das Nar­ra­tiv des Frie­dens – um je­den Preis. Die »Mehr­heits­mei­nung« neigt dem er­sten Ge­mein­platz zu. Da­bei wird kaum be­fragt, dass da­mit die »Do­mi­no-Theo­rie«, die einst die USA in Viet­nam ak­tiv wer­den ließ, neu auf­ge­legt wird. Da­mals glaub­te man, dass, wenn Süd­viet­nam kom­mu­ni­stisch wird, ganz Asi­en er­obert wird (was teil­wei­se ge­schah – sie­he La­os und Kam­bo­dscha [falls man Pol Pot als Kom­mu­ni­sten ein­schätzt]). Jetzt dro­hen nach der De­sta­bi­li­sie­rung von Mol­dau und Ge­or­gi­en mit der In­va­si­on in der Ukrai­ne ir­gend­wann die näch­sten Ag­gres­sio­nen.

    Das an­de­re Nar­ra­tiv ist, dass der Frie­den im­mer al­ter­na­tiv­los ist. Da­bei wuß­te schon je­mand wie Si­me­non, dass Be­sat­zung schlim­mer sei als Krieg – die Zah­len ge­ben ihm recht. Der Un­ter­schied zu al­len par­al­le­len Er­eig­nis­sen in der Ge­schich­te: Hier wird je­mand an­ge­grif­fen, der not­falls be­reit ist mit ei­ner Su­per­waf­fe (der Atom­bom­be) sein Ziel durch­zu­set­zen. Da­für scheint den Frie­densa­po­lo­ge­ten die Un­ter­wer­fung un­ter die Ge­walt als le­gi­ti­mes Mit­tel, um so­zu­sa­gen »für die Welt« ei­nen Still­stand des Krie­ges zu er­rei­chen. Das be­stärkt na­tür­lich an­de­re Re­gio­nal­mäch­te, sich ato­mar aus­zu­stat­ten (Sau­di-Ara­bi­en, Iran, Tür­kei, In­do­ne­si­en, Bra­si­li­en). Sie wür­den da­mit prak­tisch nicht nur un­an­greif­bar, son­dern auch un­ver­lier­bar.

    Die­se Kon­flikt­li­nie in ei­nem Buch über Me­di­en­kri­tik zu ver­han­deln, muss schei­tern. Das ist den Au­toren aber egal, weil es ge­nug Auf­merk­sam­keit und da­mit auch pe­ku­niä­ren Er­folg bringt.

    Na­tür­lich ha­ben sie in vie­len me­di­en­kri­ti­schen Punk­ten recht. Aber das ist nur die Büh­ne, auf der sich die bei­den als geo­po­li­ti­sche Be­dan­ken­trä­ger in­iti­ie­ren wol­len – und dies durch­aus mit ei­ner gu­ten Por­ti­on An­ti­ame­ri­ka­nis­mus. DAS me­di­en­kri­ti­sche Buch der Stun­de wur­de vor sechs Jah­ren ge­schrie­ben: Uwe Krü­ger: »Main­stream«. Es ist be­zeich­nend, dass ge­nau die­ses Buch von Wel­zer und Precht nicht zi­tiert wird (ein vor­he­ri­ges von Krü­ger al­ler­dings schon).