Wenige Tage vor der offiziellen Veröffentlichung des Buches »Die vierte Gewalt« schlug den beiden Autoren für ihr Werk eine große Portion Häme und Unverständnis entgegen. Grund waren vor allem die für das Buchmarketing vorgenommenen (und von den Leitmedien bereitwillig geführten) Interviews, in dem beide (oder auch nur einer von beiden) vor allem ihre Position zum Russland-Ukraine-Krieg und den deutschen Waffenlieferungen noch einmal pointiert – und teilweise mit großer Arroganz – vorbrachten. Precht und Welzer sind gegen die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine (und zwar generell – nicht nur von Deutschland), weil sie eine Eskalation fürchten. Russland sei, so das Credo, Atommacht. Dass Atommächte in der Vergangenheit durchaus ihre Invasionen aufgrund zu hoher Gegenwehr abgebrochen haben, scheinen sie nicht zu wissen. Stattdessen schlagen sie Verhandlungen mit Putin vor, obwohl dessen Regime die Bedingungen hierfür mehrfach erklärt hat: Hierzu wäre die Kapitulation der Ukraine notwendig.
Mehrfach haben Precht wie auch Welzer (hier der Einfachheit halber mit der Sigle »WP« abgekürzt) in »Offenen Briefen« zur Einstellung der militärischen Unterstützung der Ukraine aufgerufen. Dies und das aggressive Marketing führt zu fulminantem Widerspruch insbesondere in den sogenannten sozialen Medien (Twitter, Facebook). Dass die überwältigende Mehrzahl der Kritiker das Buch bis dahin nicht gelesen hatten (bzw. es nicht lesen konnten) spielt keine Rolle. Man schloss schlichtweg vom Inhalt der bisherigen Statements von WP auf das Buch.
Omnipräsente Darlings
Beide Autoren sind seit vielen Jahren publizistisch omnipräsent und man kann sie als Darlings des Medienbetriebs bezeichnen. Harald Welzer, Autor zahlreicher Bücher ist eine bekannte Figur der sich progressiv gebenden Degrowth-Bewegung und gerngesehener Gast in den Medien. Richard David Prechts Karriere verdankt sich vor allem dem öffentlich-rechtlichen System: es war die Literaturkritikerin Elke Heidenreich, die sein Buch »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« derart emphatisch lobte, dass es praktisch über Nacht zum Beststeller wurde. Zuschauer von populärwissenschaftlichen Sendungen konnten von da an dem sogenannten Philosophen Precht schwer entkommen; seine Bücher wurden stets in entsprechenden Sendungen »vorgestellt« (Euphemismus für beworben) und erreichten dementsprechend hohe Verkaufszahlen. Tatsächlich hat Precht keinen einzigen philosophischen Forschungsbeitrag publiziert und spielt in der akademischen Philosophie keine Rolle.
Nun haben also WP ein Buch geschrieben, in dem sie unter anderem beklagen, dass die so wichtig gewordenen Talkshowrunden im deutschen Fernsehen nicht paritätisch nach Umfrageergebnissen besetzt sind. Weil sie herausgefunden haben, dass im Frühjahr bis zu 46% der befragten deutschen Bevölkerung gegen Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine gewesen sind, leiten die beiden daraus ab, dass Diskurse dieses (schwankende) Stimmungsbild jedes Mal abzubilden haben. Man sollte also keine Militärexperten, Geopolitikwissenschaftler oder Russlandforscher einladen, sondern, so wird suggeriert, vermehrt wissensferne Akteure, deren einzige Qualifikation darin besteht, eine bestimmte Meinungsquote zu erfüllen.
Interessant ist dabei, dass diese Diskussionsrunden von WP wie eine Art Ringkampf betrachtet werden, in dem es nur »pro« oder »contra« gibt. Zwar beklagen die beiden im Laufe des Buches exakt diese binäre Ausrichtung und setzen sich (etwas obskur formuliert) für »mehr als fünfzig Schattierungen von Grau« (wer kommt da nicht auf einen Buchtitel?) ein, die »nicht angemessen repräsentiert« seien – aber man selber betreibt das »Entweder-Oder«-Spiel sehr häufig.
Die neue Verschwörung: Journalisten jagen die Politik
Zu Beginn wird gegen die Hybris der »vierten Gewalt« angeschrieben – durchaus zurecht, denn die Frage stellt sich, wer die Kontrolleure kontrollieren soll. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird mal für seine Politiknähe kritisiert, dann wieder gelobt als Hort der Seriosität. Kurz erscheinen die »Direktmedien« (gemeint sind Twitter, Facebook, et. al.) als »Fünfte Gewalt«, aber das wird rasch verworfen. Insbesondere Twitter ist für WP nicht nur nicht satisfaktionsfähig, sondern die Wurzel allen Übels, weil hier die Inspiration der Journalisten für ihre Politikmanipulation ihren Ursprung hat.
Die Hauptthese des Buches ist aber eine andere. Das gängige Narrativ, dass die Medien infiltriert seien von der Politik und deren Agenda verfolgen würden, wird hier abgelehnt. »Realistischer ist«, so heißt es, »dass politische Willensbildung und politische Entscheidungen vielfach durch einen antizipierenden Konformismus auf das zu erwartende Medienecho geprägt sind.« Die Journalisten (oder, erweitert betrachtet, Medienmacher) hätten, so die zentrale Aussage dieses Buches, das Agendasetting und damit die Kontrolle über die Politik übernommen. Sie bestimmten, welche Themen wie behandelt werden.
In Welzers und Prechts Gedankenkosmos sind die Journalisten der Leitmedien die Strippenzieher der Politik. Dies bezieht sich auch auf soziologische oder gesellschaftliche Befunde. So existiert beispielsweise die Diagnose der »gespaltenen Gesellschaft« für die beiden Autoren nur als Medienphänomen, hervorgerufen durch die Beschreibung von Journalisten. So löst eine Verschwörung eine andere ab.
Die volle Konzentration im Buch gilt allerdings dem aktuellen Russland-Ukraine-Krieg. Man nimmt Robin Alexanders Buchtitel »Die Getriebenen« (es ging um die Flüchtlingskrise) wörtlich: Getriebene seien die Politiker, die sich von wenigen Journalisten in Richtung Waffenlieferungen und bedingungslose Unterstützung der Ukraine treiben lassen würden. Hierfür wird der Begriff »Mediokratie« eingebracht. Das geht so weit, dass die Parteien Grundsatzpositionen aufgeben würden, um den journalistischen Forderungen nachzukommen. Indirekt ist damit gesagt, dass Journalisten und Experten Propagandamaschinen der ukrainischen Seite seien und versuchten, die Politik dementsprechend zu lenken. Bei Gefallen werden die Politiker dem potentiellen Wähler positiv präsentiert.
Manipulationen
Um dies zu beweisen wird bisweilen manipulativ vorgegangen. So will man die Aussage, dass Russland in der Welt »isoliert« dastehe, dahingehend widerlegen, dass bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung am 02. März 2022 »insgesamt die Hälfte der Weltbevölkerung« »nicht zugestimmt oder sich enthalten« habe. Neben einigen afrikanischen Staaten sind dies natürlich vor allem China und Indien. Hier wird eine Enthaltungsentscheidung einer Regierung beispielsweise aus geostrategischer Opportunität (Rohstofflieferungen) mit Zustimmung zur Invasion gleichgesetzt.
Groß ist das Frohlocken der Offenen-Briefe-Schreiber PW über einen Artikel der »New York Times« (NYT) vom 19. Mai 2022, der von der »Berliner Zeitung« (BZ) am nächsten Tag aufgegriffen und kommentiert wird. Im Artikel wird zu bedenken gegeben, dass die USA ihre militärische Hilfen einem Ziel unterordnen und gegebenenfalls dem ukrainischen Präsidenten Grenzen der Unterstützung aufzeigen müsste. Ein »Sieg« sei illusorisch, bzw., so steht es im Original-Text, müsste definiert werden. Obwohl es zu Beginn heißt, dass dieser Meinungsartikel vom »Editorial Board« der NYT stammt, suggeriert der Berichterstatter der BZ dies als neue Blattmeinung, die im Widerspruch zu den bisherigen Artikeln der Zeitung stünde.
WP übernehmen diese Sicht und suggerieren, dass mit der »New York Times« nun auch die Regierung Biden einen politischen Schwenk vollzogen hätte, der in den deutschen Leitmedien nicht oder nur unzureichend aufgenommen worden sei. Das passt natürlich in die Verschwörungsagenda, dass Journalisten Taktgeber der Politik seien. Zumal, und das steht wörtlich im Buch, die Autoren des Artikels die Herausgeber der »New York Times« seien.
Tatsächlich wird im Original (wie auch in der BZ) das »Editorial Board« als Verfasser genannt. Dabei handelt sich nach eigenen Angaben »um eine Gruppe von Meinungsjournalisten, deren Ansichten auf Fachwissen, Forschung, Debatten und bestimmte langjährige Werte basieren« (Übersetzung G. K.). Sie schreiben, wie es heißt, unabhängig von den Kollegen im Nachrichtenzentrum. Sie sind nicht die Herausgeber. Innerhalb des Blattes verkörpern sie eben das, was WP doch eigentlich so hoch halten: Meinungspluralismus.
Es fällt im Verlauf des Buches immer schwerer, an Versehen oder Ausrutscher zu glauben. Der Gipfel der Tendenzhaftigkeit zeigt sich, als WP den Druck von Journalisten auf Regierungspolitiker beklagen, öffentlich für den Sieg der Ukraine gegen Russland einzutreten. Die Passage im Buch lautet nun: »Im Juni 2022 forderten die Kommentatoren in vielen Leitmedien Politiker dazu auf, den zu diesem Zeitpunkt bereits äußerst fragwürdigen Satz zu sagen: ‘Die Ukraine wird diesen Krieg gewinnen.’ « Als Beleg wird hier Jürgen Kaubes Beitrag in der FAZ über die Verteidigungsministerin vorgebracht. In Wirklichkeit wünscht sich Kaube von Lambrecht die Aussage, dass die Ukraine den Krieg gewinnen solle bzw. müsse. Man kann nun in der Tat diese Form des Bekenntnisjournalismus kritisieren, aber man sollte es redlich tun. Es ist ein großer Unterschied den Sieg der Ukraine als Wunsch oder als Faktum zu äußern. Letzteres stand nie zur Debatte. Man fragt sich, ob hier Tatbestand der Irreführung oder Lüge erfüllt ist. In jedem Fall rechnet man mit der Dummheit der Rezipienten, denn diese bräuchten einfach nur den Text von Kaube zu lesen.
Nichts Neues
Dazwischen gibt es durchaus auch einmal ideologiefreie Medienkritik, wobei vieles längst festgestellt, beklagt, kritisiert und/oder missbilligt und Gegenstand diverser Aufsätze und Bücher wurde. Da geht es um die Anpassung von Leitmedien an die sozialen Medien, der sich immer stärker herausschälende Sensationalismus, der zuweilen auch banale Begebenheit zu großer Bedeutung aufpumpt, der zunehmende Aktivismus im Journalismus, die fehlende »Integration« von Widerspruch im berichteten Gesamtbild oder die »Helikopterperspektive« von Journalisten, die sich mehr um die Befindlichkeiten der Politiker kümmert als um die Bürger, die die Folgen der politischen Entscheidungen tragen müssen. Es wird gegen den »analytisch-fruchtlosen Haltungsjournalismus« gewettert (außer im Klimawandeljournalismus – der wird gelobt) und natürlich fällt das Wort »Elite« und der stille Konsens innerhalb derselben. WP attestieren eine »Gala-Publizistik« mit »gehobener Paparazzi-Haltung« und wenige Zeilen später wird der Duktus der Schreibenden als Volkspädagogen kritisiert. Journalismus zeichne sich immer mehr durch »Überpersonalisierung und Überpsychologisierung« aus. Beklagt wird die Dekontextualisierung von Zitaten, die zu Schlagzeilen mit Skandalpotential umgebogen werden. Genau dieses Spiel wird aber selber betrieben, wie oben angedeutet wurde. Ebenfalls nicht neu sind die Einlassungen zu Zeitungssterben und Medienwandel oder die Exkurse über Gruppendynamik oder Herdenverhalten.
Und so richtet die Klage über den »moralischen Gerichtshof über den Wolken« die Verfasser selber. Sie wollen die Ursache für den Krieg, der imperiale Gestus von Putin gegenüber der Ukraine, nicht sehen, obwohl die Reden des russischen Präsidenten alle auf dem Tisch liegen. Sie wollen nicht erkennen, dass Verhandlungen mit Russland nur dann erfolgreich wären, wenn die Ukraine ihre territoriale Integrität an Putin delegieren und kapitulieren würde. Die Präzedenzfälle hierzu aus dem Jahr 2014 und die weitere Entwicklung danach kommen bei ihnen nicht vor.
Welzer und Precht bilden zusammen mit dem Politologen Johannes Varwick, der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, der Schriftstellerin Juli Zeh, dem ehemaligen General Erich Vad (einst Berater der Regierung Merkel) und dem SPD-Provinzpolitiker Ralf Stegner die Speerspitze der in deutschen Diskursrunden eingesetzten Dauerskeptiker, was die militärische Unterstützung der Ukraine angeht (andere Protagonisten sind Alice Schwarzer, Margot Käßmann, Alexander Kluge [er wird von WP zum »Denker des Krieges« ernannt], Ranga Yogeshwar oder Klaus Ernst – um nur einige zu nennen). Irgendwo ist immer einer von ihnen zu Gast, wenn es darum geht, die aktuelle Lage zu kommentieren. Dabei müssen sie nicht befürchten, mit ihren in der Vergangenheit nicht eingetroffenen Lagebeurteilungen konfrontiert zu werden. Außerdem ist die Diskussionsführung meist auf Statements eingerichtet; die direkte Konfrontation mit Gegenargumenten bleibt zumeist aus, weil die Moderatoren ihren Ablaufplan für wichtiger halten als den Austausch untereinander.
»Lösungsorientierter Journalismus«
Die behaupteten Defizite in der Teilhabe der Verhandlungsapologeten im öffentlichen Raum halten einer genauen Betrachtung nicht stand. Neben den abendlichen Fernseh-Diskussionen kommen sie zum Beispiel regelmässig in morgendlichen Einzelinterviews im Radio zu Wort. Der bereits erwähnte Politologe Johannes Varwick hat einen eigenen Youtube-Kanal eingerichtet, auf dem alle seine Statements und Diskussionsbeiträge abgespeichert sind. In vier Monaten finden sich 15 hinterlegte Beiträge (Talkshows und Einzelgespräche). Dazu kommen noch acht Links zu Veranstaltungen auf diversen Podien oder Kongressen. Ralf Stegner kommt auf ein gutes Dutzend Einladungen – sowohl in öffentlich-rechtlichen Sendern wie auch in »Bild«-TV. Seine »Expertise« verharrt dabei seit Monaten auf dem Niveau fortgesetzter Ahnungslosigkeit, die in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu seiner rhetorischen Aggressivität steht. Dabei fällt auf, dass die Vorhersagefähigkeit dieser Protagonisten eher übersichtlich ist; man hätte auch einen Würfel rollen lassen können – vermutlich mit besseren Resultaten.
Diese Einwände sollen die zum Teil infantile und triviale Berichts- und Diskussionskultur in deutschen Medien nicht leugnen. Die immer gleichen Fragen, beantwortet von den immer gleichen Personen mit den immer gleichen Floskeln, zielend auf die rasche Schlagzeile, den prägnanten Begriff, Es ist das große Problem eines Medienbetriebs, der über Jahrzehnte Rezipienten nicht fordern wollte, sondern auf billige Affekte und Affirmation setzte – und weiter setzt. Leider gibt es in Deutschland keine relevante, kenntnisreiche und durchsetzungsstarke Medienkritik, die vermeintliche Fakten aufbereitet. Zumeist beschäftigt man sich mit den Invektiven und Lächerlichkeiten der »Bild«-Zeitung oder ergeht sich – wie die Diskussion um »Die vierte Gewalt« zeigt – in Metadiskussionen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird soweit es geht geschont; die Verwerfungen dort werden zugekleistert, weil es ohne sie noch schlimmer aussehen würde. Man bedient nur seine Echokammer – und wer weiß, wohin die Karriere noch einmal geht.
Am Ende plädieren Precht und Welzer für einen »lösungsorientierten Journalismus« – so, als hätte es die Ausführungen zuvor, in dem exakt dies Journalisten vorgeworfen wurde, nicht gegeben. »Presse und Rundfunk sollen die Geplagten umsorgen und die Umsorgten plagen« – so wird vier Mal der britische Journalist David Randall zitiert. Es ist der Wunsch nach einem paternalistischen Journalismus, der nicht nur berichtet, sondern auch gleich fertige Rezepte liefert. Sie kommen der Entmündigung des Rezipienten gleich. Schließlich werden noch die Projekte von Welzer gelobt und – das ist vermutlich ernst gemeint – ein »Europafunk«, eine Art europäisches öffentlich-rechtliches Radio- und Fernsehsystem vorgeschlagen. Da kann sich der Leser schon die neue, tausende Mitarbeiter umfassende Behörde vorstellen; vermutlich eher ein Alptraum.
Es ist ein großes Missverständnis, »Die vierte Gewalt« als medienkritisches Buch zu bezeichnen. Das ist es nicht. Ansonsten hätte man andere Felder beackern können, wie etwa die Flüchtlingskrise 2015 oder, noch ergiebiger, die Berichterstattung während der Pandemie. Beides klingt kurz an, aber darum geht es nicht. WP fürchten wohl, bei diesen Themen in den rechten Strudel zu geraten. Hiervon setzen sie sich fast zwanghaft ab; die NZZ wird sogar als »kleine, rechte Nische« im zeitgenössischen Journalismus abgetan. Welzer und Precht haben mit heißer Nadel ein Thesenbuch gestrickt, welches sich als Medienkritik tarnt. Dieser erweist man einen Bärendienst damit. Sie spielen virtuos auf der Klaviatur des von ihnen so gebranntmarkten Erregungsjournalismus. Camoufliert wird dies mit einem pathetisch formulierten Bekenntnis zur Demokratie – so als seien alle, die widersprechen Anti-Demokraten und nur Welzer und Precht die wackeren Verteidiger. Das ist, sollte es ernst gemeint sein, ein besonders schwerer Fall von Größenwahn.
Hinweis: Die Zitate entstammen den mir vom Goldmann-Verlag am 23.09.2022 zugeschickten pdf-Dokument.
Zu der Op Ed der New York Times:
da liegt Precht bzw. liegen Precht / Welzer offenbar falsch, dass es sich um die Herausgeber der NYT handele, aber ihre Aussage, dass ein solcher Kommentar, sie sagen: von einem der Chefs deutscher Qualitätszeitungen – man kann besser von Leitartikel reden – nicht denkbar ist und auch nicht geschrieben wurde meines Wissens, wird dadurch nicht falsch.
Nun kann man zu Recht einwenden, dass es auch etwas anderes ist, den Op Ed-Standpunkt dieses Beispiels aus amerikanischer Sicht als innenpolitische Kritik im – angeblichen – Interesse westlicher Partner schreiben, als dies aus deutscher Sicht zu tun. Trotzdem fällt auf, dass die deutsche Regierung innenpolitisch durchaus in vielen Leitartikeln genauso kritisiert wurde, bloß mit entgegen gesetzter Stoßrichtung: dass sie zu langsam und wenig, zu unentschlossen materiell klar im Krieg Partei ergriffe.
Als nächstes kann man fragen, ob und warum es denn einer solchen dem nyt-Kommentar ähnlichen Meinungsstücks bedurft hätte, und wenn ja, weshalb.
Es könnte sein, dass deutsche Medien sich der Stabilität der deutschen Ukraine-Unterstützung in der Bevölkerung so wenig sicher sind, dass sie lieber gar nicht ausprobieren, ob ein einflussreicher Kommentar sie ins Rutschen bringen könnte. Das wäre zwar gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Besser wäre, die Argumente auf den Tisch zu legen und in eine offene Diskussion zu gehen.
Das wird Gastautoren/-innen überlassen, deren Beiträgen Twitter dann regelmäßig schon für gefährlich genug für die deutsche Öffentlichkeit hält. qed.
Warum sollte denn ein Kommentar wie vom »Editorial Board« von einem Chef eines deutschen Leitmediums geschrieben werden? Aus Gründen der Ausgewogenheit etwa? Tatsächlich gab es ja Texte/Videos von Stefan Aust, der in der allgemeinen Waffenlieferungsdynamik einen Bremsklotz gesetzt hat bzw. bereits auf die Zeit nach dem Krieg rekurriert(e). Er sieht übrigens auch, dass Russland nicht alleine steht und warnt – m. E. zu recht – vor einem »antiwestlichen Block«, aus dem am Ende dann China als Gewinner hervorgeht.
Der Artikel aus der NYT ist deshalb interessant, weil er eben nicht die Waffenlieferungen und die militärische Unterstützung der USA generell in Zweifel zieht, sondern stattdessen eine mindestens mittelfristige Perspektive der USA-Regierung anmahnt und fragt, welche Ziele man anstrebt (bspw. Russland permanent in einen Konflikt zu halten, Putin als Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen oder die Ausweitung des Krieges auf andere Regionen zu verhindern).
WP gewichten den Text anders (über den »Fehler«, die Autoren des Textes als Herausgeber zu bezeichnen, bin ich ja schon eingegangen). Der Satz im Buch lautet:
»Auffällig ist auch, dass diese Konformität im deutschen Journalismus stärker ist als etwa in Frankreich und in vielen anderen europäischen Ländern, ja, sogar geschlossener als in den USA, wo die Herausgeber der New York Times, der einflussreichsten Zeitung der Welt, dem Weißen Haus vorwarfen, mit seinem militärischen Engagement den ‘langfristigen Frieden und die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent’ zu gefährden.«
Schon der Einschub »einflussreichste Zeitung der Welt« spritzt subkutan die These in die Adern des Lesers: dass die NYT Einfluss auf die Weltpolitik habe.
Die Schlußfolgerung von WP ist aber mindestens ungenau. Die Fragestellungen des »Editiorial Board« hatte ich schon skizziert. Die Stelle im Original lautet:
»Without clarity in these questions, the White House not only risks losing Americans’ interest in supporting Ukrainians – who continue to suffer the loss of lives and livelihoods – but also jeopardizes long-term peace and security on the European continent.«
Tatsächlich müssen solche Hilfen, sofern sie nicht im ersten Affekt passieren, wohl überlegt und mit einer Strategie versehen sein. Wir sprechen über Mitte Mai – der Krieg war fast drei Monate alt und die Russen hatten sich aus Kiew und Umgebung bereits zurückgezogen (Butcha war schon bekannt). Die Invasionstruppen formierten sich um; der Donbas bildete nun den Schwerpunkt. Man ging von einem Abnutzungskrieg aus. An Verhandlungen ohne territoriale Zugeständnisse an Russland war nicht zu denken – das hätte auch die bisherigen Hilfen konterkariert. Die im Artikel aufgeworfenen Fragen sind also berechtigt, aber sie stellen die Unterstützung nicht per se infrage.
In deutschen Talkshows tingelten zu diesem Zeitpunkt bereits Leute wie Varwick, Vad, Wagenknecht und Stegner. Insbesondere Varwick habe ich seit dem 25.2. wahrgenommen; er empfahl bereits nach dem zweiten Tag eine Kapitulation der Ukraine. Davon ist er streng genommen bis heute nicht abgerückt – obwohl all seine Vorbehalte gegen Waffenlieferungen (niedriger Ausbildungsstandard der Soldaten; Transportwege, die zu Zielscheiben werden könnten; Logistik) verpufft sind. Was bleibt ist seine Angst vor er Eskalation durch Nuklearwaffen. Außer eine einseitige Einstellung der Kampfhandlungen hat er nichts zu bieten; Argumenten geht er aus dem Weg.
Es ist schlichtweg ein Gerücht, das in deutschen Medien die Vorbehalte gegen militärische (und auch wirtschaftliche) Unterstützung der Ukraine nicht stattgefunden haben. Ich habe mehrere Texte bspw. vom Militärhistoriker Martin von Creveld gelesen, der düstere Vorhersagen abgab. Aust habe ich schon erwähnt. Reinhard Merkel kam mehrfach zu Wort; die vielen Diskussionen um die »Offenen Briefe«...
WP suchen sich für ihre Medienkritik ausgerechnet die Ukraine-Berichterstattung aus. Das finde ich interessant. Die Pandemie hätte beispielsweise viel grössere Angriffsflächen geboten (z. B. wurde in den gefühlt hunderten Talkshows meines Wissens nie die Massnahmen empirisch belegt bzw. dies »gefordert« – man übernahm blind die Narrative der Lauterbachs und Drostens und um zu zeigen, dass es noch schlimmer geht, wurden die No-Covid-Aktivisten noch eingebunden). Warum man dies macht – darüber will ich lieber nicht spekulieren.
Ist ein bisschen viel, wenn man die Richtlinien der Politik vorgeben möchte, und zugleich eine Systemkritik unternimmt. Das sind doch zwei deutlich verschiedene Ebenen. Ich komme WP so weit entgegen, dass die beiden erst jüngst gemerkt haben, dass der Zeitgeist ihrer eigenen Meinung entgegen weht; das ist immer ärgerlich, wenn es eine Zeit lang ganz gut lief. Wir alle hassen »kognitive Dissonanz«, die sich als nicht mehrheitsfähige Meinung bemerkbar macht. Einige Punkte von WP würde ich unterschreiben: der Konformismus ist ein Resultat der Kommunikation innerhalb der öffentlichkeits-erzeugenden Klasse: man berichtet und kommentiert im Hinblick auf die Meinung und die Kenntnisse der »vielen Anderen«. Twitter ist Gift. Ich weiß, was die anderen wissen und schreiben, also schreibe ich gerade mal so viel anders, dass ich noch ein »Produkt« habe, und nicht völlig im Grau des Mainstream verschwinde. Die paranoideste Interpretation (Außenansicht) für diese Anpassungsleistung ist dann die Verschwörung: die Leitmedien sind manipulativ und interessengelenkt. Aber woher kommen die Befehle?!?! – Es ist Mode geworden, eine falsche Politik zu kritisieren ohne zu sagen, was richtig wäre. Das fing ja schon bei den geforderten Verhandlungen an. Man forderte Verhandlungen, wollte aber keine Position angeben, und ignorierte die Diversität der Teilnehmer. Das war der Bannkreis des Zeitgeschehens. Es gab nur zwei Lager, und eine Meinung: Die Ukraine ist der Westen, der Westen ist Deutschland, Deutschland ist Europa, und die EU ist die NATO, falls jemand Zweifel hat. Selbst die Forderung der NYT habe ich schon im Februar formuliert: Unterstützung forever, und whatever it takes?! – Ja, selbstverständlich! Ohne gemeinsame Position ist die Verweigerung der Verhandlung die optimale Lösung! Und muss man eigentlich verhandeln, wenn man gar kein Kriegsteilnehmer ist?! In der Einfalt liegt große Kraft, würden die Samurai sagen. – Von der internationalen Politik im Westen kriegst du schon lange nicht mehr als den kleinsten banalsten Nenner, und das ist eine bittere Pille für WP. Die Mehrheitsmeinung ist gar keine Meinung, das würde ich bestreiten. Es sind Gemeinplätze und übertriebene Hoffnungen. Der Größenwahn kommt nur von der Ungeduld. Man will nicht mehr zuschauen.
Gemeinplätze sind meist unbefragte, voraussetzunglose Aussagen. Im Ukraine-Konflikt prallen zwei aufeinander: Zum einen der Gemeinplatz, dass sich imperialistische Aggression im zwischenstaatlichen Bereichen nicht lohnen darf. Zum anderen das Narrativ des Friedens – um jeden Preis. Die »Mehrheitsmeinung« neigt dem ersten Gemeinplatz zu. Dabei wird kaum befragt, dass damit die »Domino-Theorie«, die einst die USA in Vietnam aktiv werden ließ, neu aufgelegt wird. Damals glaubte man, dass, wenn Südvietnam kommunistisch wird, ganz Asien erobert wird (was teilweise geschah – siehe Laos und Kambodscha [falls man Pol Pot als Kommunisten einschätzt]). Jetzt drohen nach der Destabilisierung von Moldau und Georgien mit der Invasion in der Ukraine irgendwann die nächsten Aggressionen.
Das andere Narrativ ist, dass der Frieden immer alternativlos ist. Dabei wußte schon jemand wie Simenon, dass Besatzung schlimmer sei als Krieg – die Zahlen geben ihm recht. Der Unterschied zu allen parallelen Ereignissen in der Geschichte: Hier wird jemand angegriffen, der notfalls bereit ist mit einer Superwaffe (der Atombombe) sein Ziel durchzusetzen. Dafür scheint den Friedensapologeten die Unterwerfung unter die Gewalt als legitimes Mittel, um sozusagen »für die Welt« einen Stillstand des Krieges zu erreichen. Das bestärkt natürlich andere Regionalmächte, sich atomar auszustatten (Saudi-Arabien, Iran, Türkei, Indonesien, Brasilien). Sie würden damit praktisch nicht nur unangreifbar, sondern auch unverlierbar.
Diese Konfliktlinie in einem Buch über Medienkritik zu verhandeln, muss scheitern. Das ist den Autoren aber egal, weil es genug Aufmerksamkeit und damit auch pekuniären Erfolg bringt.
Natürlich haben sie in vielen medienkritischen Punkten recht. Aber das ist nur die Bühne, auf der sich die beiden als geopolitische Bedankenträger initiieren wollen – und dies durchaus mit einer guten Portion Antiamerikanismus. DAS medienkritische Buch der Stunde wurde vor sechs Jahren geschrieben: Uwe Krüger: »Mainstream«. Es ist bezeichnend, dass genau dieses Buch von Welzer und Precht nicht zitiert wird (ein vorheriges von Krüger allerdings schon).