Im Juni 1969 ist die niederländische Königin Juliana im holländischen Norden unterwegs. Am 17. besucht sie mit ihrem Stab den kleinen Ort Slootdorp. Rathausempfang, kleines Essen, das auch hier scheinbar unvermeintliche Protokoll, ein minutiöser Terminplan. Zwei junge Zwergziegen als Geschenk. Dann sieht sie eine junge Frau näher kommen, gegen den allmählich versiegenden Strom. Sie trägt ein Kind auf dem Arm und schiebt mit der anderen Hand ein Fahrrad, was das Gehen etwas anstrengend macht. Ach ja, eine Frau, die sich verspätet hat. Die sich beeilt, um doch noch einen Blick von ihr zu erhaschen. Sie gibt dem Chauffeur ein Zeichen und geht der Frau ein Stück entgegen […] Das Kind, das höchstens zwei sein kann, schaut sie mit großen blauen Augen an. »Na, wie heißt du?« »Anne«, flüstert das Kind. »Hanne«, sagt die Mutter. Sie zieht den rechten Handschuh aus. »Das H ist nicht einfach«. Sie streicht dem Kind über die Wange. Es erschrickt und drückt das Gesicht an den Hals der Mutter.
Die Frau heißt Anna Kaan und nennt die Königin gnädige Frau, so, wie sie’s mag (Juliana wollte nie ‘Majestät’ genannt werden). Ein kleiner Dialog, Annas Blick weicht einem Lächeln. Sie antwortet nicht. Das Fahrrad, das an ihrer Hüfte lehnt, rutscht langsam ab und schlägt auf den Asphalt. Die Königin streckt unwillkürlich beide Arme aus. Natürlich werden Fotos gemacht, Juliana sieht es nicht, sie hört es. Aufreizend nah ist das Klicken. ‘Königin macht spontan kleinen Umweg’. Noch eine mögliche Schlagzeile für morgen. Kurz darauf fährt der Tross weiter. Es wartet eine Barfußwasserski-Vorführung.
Nach 25 Seiten ist dieser Exkurs beendet. Sehr sanft wird man nun in eine andere Zeit überführt. Es ist ein Stilmittel in Gerbrand Bakkers Roman »Juni«, dass der Leser anhand kleiner und kleinster Mosaiksteinchen diese Geschichte mitentwickelt. Es ist die Geschichte der Familie Kaan, Anna (inzwischen 73 Jahre) und ihrem Mann Zeeger. Beide feierten vor ein paar Wochen Goldene Hochzeit. Es ist die Geschichte der Söhne Klaas, Jan und Johan, der Kaan-Bande und auch die Geschichte des Dorfbäckers und einer Frau, die sich für den Friedhof des Dorfes verantwortlich fühlt. Und es ist die Geschichte von Hanne.
Der Leser als Archäologe
Es beginnt im Stroh mit Anna Kaan, die sich auf den Heuboden mit Keksen und einer Flasche Eierlikör zurückgezogen hat, während ihre Kinder im Laufe des Freitag abend auf dem Hof eintreffen. Da ist Dirk, der Stier, der aus unerfindlichen Gründen auf diesem immer maroder werdenden Hof wie ein Haustier in seiner Box gehalten wird. Der wasserscheue Haushund Does. Und eine Warzenente. Und nur einen winzigen Moment droht da ein peinliches Bauernhof-Idyll; Bakker hat natürlich ganz andere Pläne.
Zeeger Kaan bastelt Weihnachtsbäumchen aus Holz mit Kerzenhalter[n] aus Aluminium, die auf Kofferraummärkten vor allem an Deutsche über das ganze Jahr hinweg verkauft werden können. Jan und Johan treffen ein. Jan ist ein Schweiger. Johan hat einen Sprachfehler und stottert. Klaas mit seiner Frau und der fünfjährigen Tochter Dieke. Anna bleibt im Stroh. Es ist warm.
Das Hineinfinden in diese Welt der Unglücklichen ist nicht immer einfach. Beispielsweise als Anna trotzig feststellt: Mit einer Tochter wäre es anders gewesen. Unwillkürlich beginnt man zu blättern: War nicht Anna Kaan die Mutter, deren Tochter von der Königin gestreichelt wurde? Gab es einen Bruch zwischen Mutter und Tochter? Warum ist Hanne bei dieser Versammlung nicht dabei? Dann das Mantra auf dem Stroh: Ich werde nie wieder etwas feiern. Und die Goldene Hochzeit? Oder die Erinnerung an einen Ausflug in den Zoo und das Bild davon mit all diese[n] unzufriedenen, beleidigten Gesichter[n]? Und als sie schlafen gingen sagte Zeeger: »Na, war doch ein gelungener Tag.« Der lapidare Befund Annas darauf: Vielleicht war es das, was am meisten weh getan hatte.
Der Leser als Archäologe. Er weiß am Anfang fast genau so wenig wie Dieke, Annas Enkelin. Man übernimmt notgedrungen Diekes Sympathien und Antipathien, erkundet mit ihr den Hof und die seltsam statuarischen Protagonisten. Sie erscheint dabei der einzig »normale« Mensch; lebendig, unbekümmert, neugierig. Am Ende wird deutlich, warum das so ist. Und man lernt, fast nebenbei, was mit der »Unschuld« eines Kindes gemeint sein kann.
Mit unendlicher Langsamkeit entwickelt sich der Samstag. Das missglückte Familienfrühstück. Der Ring, den Dieke aus der umgefallenen Topfpflanze klaubt. Jan fährt früh auf den Friedhof. Klaas und Dieke besuchen ihn kurz darauf. Das Kind möchte nicht ins Schwimmbad zu ihrer Freundin, sondern bei Onkel Jan bleiben. Anna bleibt wo sie ist; klar: ein Dreiviertelleben Erfahrung mit dem Stroh. Die Frau, die am Friedhof wohnt, und sich für diesen zuständig fühlt, steht am Fenster. Sie imaginiert unverhofft Sex mit dem Neger, der manchmal an ihrem Fenster vorübergeht. Eine Mischung zwischen Anziehung, Faszination und Angst. Sie heißt, wie wir später erfahren, Dienie Grin und kompensiert ihre verhärmte Vereinsamung (das Verhältnis zu Sohn ist gestört; einen Mann scheint es nicht zu geben) durch übermäßige Wachsamkeit, zumal in letzter Zeit der Friedhof geschändet wird. Jemand wirft die Grabsteine um, beschmiert sie mit Kot.
Auf dem Friedhof spielt schließlich der größte Teil des Buches. Wenn nicht gerade die Erinnerung aus den Köpfen der anderen erzählt wird. Das ist doch komisch, jede Mengen Sachen hat man im Kopf, und erst, wenn ein anderer was sagt, tauchen sie auf. Wie wenn man eine Angel nimmt mit einem Haken und einem Wurm dran.
Jan hat einen Stein auf den Boden gelegt, reinigt ihn und beginnt, die Buchstaben und Zahlen auf dem Grabstein auszumalen. Arbeiten, ohne dabei zu reden, ist schön ahnt auch Dieke, während sie zuschaut. Der Leser wird Zeuge dieser Arbeit, erfährt präzise, an welchem Buchstaben Jan gerade malt und welche Schwierigkeiten es gibt. So ergibt sich der Text des Grabsteins (bevor er dann überflüssigerweise doch noch einmal aufgeführt wird). Und zwei Meisen sitzen in der Nähe regungslos auf einem Ast. Sie hecheln; es ist heiß.
Johan, der wenige Jahre jüngere Bruder Jans, kommt vorbei. Ihre belauernden, flapsigen Dialoge. Johans Sprachfehler resultiert aus einem Unfall als Jugendlicher. Seitdem hat er etwas mit dem Kopf; lebt in einer Einrichtung. Johan nimmt Jans Homosexualität aufs Korn, von der der Leser schon aus Dienies Erinnerung erfahren hat, als sie vor vielen Jahren Jan und ihren Sohn Teun beim Liebesspiel beobachtete (einer der ergreifendsten Szenen im Buch). Und schon auf dem Bild von 1969, als die Königin zu Besuch ist, nimmt Teun Jans Hand.
Blutbuche und Kastanien
Auch Dienie kommt vorbei. Sie beschuldigt in einer wahnhaften Interpretation des Settings (umgekippter Grabstein, Farbe, ein leerer Eimer) die Kaan-Brüder des Vandalismus, schimpft und lässt sich von Jans Duzen noch mehr provozieren. Längst hat der Leser herausgefunden, dass Jan den Grabstein von Hanne bearbeitet. Hanne ist tot. Sie starb nur wenige Stunden nach dem Moment, als die Königin über ihre Wange strich. Mit zwei Jahren. Bakker erzählt derart suggestiv, dass der Leser wider besseres Wissen manchmal glaubt, dieser Unfall stünde noch bevor. Das Geschehene wird so zum immer wiederkehrenden Ereignis.
Anna lethargisch in der Scheune. Sehr selten diese Lichtblicke der anderen, der schönen, so weit entfernten Welt, etwa wenn sie plötzlich fühlt daß es hier einmal nach frischem Holz gerochen hat, nach Harz, daß durch diese Scheune unzählige Menschen gegangen sind, die schon lange nicht mehr gehen können, daß sie ein Teil dieser Unzählbarkeit ist; und trotzdem wieder die Bockkäfer und Holzwürmer, wie sie wühlen und wimmeln, lautlos jetzt, still wird es, sehr still, kein Hund, keine Warzenente, kein Mann, auch keine Toten mehr. Am Anfang zieht sie in Gedanken über die Mistbengel her; sie haben nur getrunken und gelacht, viel zu laut und über nichts, und Zeeger hat mitgemacht, abgesehen vom Trinken. Zeeger trinkt nie.
Der beginnt urplötzlich die Kastanien vor dem Haus zu fällen, die Anna für die Dunkelheit in den Räumen verantwortlich machte. Ein Höllenlärm. Die Stämme lässt er einfach liegen; auch den einen auf dem Gemüsebeet. Viel später erfährt man, dass diese Bäume kurz nach Hannes Tod gepflanzt wurden. Ein Bild ähnlich dem Schluss von Tschechows Kirschgarten, als der Käufer die Kirschbäume, die für die Erinnerungen der ehemaligen Besitzerin und somit für ihr Leben stehen, fällen lässt. Hier soll nun die in den Kastanien inkorporierte Trauer endlich ausgelöscht werden. Daneben die Diagnose, dass die fast hundert Jahre alte Blutbuche bald eingehen wird. Und plötzlich erscheint das Restleben nur als Differenz zwischen dem Fällen der Kastanien und dem Absterben des alten Baumes.
So gibt es viele Stellen, die nicht nur erzählen, sondern zugleich auch Allegorien sind. Dabei ist die Symbolik selten aufdringlich; der Leser fühlt sich eher eingeladen, nie überrumpelt. Beispielsweise die beiden Meisen auf dem Friedhof. Zunächst liegt ein Vogel tot auf der Bank unter dem Baum. Jan entdeckt ihn und wirft ihn fort. Der zweite wird Stunden später von Dienie gefunden und beseitigt. Sie glaubt, dass der andere Vogel weggeflogen ist. Obwohl sie über das Verhalten der Tiere Bescheid weiß: Meisen verlassen einander nicht auf längere Zeit.
Und natürlich stellt man nicht nur bei Ort und Motiv Parallelen zu Bakkers erstem Roman »Oben ist es still« fest. Der wichtigste Unterschied liegt zunächst darin, dass es in »Juni« keinen Ich-Erzähler gibt. So ist das Geschehen distanzierter, dezenter und vielleicht sogar genauer erzählbar. Aber in beiden Büchern gibt es etwas, was man von außen als »Familiendrama« bezeichnen kann, viele Jahre zurückliegt und niemals die Protagonisten verlassen hat. Und in beiden Büchern ist »oben« eine Richtung, die ein Refugium andeutet. Während in Bakkers Erstling der greise Vater vom Sohn sozusagen gewaltsam nach oben verbracht wird, liegt Anna im Stroh scheinbar freiwillig. Allerdings: Hier wie dort sind es falsche Trosträume. Und die in ihrer Verbohrtheit gefesselten, manchmal an mythologische, ihrem Schicksal ausgelieferte Wesen erinnernden Bakker-Protagonisten erscheinen in diesen Momenten tatsächlich wie tragische Figuren (hier trifft dieses leider so inflationär und meist unberechtigt gebrauchte Wort endlich einmal wieder zu).
Der blinde Bäcker und die Schwermut
Irgendwann steht es da: Der Bäcker war’s. Der fuhr mit seinem Auto die Straße entlang, war einen Moment in Gedanken und dann geschah es. Bezeichnend für Bakker ist, dass der Bäcker dennoch nicht als Monstrum oder Widerling erscheint. Danach brachte er zwar das Brot wie immer, nur dass er nie mehr dabei pfiff und auch das ganze Graubrot und das halbe Weißbrot nicht mehr so schwungsvoll auf den Küchentisch legte. An diesen kleinen Gesten wird die Schwermut, die sich für den Rest des Lebens wie ein Parasit in die Seele einnistet, gezeigt. Spät bekommt der Bäcker vom Autor einen Namen zugewiesen. Er heißt Harm, ist heute fast blind und besucht Dienie. Sie essen miteinander, spazieren und er schläft manchmal neben ihr. Versehrte, die sich gegenseitig Hoffnung vorspielen.
Jan und Johan am Samstagabend auf der Rückfahrt; in unterschiedlichen Richtungen. Jan findet ein Bild in seinem Rucksack und die Erinnerungen fließen.
Die letzten fünfzig Seiten führen en détail in die Jugend der drei Brüder zurück. Die Kaan-Bande im Schwimmbad. Und Klaas, der Älteste und dessen Entrückung von den anderen, von Jan (der nur zwei Jahre jünger ist) und dem jüngsten, Johan. Sie machen nacheinander ihre Schwimmabzeichen. Jan und Johan werden nach dem Unfall Hannes für ein paar Tage weggebracht. Dann die Aufbahrung Hannes, der Besuch des Bäckers. Die Beerdigung, die Reden und der im Regen aufweichende und langsam zerfallende Zettel von Oma Kaan. Trotz ihrer Anwesenheit bleiben sie lange Unwissende, klauben sich die Informationen vom Schulhof. Murmelzeit.
Seltsam entrückt bleibt Klaas auch Jahrzehnte später. Zaghaft angedeutet wird der Plan des Verkaufs des Hofes. Entschlüsse werden nicht gefasst. Es ist nicht zu glauben, achtundvierzig ist er und wünscht sich, daß seine Mutter etwas Liebes zu ihm sagt, vielleicht sogar, daß sie ihm sagt, was er jetzt tun soll. Natürlich geschieht das nicht und wird nie geschehen. Nur im Spiel mit seiner Tochter wieder-holt er die glücklichen Tage. Er setzt sich mit der Badehose in das Planschbecken zu ihr. Einen Moment so liegen, denkt Klaas, einen Moment diesen altmodischen Plastikgeruch einatmen, scharf, so rochen die Wasserbälle und Schwimmflügel früher am Strand. Klaas’ Frau, die hier weg will, bleibt namenlos; ein Hinweis, ein Kainsmal? Dieke »verschwindet« am Abend; sie muss zu Bett. Der naive Kinderblick ist (spätestens jetzt) nicht mehr möglich. Im epilogartigen Schlusskapitel erfährt man noch, dass Juliana am nächsten Tag vom Unfall des Mädchens aus der Zeitung liest – und eine Entscheidung trifft.
Wo andere Erzähler behutsam ausblenden, hält Gerbrand Bakker mit fast provozierender Intensität stand, ohne in Sentimentalität zu verfallen. Er zwingt den Leser, den Lebensüberdruss seiner Figuren auszuhalten. »Juni« ist ein melancholisches, elegisches Buch. Es ist wunderbar, wie es Bakker gelingt, dennoch keine depressive Stimmung zu erzeugen, sondern eine innige, fast zärtliche Teilnahme mit dieser Familie. Die evozierten Bilder bleiben haften, begleiten einem für eine geraume Zeit. Man würde zu gerne erfahren, wann Anna nun endlich wieder hinunterkommt. Und für wie lange.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.