A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 1
Letztes Jahr habe ich Günter Grass gesehen, als ich am Pariser Platz mit der Rikscha auf Kundschaft wartete. In Cordsamt gekleidet und Pfeife rauchend kam Grass aus der Akademie der Künste, ging in Richtung Unter den Linden und war dabei mit einem anderen Herrn tief in ein Gespräch involviert. Grass ging sehr langsam, die geistige Anstrengung zwang ihn, hin und wieder stehen zu bleiben. Während sein Gesprächspartner an seinen Lippen hing, hingen Grass’ Schultern nach unten herab. Ich erwog, Grass anzusprechen: »Herr Grass, darf ich Sie bitten, gewähren Sie mir die Ehre, Sie ein Stück des Wegs mit der Rikscha zu fahren?« Grass hätte dann in einer solchen Rikscha gesessen, wie sie in der Verfilmung seiner Erzählung »Unkenrufe« zum Einsatz gekommen ist, und ich hätte alle meine Kollegen in unserem internen Promi-Fahrgast-Wettbewerb haushoch ausgestochen. Allerdings wären kontroverse Diskussionen möglich gewesen angesichts solch prominenter Fahrgäste wie ... und gerade, als ich dies dachte, blieb Grass, der nun genau auf meiner Höhe war, abermals stehen. Er nahm die Pfeife aus dem Mund, sein Blick verfinsterte sich, und dann vollführte er mit der Pfeife eine alles wegwischende Handbewegung. Er hielt den Pfeifenkopf mit Daumen und Zeigefinger umfasst, spreizte die anderen drei Finger ab und schnitt waagrecht mit der Handkante einen knappen Halbkreis in die Luft. Diese Geste war so radikal, die Pfeife so Achtung gebietend, die Bewegung so restlos alles, also auch mein Ansinnen wegwischend, dass ich es im selben Moment fallen ließ und mich stattdessen darauf verlegte, den Herren mit den Augen zu folgen, um mir nur ja nichts von diesen womöglich literaturgeschichtlich bedeutsamen Augenblicken entgehen zu lassen. Vielleicht würde dieses Gespräch zwischen Grass und dem anderen Herrn Eingang in Grass’ Tagebücher finden, und dann könnte ich mich später, bei deren Erscheinen, immerhin der Zeugenschaft rühmen. So war ich also in den Anblick des cordsamtbekleideten Rückens von Grass vertieft, eben hatte er den roten Teppich des Hotel Adlon passiert und verlor sich nun zwischen anderen Passanten, als sich wie aus dem Nichts ein Mann auf die Sitzbank meiner Rikscha warf: »Das ist doch der Grass da vorn!, schnell, fahren Sie!, fahren Sie an dem vorbei, der Grass!!!, den will ich sehen!«. Ich fuhr los, obwohl ich wusste, dass der Kunde nicht auf seine Kosten kommen würde. Denn Grass war keineswegs geradeaus die Linden hinunter gegangen, sondern rechts in die Wilhelmstraße eingebogen. Er war zwischen den Pollern hindurch gegangen, mit denen die Britische Botschaft seit dem Irakkrieg die Straße hat sperren lassen, zwar nicht für Fußgänger und Fahrradfahrer, durchaus aber für Autos und Rikschas. Ich bremste ab. Da standen wir nun vor den Pollern, konnten nicht weiter und sahen Grass sich unheimlich langsam entfernen. Mein Kunde wollte es nicht über sich bringen, Grass zu Fuß nachzulaufen. Wie geschlagen stieg er aus, sah kopfschüttelnd dem hängenden, Pfeife rauchenden Cordsamtanzug hinterher und wiederholte in einem fort: »Ich hab den Grass verpasst, ich hab den Grass verpasst, ich hab den Grass verpasst...«
Gut beobachtetes »Fan-Verhalten«, und gar nicht einmal so sehr überzogen. Wobei meiner Ansicht nach (nach meinen Beobachtungen auf diversen Buchmessen, Lesungen, Vernissagen, Theaterpremieren)»erwachsene« Fans sich regelmäßig alberner Verhalten, als Teenager, die Popstars zukreischen. Die Teenager sind wenigsten ungezwungen und nicht unterwürfig.
Nebenbei: ich hatte vor einigen Jahren einen Dauercampingplatz in der Nähe von Behlendorf (bei Ratzeburg), und habe Günter Grass des öfteren gesehen und mich sogar ein paar mal kurz mit ihm unterhalten. Aber nie über Literatur.
Nachtrag: ich bin eben kein Grass-Fan.
Vielen Dank für Ihren Hinweis. Ich muss gestehen, dass das Textlein etwas einseitig geraten ist, insofern dieser Aspekt von Günter Grass völlig fehlt: die zwanglose Unterhaltung mit dem Volke. Allerdings würde ich mir nie anmaßen wollen, Günter Grass überhaupt, geschweige denn mit so wenigen Zeilen, in seinen wesentlichen Aspekten zu erfassen.
ich auch, ich auch
...und ich hab mal Uwe Johnson UND Frank Zappa auf einem Flughafen (ich glaube, es war Genf) gesehen, das ist allerdings 38 oder 39 Jahre her... und die waren auch nicht zusammen, sondern ich hab sie unabhängig voneinander...
Und ich bin mal mit Emerson, Lake und Palmer im Buss vom Wiener Flughafen ins Hotel gefahren und konnte Mister Palmer mitteilen, dass die Reklame, die wir unterwegs auf großen Posten sahen, nicht etwa ihm galt sondern (nur) für österreichische Socken warb.
Und ich hab Duke Ellington zum Abschied (bei seiner letzten Europa-Tournee 1973; auch auf einem Flughafen) die Hand geschüttelt.
Und ich hab mit Illinois Jacquet (und einem zweiten bekannten Musiker, ich hab leider vergessen, wer’s war) an der Bar in einem Hamburger Hotel gesessen.
Und in Zürich hab ich mit Marty Feldman ...
Und ebenfalls in Zürich, da konnte ich Baden Powell von einer privaten Party leider nicht wieder zurück ins Hotel bringen, weil eine junge Dame ihn die Nacht über für sich beanspruchte...
Usw. usf.
Stimmt, es ist erstaunlich, wie viele »Promis« so mal gesehen hat ...
... auch wenn man kein Fan ist. ;-)
(Und auch kein ehemaliger Tourleiter.)
Ja, ich kann obigem Beitrag nur zustimmen. Mir hat diese kleine Skizze auch gut gefallen. Das Träumen der Ich-Erzählerin– was wäre wenn -; Pfeife und Cordjacke von Günter Grass, seine Gestik und die „versunkene“ Unterhaltung, der aufgeregte Fan ...
Zwei Welten berühren sich ganz zart: die „vergeistigte“ des Schriftstellers und die „authentische“ der Rischkafahrerin und des Fans – spüre ich ziemlich heraus beim Lesen
Gelungen finde ich den eingebauten Hinweis mit dem Pollerbau/Irakkrieg ...
Im letzten oder war es im vorletzten Jahr? war ich im Grass-Haus in Lübeck. War sehr interessant, auch wenn ich kein Grass-Fan bin, sein gesamtes Werk ist beeindruckend.
http://www.guenter-grass-haus.de/
#2
Nö, ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, dass G.G. sich zwanglos mit dem Volke unterhält. (Ich meine jetzt: als Masche. Die einige Prominente wirklich auf peinliche Weise kultivieren.)
Vor zwei Jahren habe ich Stefan Aust gesehen. Im Frühstücksraum eines Düsseldorfer Hotels, als ich auf einen Kollegen wartete und aus Neugier diesen Raum betrat. Auf seinem Teller lagen noch ein paar Brötchenkrümel, glaube ich. Ich hatte kein Bedürfnis, ihm irgend etwas zu sagen. Er sah aus wie im Fernsehen. Ganz kurz dachte ich: Den gibt’s also wirklich.
(Im vergangenen Jahr war ich auf der Frankfurter Buchmesse. Die, die man dort sah, zählen aber nicht, weil sie nicht unverhofft an diesem Ort waren. Ich mache mir dennoch ein wenig Sorgen um Dieter Wellershoff.)
« Er sah aus wie im Fernsehen... Den gibt’s also wirklich.« Solch eine Feststellung würde mir auch reichen :)
Warum machen Sie sich Sorgen um Dieter Wellershoff?
Nachtrag:
Weil ich u.a. wissen möchte, warum Dieter Wellershoff am Ende Ihres Beitrags plötzlich auftaucht und weil die Belanglosigkeit der Brotkrümel mir zu denken gegeben hat ;), kann es sein, dass hier die Ironie „piekt“?
Bin jetzt unterwegs und schaue morgen wieder vorbei. LG :)
@lou-salome
Meine Mutter lernte in den 80er Jahren in einer Aushilfstätigkeit zwei deutschsprachige Schlagersängerinnen kennen. Daher die Aussage zum Aussehen wie im Fernsehen.
Über Wellershoff möchte ich öffentlich nichts sagen; das wäre zu intim. Er taucht auf, weil auf der Buchmesse einfach schrecklich viele Schriftsteller und Journalisten sind und da einfach erwartet werden. Das ist etwas anderes, als eine solche Begegnung auf der Strasse.
Nur kurz zu Wellershoff:
Ich habe ihn neulich auch gesehen, und es schien mir keinen Grund zu geben, sich Sorgen um ihn zu machen. (Er gibt auch eigentlich unbedeutenden Zeitschriften immer noch Interviews und auch bei seiner LCB-Lesung neulich war er gut beieinander. – Oder habe ich da etwas falsch verstanden?)
Das bringt mich darauf, als ich zum ersten Mal in meinem Leben in Hamburg einen »Prominenten« gesehen habe. (Nein, es war das zweite Mal: Auf dem Hinflug hatte ich hinter Lore Lorentz gesessen – aber die bekannten Menschen aus meiner Stadt habe ich eigentlich nie richtig zu den Prominenten gezält; ich war z.B. auch mal bei Beuys zuhause.. usw.)
Das in Hamburg also war Eddie Constantine gewesen. Er wartete vor einer Boutique in Pöseldorf, zu der er gerade eine sehr junge Blondine geführt hatte. Und obwohl er seit »Alphaville« auch ein bisschen ein Held für mich geworden war, dachte ich dann auch so was wie: Es gibt ihn also auch auf unserer tristen Seite der Wirklichkeit. Und er sieht so viel kleiner aus als in seinen Filmen! Und sein Leben ist genauso lächerlich wie meines. (Und die Blondine, die ich gerade zu einem Weingeschäft begleitet hatte, sah auch besser aus.)
Geistig scheint mir Wellershoff noch ausgezeichnet ausgerüstet. (So meinte ich das nicht. Aber ist natürlich körperlich schon mitgenommen.)
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Und: Schöne Geschichten, die dieser Beitrag hier erzeugt.