Vor einem Jahr veröffentlichte Esther Kinsky den polyphonen Roman Rombo, der von den verheerenden Erdbeben im Mai und September im italienischen Friaul, nahe dem damaligen Jugoslawien und heutigen Slowenien, erzählt. Der Titel erklärt sich durch ein Zitat von 1838, in dem »Rombo« als Bezeichnung für das Geräusch angegeben wird, welches sich kurz vor einem Erdbeben »aus dem rollenden Tone einer aneinander hängenden Reihe von kleinen Explosionen« einstellt. Bemerkenswert an Kinskys Roman ist der Dualismus intermittierender Landschafts- und Naturerzählungen einerseits und den Figurenreden von sieben Protagonisten andererseits (fünf Frauen und zwei Männer), die ihr Schicksal während und nach der Katastrophe und, gegen Ende, auch Kindheitserinnerungen berichteten und ihr Leben überblickten.
Dabei bleibt die Sprache in den zum Teil betörenden Landschaftserzählungen streng bei den Dingen, die sich losgelöst von menschlichen Wahrnehmungen und Kategorien von selber erzählen und dabei einen konzisen geomorphologisch-botanischen Überblick auffächern, der bis hinein in die menschlichen lokale Natur- und Sagenmystik reicht. Zuweilen schimmert eine Schicksalsmetaphorik hervor, etwa wenn vom »Kalksteinboden« als dem »Boden der Armut« die Rede ist. Divergierend dazu die Erinnerungen der Dorfbewohner (deren Schilderungen sich teilweise überschneiden, weil sie alle aus der Region um Venzone stammen), die sich im Laufe des Romans zu familiären Auswanderer‑, Dableiber- und Verrücktwerder-Geschichten ausweiten und die einstigen und zukünftigen Hoffnungen der Protagonisten reflektieren. Nachträglich ist es empfehlenswert, diese zwei Bücher – Natur- und Märchenwelt und Erinnerungen – separat zu lesen.
Ein Jahr nach Rombo folgen jetzt in kurzem Abstand zwei weitere Werke. Da ist zunächst im Rahmen der Reihe Gedankenspiele über… des Droschl-Verlags ein kleiner, aber feiner Essay über die Hoffnung. Zunächst ist da die Definition der Hoffnung als »Versuch, ins Dunkel des Ungewissen vor uns ein Licht zu werfen, das den Weg finden soll, im äußersten Fall ist es Festhalten an einer Unwahrscheinlichkeit.« Sie ist Zuversicht in »völlige[r] Ungewissheit«, eine »Beschwörung des Besseren«. Seit jeher droht aber auch die Gefahr, Hoffnung als Jenseitsversprechen beispielsweise in Religionen zu missbrauchen. Kinsky sucht und findet literarische Hoffnungs-Variationen unter anderem bei Emily Dickinson, Dante, Homer und Friedrich Schiller und scheint sich der Deutung anzuschließen, dass Hoffnung als Glaube oder, besser: Wunsch definiert wird, dass der Mensch durch »Suchen, Erkennen, Schaffen« seinen Weg zur »erlösenden Erkenntnis« finden mag. Hoffnung ist hier demzufolge die Möglichkeit, das Ziel einer Selbstvervollkommnung zu erreichen.
Ein (von Esther Kinsky übersetztes) Gedicht von Lord Byron über den Zusammenhang zwischen Hoffnung und Erinnerung leitet über zur Frage, was geschehen könnte, wenn es bei einem Todkranken heißt, dass es keine Hoffnung mehr gebe. Kinsky wird hier persönlich und erzählt von der Krebskrankheit ihres Lebensgefährten Martin Chambers. Man hatte sich gegen weitere Klinikaufenthalte und Therapien entschieden und für das Jetzt, den Augenblick, den Moment entschieden. Und diese Seiten, die von den innigen, intensiven »Wochen ohne Hoffnung« erzählen, bringen dann dieses Buch zum Leuchten, machen es groß. Scharfsinnig wird hier Nietzsches Diktum von der Hoffnung als das »übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert« konterkariert, indem man sie, die Hoffnung, dieses »Übel«, schlichtweg nicht mehr zur Handlungsmöglichkeit erklärt.
Fast gleichzeitig erscheint im Suhrkamp-Verlag Kinskys Romanerzählung Weiter Sehen. Sie beginnt mit einer Urlaubsbekanntschaft, die der Ich-Erzählerin von der »märchenhaft anmutende Flachheit und Weite ihrer südlichen und staubigen Heimatgegend« vorschwärmt und dieses Gefühl in einem Bild entfacht: »Man stieg auf einen Kürbis und konnte so weit sehen. Immer weiter sehen.«
Dieses kleine Erlebnis bringt etwas in Bewegung, weckt die List am Sehen, am »Weiter Sehen«. Zum einen sind es natürlich die Weiten einer Landschaft, die man, wie die Bekannte aus dem Urlaub, sehen, er-sehen, möchte. Aber die »Weite ist mehr als Ferne, sie ist das, was man an Möglichem zulässt. Das gilt für das Sehen von Landschaft, Gelände, von Menschen, von Kunst.« Insbesondere das Sehen von Kunst will erlernt sein. Beim Sehen, so weiß die Erzählerin, geht es darum, »Was man sieht und Wie man sieht. Bei der Frage nach dem Weiter Sehen soll es nur um das Wie gehen.« Rasch wird der Bogen gespannt vom ersten Sehen durch ein Fernglas, bevor es dann um die großen Seh-Säle geht, die Kinos (und die Seh-Vernichter, die Fernseher, die kaum gewürdigt werden).
Die Erzählung wird phasenweise zur Hommage für das Kino, rekapituliert die Geschichte um diese dunklen Säle, die »nicht einmal hundert Jahre lang Bedeutung und Gültigkeit hatte[n]«. Sie erzählt von deren Außergewöhnlichkeiten, den Erlebnissen der Zuschauenden, die aus einer »weniger privatisierten Welt« kamen und nun »alle Blicke in eine Richtung« wendeten. Das Kino ist der »Raum der Erwartungen, die selten enttäuscht werden, nicht einmal von einem schlechten Film, denn immer heißt es: weiter sehen als zuvor, einen Horizont erkunden, den es ohne die Leinwand nicht gibt.« Kindlich fast diese Verzückung des Kinos als »Wunderort«, dem man sich hingab, »um zu sehen«. (Und nein: es geht ja nicht um »Was«, sondern »Wie«!)
Die Erzählerin erinnert sich an ihre Kinoerlebnisse, als Kind und Jugendliche, später in London, wo sie lange lebte und vor allem an die Rückwege, taumelnd und ergriffen vom Film und dessen Ereignissen, meist zu Fuß gehend durch die Nächte. Aber ihr bleiben natürlich die Veränderungen nicht verborgen, das, was man pauschal Kinosterben nennt, hervorgerufen, wie sie meint, durch eine Kultur der Individualisierung, des Sehens vor dem heimischen Fernsehgerät, sofern man dort überhaupt Sehen kann; Weiter Sehen in keinem Fall, dies ist und bleibt Sache des Kinos.
Es fällt nicht schwer, auch hier in der Ich-Erzählerin die Autorin Esther Kinsky zu vermuten, die ihre Erzählung zu der Zeit beginnt, als sie in Budapest lebte. Eines Tages fasst sie den Entschluss, in das Alföld zu fahren, einer »Landschaft der Leere, der Wiederholung, der verwirrend ähnlichen Namen auf den Ortsschildern, der großen Langsamkeit«, die von den Budapestern nicht besonders geschätzt wird, als provinziell und rückständig gilt. Sie kehrt in einen namenlos bleibenden Ort ein, irgendwo an der ungarisch-rumänisch-serbischen Grenze; einst eine Stadt heute eher ein Dorf. Sie erzählt von dieser Leere, die aber natürlich alles andere als eine Leere ist, sondern eher eine Fülle, wenn auch ganz anders. Es gibt Schilfstauden, der Fluss Tisza (deutsch: Theiß), Akazien, Mohnfelder an denen man die Jahreszeiten ablesen kann, Gärten mit Walnussbäumen, in denen Uhus rasten, Straßen aus Staub. Es ist ein Ort »wie ein rätselhafter, unbegrenzter Requisitenraum, ein Repositorium unzähliger Bilder und Szenen«, wie jenem von der Pfütze, über der sich »unzählige weiße Falter gesammelt« hatten, »die über dem Rest Feuchtigkeit auf- und abstiegen und schwebten und in der Luft standen«.
Und dann dieses Gebäude mit der Aufschrift »Mozi«, dem ungarischen Wort für »Kino«. Es ist geschlossen, verwittert aber von nun an ist die Erzählerin auf eine fast schleichende Art beseelt, dieses Kino wieder neu zu eröffnen. Und als würden die richtigen Worte im entscheidenden Augenblick nicht immer aufzufinden sein, werden dem Leser die Fotos dieses Kinos geboten und sie ziehen ihn noch mehr in die Geschichte hinein.
Wie es der Zufall oder die Erzählerin will gibt es da Julika, eine vermutlich über 80jährige Nachbarin in Budapest, die sie warnt, vor den Kinomenschen, diesen Schlawinern, denn auch sie kannte einst einen solchen, ihren Laci, der Filmvorführer war, aber sie entschied sich dann für einen anderen. Es ist jener László Deutsch (1910–1989), der dann später im Kino in der Alföld-Einöde landete, just in dem Gebäude, welches nun von ihr federführend wieder neu hergerichtet wird. Sie findet Lacis Grab, halb verwittert und der alte Jószi erzählt vom Vorführer, den sie alle für den Inhaber hielten und sich bei ihm beschwerten, wenn ihnen der Film nicht gefallen hatte. Kinsky widmet dem Lebens Lacis einen Erinnerungs-Exkurs, beginnend 1927, und sie erzählt, wie jemand unveränderlich zum Kino-Narren wurde und bis zum Schluß blieb.
Und so ist Weiter Sehen nicht nur Kino-Essay und Bildersuche in der ungarischen Steppe, sondern auch Dorferzählung, ein Gegenort zu Anarene, jener Kleinstadt, die, von Peter Bogdanovich geschaffen, dafür steht, wie das Schließen des Kinos einher geht mit dem Auseinanderfallen einer Gemeinschaft. Kinsky zitiert Cassavetes, aber meidet ansonsten amerikanisches, befürchtet »Klischees und geistige Schubladen«. Bei kinonostalgischen Streifen, die das Kino als »Zufluchts- und Hoffnungsort« auf eine »märchenhafte Weise romantisier[en]« greift sie weder auf Die letzte Vorstellung noch Cinema Paradiso zurück sondern es kommen ihr Das letzte Kino der Welt aus Argentinien und der ungarische Film Ein Winter am Ende der Welt in den Sinn.
Nun also dieses alte Mozi mit dreihundertsechsundfünfzig Sitzen, zwei riesigen Filmprojektoren, die nicht nur ihr wie Tiere vorkommen, zahlreichen Requisiten des Vorführens, Schauspielerfotos, teilweise signiert und, nicht zu vergessen, die alten Kinokartenrollen. Alles unter Bergen von Dreck; die Leinwand blättert ab wie der Putz von den Wänden. Es dauert, bis sich helfende Hände finden. Einer fragt sie, warum man nicht eine Parkgarage gebaut habe. Andere sind aufgewühlt, eine Zeit scheint zurückzukommen. Sie erinnern sich, welche Filme besonders gut ankamen. Mit einigen Helfern macht sie sich auf den Weg nach Budapest, um technische Ersatzteile zu besorgen. Sie bemerkt die Verstörung der Dorfbewohner über die Hektik der Großstadt. Die Projektoren funktionieren schließlich wieder, nur der Ton macht länger Probleme. Der Leser bekommt einen Eindruck von den Renovierungsarbeiten und die Erzählerin überlegt schon, welche Filme sie ausleihen soll wenn es soweit ist, und stellt rasch fest, dass sie nur »ins Sehen eingeübt war, nicht ins Zeigen.« (Dreyer oder Ozu sind eher nicht publikumskompatibel.)
An einem Samstag, dem 24. Juni (es ist, auch wenn es nicht genannt wird, das Jahr 2006), ist es schließlich soweit: Das Kino wird zwölf Jahre nach seiner Schließung neu eröffnet. Es gab Mein 20. Jahrhundert von Ildikó Enyedi, »Der Film war ungarisch, poetisch und witzig, und ganz und gar ein Film, der für die Leinwand gemacht war, für den Blick aus dem Dunkel.« Mehrmals sorgt ein Gewitter für einen Stromausfall und einmal reißt der Film.
Rasch wird deutlich, dass das Echo auf die Neuaufführungen im Gegensatz zur vorher gezeigten Euphorie steht. Schließlich folgt man Jószis Erfahrungen aus der Vergangenheit und bringt Irgendwo in Europa, der immer für volles Haus sorgte. Und es wurde dann mit einem guten Dutzend Besuchern wirklich der größte Erfolg im neuen Mozi.
Da sitzt sie nun »in den Polstern minderer Qualität«, die Erzählerin, 12. Reihe Platz 12, mit ihren »vergorenen Träumen«, den Hoffnungen auf den »unwiederholbaren Zauber« der Zelluloidstreifen. Man hatte versucht »eine Vergangenheit, nach der man sich nicht umdrehen soll«, neu herauf zu beschwören. Aber es endet in der »Untröstlichkeit der Verwaisung«. Im September schließt das Mozi; offiziell wegen der bald zu erwartenden Kälte, aber jeder weiß, dass es keine weitere Vorstellung mehr geben wird.
Es findet sich noch ein Vergnügungsunternehmer, der Neues mit dem Kino vorhat. Aber als die Erzählerin sechzehn Jahre nach dem »Mozi-Sommer« das Dorf wieder besucht, ist so vieles verändert. Es beginnt schon mit der Anreise mit dem Zug von Budapest in das Alföld. Sichtblenden auf der Strecke versperren die Sicht auf das »Garagenland« (falls es überhaupt noch existiert), jener »kleinen Männerwelt«, die »kurz von den Blicken aus dem fahrenden Zug gestreift werden könnte« und so geheimnisvoll daherkam. Oder es war schlicht menschenleer zwischen den Häusern geworden. Da es nichts mehr zu sehen gibt, schaue alle auf ihre Mobiltelefone. Im Dorf angekommen konstatiert sie, dass ihre Bewohner den »Gedanken an Weite verlernt« hatten und »der Zauber, der sich hier vor Jahren antreffen ließ« abhandengekommen war. Sinnbild dafür sind die gefällten Walmussbäume und das damit verbundene Verschwinden der Uhus.
Kinskys grandiose Erzählung muss mit der Programmatik ihres »Weiter Sehens« gelesen werden: Nicht das »Was« ist hier primär, sondern das »Wie« des Erzählens. Natürlich vermeidet sie jeden Anfall von Sentimentalität; gelegentlich blitzen melancholische Augenblicke hervor. Griffiger sind die Parallelen zu Peter Handkes Bildverlust-Epos, jener Reise einer »Bankfrau« durch die (fiktionalisierte) Sierra del Gredos auf ihrer Suche nach den verlorenen bzw. vernichteten Bildern. Dabei ist das Stadtdorf im Grenzgebiet vergleichbar mit Handkes Enklave Hondareda, dieser »weltfern lebende[n] Gesellschaft mit eigenen Normen und Gesetzen« (Handke). Freilich sind Kinskys Dörfler weniger mystisch als Handkes Enklavenbewohner. Dennoch gibt es eine Szene im Alföld, die sich auch in Hondareda hätte ereignen können: Es ist jener eigentümliche »Tanz der rollenden Liebespaare an einem Samstagabend« auf ihren Fahrrädern, »eine Art Schautanz auf Rädern, man zeigte sich, die Liebste, das Fahrrad, die Kunst des radelnden Schlenderns« bevor man die Lokale aufsuchte.
Bilder sind für Handke »einmalige Zeit- und Raumzeichen, unverwechselbar, einleuchtend, ungesucht, ins Auge (und Herz) springend«. Er bekräftigt die Ereignisfolge: »Nicht ich mache mir ein Bild, es zeigt sich (mir)«, so steht es schon in einer Tagebuchaufzeichnung Anfang der 1990er Jahre. Und Jahrzehnte später mündet dies in den beklagten Bildverlust, der bei Kinsky ebenfalls in der Beschreibung der Unterschiede zwischen 2006 und 2022 ihren Ursprung nimmt. Es ist kein Zufall, dass Handke und Kinsky leidenschaftliche Kinogeher sind. Hier hoffen sie, die sich ihnen in der Alltags- oder Allerwelt nicht mehr zeigenden Bilderscheinungen erschauen zu können. Es wären ephemere Augenblicke des Glücks, wenn sie denn gelingen. Über das »Was« ihres Kino-Sehens und den Auswirkungen auf das »Wie« erfahren wir bei Kinsky nur wenig; Filmtitel werden eingestreut wie Garnierungen. Das ist beabsichtigt, hält die epische Erzählung am Leben und stört nicht den wunderbaren Rhythmus ihres Schreibens. Und es macht gleichzeitig Hoffnung (da ist sie wieder!) auf eine weitere Kinoerzählung vom Träumen und Wundern in und mit Filmen.