Notizen, Aphorismen, kurze Ereignissplitter oder einfach nur Erschautes und Reflexives von Alltäglichem: in den letzten Jahren zieht mich diese Form von Literatur immer mehr an. Der »große Roman«, die kunstvolle »Short-Story« – schon recht. Aber manchmal spürt man zu sehr den Willen oder auch den Widerwillen des Autors, eine Geschichte vorantreiben zu müssen. Dieser Zwang entfällt in dieser Kürzestprosa (die freilich andere Fallstricke aufweist).
Rothmanns Notizen mit dem lyrischen Titel Theorie des Regens umfassen den Zeitraum von 1973 bis 2023, also satte fünfzig Jahre. Dabei zeigen die nur etwas mehr als 200 Seiten, dass hier eine Auswahl vorliegt. Die Eintragungen sind chronologisch, aber ab und zu stockt die Zeitfolge und Rothmann beginnt zu bilanzieren, sich mit dem heutigen Wissen zu erinnern, etwa wenn er »das kalte, taschensoziologische Menschensortieren in der Literatur dieser frühen achtziger Jahre« kritisiert, übrigens, wie er bekennt, »auch zwischen meinen Zeilen«. Manchmal werden, so hat man das Gefühl, bewusst Jahreszahlen eingefügt, damit der Leser einen Überblick erhält.
Der Vorteil des nicht sonderlich mit dem Werk vertrauten ist die Unvoreingenommenheit, mit der man die Lektüre begeht. 1973 ist Rothmann 20 Jahre alt, lebt im als eng empfundenen West-Berlin und ist praktisch mittellos. Es ist die Zeit der »Geburt des Erzählers aus der Lieblosigkeit«, »befangen in einer manischen Augenblicklichkeit«. Für 600 Mark stellt er sich als Strohmann für einen Autokäufer im Iran zur Verfügung und macht sich mit anderen Strohmännern und einem Käufer auf den Weg nach Teheran. Es ist eine von mehreren Reisen, die atmosphärisch dicht skizziert werden. So wie dieser Amerika-Trip zehn Jahre später, mit Aufenthalten in New York, Mexiko-City, Tijuana, Acapulco, schließlich Ecuador und Peru (zu Zeiten des »Leuchtenden Pfad« gefährlich). Umwerfend darin die Episode einer Gebirgstour mit dem furzenden Fósforito, dem seinerzeit klügsten Pferd in Ecuador; eine Geschichte mit einer mystischen Pointe.
Rothmann schreibt damals Gedichte und 1984, auf seiner Reise, erscheint im kleinen Verlag Harald Schmid sein erstes Buch, »schlechter Druck, schiefe Bindung, fades Cover« – aber immerhin. Nach Gogols Die toten Seelen beginnt er Prosa zu schreiben, benutzt hierfür dann jahrelang seine »Gabriele« (auch noch als das »e« defekt ist). Immer wieder wird Rothmann über die Notwendigkeit seines Schreibens für sich reflektieren und die Reaktionen hierauf gewichten. Seine Beobachtungsgabe ist luzide, etwa wenn es darum geht, dem jungen Lyriker zu attestieren, »dass er seinen Ton noch nicht gefunden habe«. Dabei, so Rothmann, »ist sein Pathos oft nichts anderes als Wut über die Ohnmacht der Sprache.« Stellt man dann irgendwann fest, dass er seinen Ton gefunden habe, dann wird gesagt, er sollte »ihn schleunigst ändern.« Ähnliche Ambivalenzen wird er später in der Literaturkritik zu seinen Prosaarbeiten ausmachen und vorsichtig andeuten.
Es gibt auch Lektüreeindrücke. Peter Handke ist der »Held seiner Jugend« (er begegnet ihm zum ersten Mal 1992). Bei Ernst Jünger fällt ihm »Buttercremetorte mit Blut« ein. Thomas Mann ist »der traurige und verklemmte Angestellte seiner eigenen Prosa«; er bewertet Heinrich Mann viel höher. Das sagt der Thomas-Mann-Preisträger 2023, aber er ist nicht der erste, der diesen Preis erhält und den Namensgeber nicht schätzt. Bei einem anderen, noch lebenden Autor, der nicht genannt wird, überkommt ihm »Ekel vor so einer gewissenlosen Schreibe« (er ist am Einstecktuch leicht zu identifizieren). Er hebt zu einem Hymnus über Leo Tolstoi an und lobt die großen Kurzgeschichtenerzähler (»Tschechow, Cortázar, Carver, O’Connor, Polgar oder Böll«), die alle Humanisten gewesen seien, »und das ist der Grund dafür, dass es von ihnen keine wirklich misslungenen Texte gibt.« Später wird er sich daran stören, wenn sich jemand selber zum »Dichter« macht; für ihn ist dies »ein Prädikat […], ein Titel, über den andere zu befinden haben.« Und er zählt die Lieblingsfilme seines »geistigen Heranwachsens« auf, entdeckt als Gemeinsamkeit eine Melancholie, die als etwas »Beflügelndes« definiert wird.
Bewegend, wenn er vom Sterbebett seines Vaters erzählt, dem »lebenslang hart Arbeitenden«, schließlich frühpensionierten Bergmann und »rauchenden Alkoholiker«, bis zum Schluss mitleidlos gegen sich selber. Nie vergisst Rothmann seine Herkunft; die Vernachlässigungen in der Kindheit werden besonnen und klaglos erzählt. Berührend aber nicht rührig die letzte Begegnung 2002 mit dem bereits gezeichneten Siegfried Unseld. Gegen Ende der Aufzeichnungen begleitet er eine 90jährige Freundin, die für ihn jahrzehntelang Lotto gespielt hatte, in den Tod. Ihr letzter Wunsch war ein Zitroneneis. »Der Tod ist nicht ironisch«, schreibt er. Überhaupt: Er ist kein Freund der Ironie. Und noch weniger des Zynismus.
Die Grundstimmung des Buches heiter-melancholisch, wie sich an der Episode der blinden Kinogeherin zeigt, die den Dürrenmatt-Film mit so großem Interesse verfolgte und »auf der Treppe zum Foyer erzählt, was alles sie [von Dürrenmatt] gelesen habe« und nun leider nicht das Schwyzerdütsch versteht. Es gibt gelungene Aphorismen und skurrile Beobachtungen wie »Je größer die Länder, desto weiter stehen die Grabsteine auseinander.« Während eines Aufenthalts in einem Trabergestüt in der Schorfheide wird er plötzlich aufgrund des Personalmangels zum »Pferdeknecht«. Die zahlreichen Umzüge innerhalb der Stadt machen ihn zum Berlin-Chronisten. Unverdrossen schildert er seine Leseverwechslungen, die einmal darin gipfeln, dass er seiner Lebensgefährtin Anja nach einem Streit zum »Valentins-Tag« Rosen schickt. Aber es war August, und es war ein »Veltins-Tag«. Insgesamt sind die privaten Einschübe mit und über seine Frau (»achtunddreißig Jahre« sind sie am Ende zusammen) liebevoll und glücklicherweise diskret. Selten wird Rothmann kokett, etwa wenn er sich seines mühsam erworbenen Unwissens vergewissert. Am Ende fast schon ein bisschen altersweise: »Man ist schneller Anachronist, als die Zeit vergeht.« Immerhin: » ‘Alltag’ ist ein festliches Wort.«
Leider hat die Be- und Überarbeitung der Notate dazu geführt, dass Rothmann in der Paarform gendert und die grässliche wie unsinnige Formulierung »Studierende« verwendet wird. Davon abgesehen, ist dieses Buch ein einziges Vergnügen.
Danke. Beim Lesen dieser Besprechung entstand der Wunsch, dieses Buch zu erwerben!