Irgendwie scheint es in Deutschland eine Fixierung auf den Zeitabschnitt »sechzehn Jahre« zu geben. Als wäre damit eine besondere Form von Qualität und Leistung verbunden. Helmut Kohl und Angela Merkel etwa waren sechzehn Jahre Bundeskanzler. Und jetzt kommt Kai Diekmann mit seinem Buch daher und erzählt seine sechzehn Jahre als Bild-Chef. Um es nicht zu kompliziert zu machen, werden Chefredakteursposten, Herausgeberschaft und ein Auslandsjahr einfach addiert. Egal, für den Zeitraum vom 1.1.2001 bis 31.1.2017 gilt: Ich war BILD. Und das beschreibt er auf mehr als 500 Seiten in zwölf Kapiteln garniert mit Faksimiles von vielleicht nicht immer so bedeutenden Schriftstücken wie handschriftlichen Redeentwürfen (von sich und anderen), halblustigen Briefen, unter anderem ein Anschreiben zur Spesenabrechnung an Mathias Döpfner, seinem Chef, Dutzenden von Bildern von Begegnungen (und Widmungen!) mit diversen US- oder sonstigen Präsidenten oder einfach nur Stars und Sternchen (etliche davon kenne ich gar nicht). Trophäenstrecken nach dem Halali, das jetzt schon sechs Jahre vorbei ist.
Dabei soll es »keine belanglose Anekdotensammlung aus dem Büro des BILD-Chefredakteurs« sein, wie der Autor am Ende noch einmal betont, vielmehr eine »unerwartete Seelenreise«, wobei ich mir sofort die Frage stelle, für wen dieses »unerwartet« gilt – für den Autor, die geschilderten Persönlichkeiten (etliche davon sind tot) oder den Leser, aber das ist eigentlich egal.
Diekmann beginnt sein Buch mit den Ereignissen um den Bundespräsidenten Christian Wulff 2011, die im Februar 2012 zu dessen Rücktritt führten. So gibt es ein Transkript der ominösen »Mailbox«-Nachricht, in der von Dingen die Rede ist, die über »das Erlaubte« hinausgehen, den »Bruch mit dem Springer-Verlag« androhen und einen »Krieg« in Aussicht stellen. Diekmann schildert, warum man die Nachricht nicht veröffentlichte, wie dann doch einzelne Inhalte durchsickerten und verpasst sich einen Heiligenschein, in dem er noch einmal betont, dass er den Fokus der Debatte lieber auf die Finanzierung von Wulffs Haus gesehen hätte. Und weil das so ist berichtet er im weiteren Verlauf darüber gar nichts – vermutlich deshalb, weil es da wenig bis nichts zu skandalisieren gab außer einer Ungenauigkeit von Wulff.
Stattdessen wird ausgebreitet, wie man Wulff und seine Frau Bettina einst in mehreren Homestorys als die neue, moderne Patchwork-Familie inszenierte. Man lud sich gegenseitig auch privat ein, und der Bundespräsident fragte sogar um einen Rat (den er dann nicht befolgte). Insgeheim kann Diekmann sein Glück heute noch nicht fassen, dass Wulff sein Gewinsel auf die Mailbox sprach. Damit erlangte Bild schlagartig den Status eines seriösen und vor allem relevanten Mediums. Dass mit der scheibchenweisen Enthüllung der Affektnachricht ordentlich Öl ins Feuer gegossen wurde, lässt er nicht gelten. Wulff habe sich eben im Laufe des Amtes »leider nicht zum Guten« verändert und »die Bodenhaftung« verloren. Begründet wird dies vor allem mit einer humorlosen Reaktion auf einen Witz. Im Nebensatz erfährt man pflichtschuldig, dass von den diversen Anschuldigungen des Meutenjournalismus nur eine Petitesse übriggeblieben war. Was die Gerüchte über Bettina Wulffs Vergangenheit in einem Rotlichtlokal angeht – hier gibt sich Diekmann ritterlich und vertraut den Antworten der Wulffs auf die Fragen seines Investigativjournalisten. Und er war sich sicher: Wenn Bild diese Gerüchte nicht weiter aufnimmt, schweigen die anderen auch. Er behielt recht.
Diekmann wollte unter seiner Leitung die Bild-Zeitung von ihrem Schmuddel-Image befreien. Daher die Annäherung an Günter Wallraff, dem er die Aufarbeitung einer Abhöraffäre von 1976 versprach, in der Bild und der BND verwickelt waren. Das Projekt scheiterte, weil der BND die entscheidende Akteneinsicht verweigerte. Stattdessen gab es ein paar Essen und ein öffentliches Tischtennismatch zwischen dem Bild-Chef und dem Mann, der mal Hans Esser war. Wallraff blieb bei seinen Vokabeln gegenüber dem Organ Bild, exkulpierte aber so weit es ging Diekmann. Dieser bezichtigt Wallraff weiterhin, »Verschwörungstheorien« zu verbreiten. Immerhin: Die Charmeoffensive brachte Diekmann die Punkte, nicht Wallraff.
Ähnlich versuchte Diekmann, seine Hassliebe zur taz zu restaurieren, die von der Strafanzeige von der Satire über seinen Penis über die »Feindes-taz« (Diekmann übernahm auf Einladung der damaligen Chefin Bascha Mika mit seiner Entourage für einen Tag die Redaktion und legt Wert darauf, dass es die am besten verkaufte taz aller Zeiten sein soll) bis zur Penis-Skulptur (Progressive und ihre Penis-Fixierung!) von Peter Lenk am damaligen taz-Gebäude. »Da ist dann immer ein großes Hallo und viel Spaß«, sagt schon die Spielwarenverkäuferin bei Loriot. Journalismus am Limit.
Griffiger sind die Kapitel, in denen sich Diekmann mit der jüngsten deutschen Politik und deren Protagonisten beschäftigt. Wie nicht anders zu erwarten, gibt es ein ausführliches Kapitel über Helmut Kohl, den er immer noch vorbehaltlos verehrt. Es erstaunt, wie stark er mit Kohls Beerdigung und den Trauerzeremonien befasst war. Hiervon ist detail- und tränenreich die Rede. Und dazu gehört, dass die Kohl-Söhne bei ihm – freundlich ausgedrückt – sehr schlecht wegkommen. Er weist mehrmals auf deren berufliche Erfolglosigkeit hin, bezichtigt sie indirekt der Geldgier (weil sie schon zu Lebzeiten größere Geldsummen erhalten haben sollen, die ihnen jedoch nicht ausreichten) und der Verbreitung von Falschaussagen. Der Leser nimmt es zur Kenntnis; überprüfbar ist es nicht. Und, ehrlich gesagt, auch ziemlich irrelevant.
Interessanter ist die Beschreibung, wie es zu der obsessiven Verehrung Diekmanns für Kohl kam, die schließlich in diesen Suaden von unerträglicher Sentimentalität und Heiligenverehrung münden. Und dann das Sakrileg an »diesem Herbstabend 1998«. Er wurde »nun selbst Zeuge davon, wie brutal Politik sein kann. Ein Jahrhundertpolitiker, dem die Deutschen nicht nur die Einheit, sondern auch die europäische Einigung verdanken. Ein großer Staatsmann, den man jetzt mit Füßen tritt.« Der Herbstabend ist der 27. September 1998 – der Tag, an dem Helmut Kohl in der Wahl zum Deutschen Bundestag gegen seinen Herausforderer Gerhard Schröder verloren hatte. So etwas nennt sich Machtwechsel; ein für eine Demokratie normaler Vorgang, weit entfernt von Fußtritten. Die »europäische Einigung« war ein Prozess; wie auch die deutsche Einheit betrieb Kohl eine wohl dosierte und, was die Einheit angeht, leidlich erfolgreiche Scheckbuchdiplomatie. Die Fehler bei der Formulierung und Umsetzung der Maastricht-Verträge (Stichwort: Konvergenzkriterien), die Jahrzehnte später zu schweren, auch politischen Verwerfungen innerhalb der Eurozone führten, liegen nicht zuletzt auch in der Regierungsverantwortung von Kohl.
Aber es geht weiter bei Diekmann: »Nur ein Jahr später wird die CDU-Spendenaffäre sein politisches Erbe in den Dreck ziehen.« Es ist also nicht Helmut Kohls vermutlich gesetzwidriges Verhalten (das Verschweigen der Spender – falls es welche gegeben hat), was Diekmann hier kritisiert, sondern die Versuche, dies aufzuarbeiten. Am Ende heißt es dann: »Das Leben ist so ungerecht mit Helmut umgegangen.«
Loyalität, Bewunderung, Verehrung – in allen Ehren. All das kann man gerne im trauten Zusammensein mit Maike Richter-Kohl oder wem auch immer pflegen. Aber diese Jeremiaden streifen nicht nur den Kitsch – sie sind es. Einen ähnlichen Ton wird er später bei Gerhard Schröder anschlagen, obwohl hier keine Verehrung im Spiel ist (auf die Reibereien zwischen Bild und ihm zu dessen Kanzlerzeiten wird natürlich ausgiebig referiert). So wird Schröders Kameraderie mit Wladimir Putin als eine Fortsetzung der »auf Freundschaft und Handreichen basierten« Politik von Kohl und Gorbatschow interpretiert. Der russische Angriffskrieg gegenüber der Ukraine habe, so Diekmann, »nicht nur Gerhard Schröders Reputation, sondern im Grunde sein Lebenswerk zerstört.« Der Unfug dieser Aussage wird auch nicht dadurch gemildert, dass er später im Rahmen einer Reise nach Moskau und Kiew mit dem österreichischen Bundeskanzler Nehammer (Diekmann ist »Berater« – wozu auch immer) auch Butscha besuchen wird und erschüttert ist. Stattdessen räsoniert er über »Putin 1« und »Putin 2« und sucht einen Ausweg aus der selbstverschuldeten Fehleinschätzung. Zu Beginn rühmt er sich noch, Putin 2001 nackt gesehen zu haben. Es ist diese Mischung aus Einfalt und dummdreistem Narzissmus, der einem immer wieder die Lektüre vergällt. Da nimmt es kaum Wunder, dass die Diskussion um die fahrlässige Fixierung auf Russland in der Energieversorgung von ihm eine »absurde Debatte« genannt wird.
Getrübt ist auch Diekmanns Blickwinkel in Bezug auf Gorbatschow und dessen Aussage, dass man ihn 1990 getäuscht habe, in dem man versprochen hatte, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Zwei Mal lässt Diekmann Gorbatschow dies erklären, allerdings ohne darauf hinzuweisen, dass »Gorbi« hier durchaus unterschiedliche Interviews gegeben hatte. Die Aussage entbehrt, sollte sie so getätigt worden sein (Übersetzung!), jeder Grundlage. Eine »Osterweiterung« kann gar nicht ausgeschlossen worden sein, weil sie geopolitisch gar kein Thema gewesen sein kann. Denn 1990 existierten sowohl die Sowjetunion als auch der Warschauer Pakt noch; kein westlicher Politiker wäre auf die Idee gekommen, über die damaligen Satellitenstaaten der UdSSR zu verfügen. Tatsächlich wurde zunächst zugesagt, dass keine ausländischen (NATO-)Truppen vor einem endgültigen Abzug der Sowjettruppen einrückten. Damit sollten potentielle Konflikte vermieden werden. Vergeblich wird man bei Diekmann etwas über das »Budapester Memorandum« oder den »NATO-Russlandrat« lesen; Dokumente und Verträge, in denen Russland die staatliche Souveränität der einstigen UdSSR-Republiken garantiert hatte. Stattdessen schwadroniert er über »Vertrauen ohne das es nie zur Einigung und Einheit gekommen wäre«. Die Resultate dieses »Vertrauens« kann man seit 2014 sehen und sieht sie jetzt in der Ukraine.
Diekmann war sich seiner Rolle sehr wohl bewusst. Es war seine Entscheidung, »wer auf die XXL-Bühne…darf«, wer »die hellen Scheinwerfer bekommt, um mit seinen Botschaften ein Massenpublikum zu erreichen.« Er war, und das gibt er zu, »nicht mehr nur journalistische[r] Beobachter«, sondern Akteur. Dabei schaut man »dem Volk aufs Maul – aber wir reden ihm nicht nach dem Mund.« So war er und demnach auch Bild 2003 für den Irak-Krieg von George W. Bush (was in einem Halbsatz schüchtern vermerkt wird). Und auch in der Flüchtlingskrise 2014 folgte das Blatt nicht den Kritikern der unkontrollierten Einwanderungen, sondern verteidigte Merkels Maßnahmen (ansonsten erscheint die ehemalige Bundeskanzlerin verblüffend selten im Buch, vermutlich deswegen, weil sie sich den unkontrollierbaren Umarmungen des Bild-Trompeters immer entzogen hatte).
Je nach Einschätzung ist man über Diekmanns Vorbilder verwundert – oder eben nicht. Im Wallraff-Kapitel gibt es einen kurzen Einschub zu Günter Prinz, dem Bild-Chef zwischen 1971 und 1981. Es ist die Zeit, als Heinrich Böll Die verlorene Ehre der Katharina Blum schrieb. Prinz trieb, wie es heißt, »die Auflage auf schwindelerregende fünf Millionen.« Aber: »Das hatte seinen Preis. ‘Wenn du die BILD quer hältst, fließt Blut raus’, war damals ein geflügelter Satz.« Diekmann nennt diese zehn Jahre die »dunkelste Vergangenheit des Blattes«. Prinz sei »Menschenfänger und Menschenverächter in einer Person« gewesen, aber »ein genialer und gefürchteter Blattmacher.« Als Journalist ist er für ihn »ein Idol«. Um die Kurve zu bekommen, wird ergänzt: »Seinen Blick auf Menschen kann ich nicht teilen.« Auch in seinem (kurzen) Kapitel über »Pepe«, Peter Boenisch (mit dem Lapsus, Boenisch habe »russische Wurzeln«, denn seine Mutter kam aus Odessa), der zehn Jahre vor Prinz die Bild leitete, kommt Diekmanns Journalismus-Ideal zum Vorschein. Für ihn ist Boenisch, der »die Auflage auf sagenhafte vier Millionen Exemplare« puschte (bevor dann Prinz – siehe oben – noch einmal eine Million mehr schaffte), eine Legende, was sich über seine Anfeindungen zu definieren scheint: »Zeit seines Lebens ist Pepe die Galionsfigur eines konservativen Journalismus und als Frontkämpfer des Verlegers Axel Springer einer der meistgehassten Journalisten des Landes.« Erst also der »Frontkämpfer«, dann der »Menschenverächter«. So sehen also die beruflichen Idole des Kai Diekmann aus.
Inzwischen ist die Auflage der Bild-Zeitung kontinuierlich abgestützt. Aber die Wahrheit ist, dass auch alle anderen Printmedien stetig Auflage verlieren. Dennoch ist bemerkenswert, dass in den 1980er Jahren, als Bild 5 Millionen Exemplare täglich druckt, der Anteil an der Gesamtauflage der Zeitungen (rd. 33 Millionen) wesentlich höher war als heute (1 Mio. Bild zu rd. 11 Mio. Druckerzeugnisse gesamt). Auch die Reichweite der Bild-Erzeugnisse sinkt.
Es ist nur folgerichtig, dass Diekmann Hanns Joachim Friedrichs Diktum vom Nicht-Gemein-Machen mit einer Sache ablehnt. Hier finden sich die Gemeinsamkeiten mit den sich progressiv-links verstehenden Journalisten. Bei Diekmann mündet es in das allgemeine Bekenntnis: »Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Verschiedene Wahrheiten können sich diametral gegenüberstehen.« Man kann leicht argumentieren, dass die Aussage, dass es keine Wahrheiten gibt, selber vorgibt, wahr zu sein. Aber mit solchen Spitzfindigkeiten kommt man nicht weiter. Die Aussage, dass es »verschiedene Wahrheiten« gibt, ist natürlich kompletter Unfug. Tatsachen unterliegen keinem Ermessensspielraum; den gibt es höchstens im Fußball bei der Bewertung von Spielsituationen durch den Schiedsrichter. Der Eindruck, dass es verschiedene Wahrheiten gibt, kommt immer dann auf, wenn einzelne Aspekte, die ein umfassendes Bild vermitteln sollen, weggelassen oder falsch wiedergegeben werden und nur eine Sicht der Dinge propagiert wird, die als die einzig »richtige« Interpretation gilt, ohne dass diese Manipulation dem Rezipienten ohne weiteres erkenntlich ist.
Am Beispiel von Gorbatschows Aussage zur NATO-Osterweiterung kann man dies illustrieren. Selbstverständlich kann Diekmann im Rahmen eines Interviews die Aussage, dass USA und Europäer ihr Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszuweiten, gebrochen haben, aufnehmen und publizieren. Wenn er nicht in der Lage war oder es nicht sein wollte, diese Aussage zu befragen, ist er auch nicht verpflichtet, dies im Rahmen eines Interviews nachträglich zu ergänzen oder gar zu korrigieren. Im Sinne, dass die Aussage von Gorbatschow getroffen wurde, bleibt sie »wahr«. Aber sie ist keine historische »Wahrheit«, sondern eine Interpretation des Gesprächspartners Gorbatschow, die nicht nur im Widerspruch zu Äußerungen anderer Beteiligter steht, sondern zudem den damals geopolitischen Gegebenheiten widersprach (siehe oben).
Der Diekmann, der die »Wahrheit« als multiples, indifferentes Wesen darstellt, ist der gleiche Diekmann, der im Brustton der Überzeugung der Fotografie das Wort redet: »Ohne Bilder kein Sehen. Ohne Sehen kein Begreifen.« Er zitiert ausgerechnet Julian Reichelt, wenn es darum geht, ob ein Foto gezeigt werden soll oder nicht: »Nicht das Foto, das menschliches Leid dokumentiert, verletzt die Würde von Menschen – sondern der Krieg, der Terror oder unsere Feigheit, einzuschreiten. Das Foto dokumentiert bloß die Welt.« Und Diekmann weiter: »Fotos beweisen und bewegen.« Letzteres ist eindeutig, und weil dies so ist, ist gerade bei Fotos die allergrößte Vorsicht geboten. Sie beweisen – insbesondere in der Zeit der »Photoshops« – zu oft gar nichts. Sie müssen nicht einmal gefälscht sein; der selektive Ausschnitt (sei es in der zeitlichen Abfolge oder auch nur bildlich) genügt schon, um den Sachverhalt in eine gewünschte Richtung zu manipulieren. Bilder – wie auch Texte – gehören immer in Kontexte eingebunden und gezeigt. Lässt man diese weg, ist der Weg zur Verfälschung frei.
Und sonst? Diekmann berichtet über seine Bedrohung und die dann folgende Dauerüberwachung. Sensationsberichterstattung am eigenen Leib erlebt er, als vor seinem Haus sein Wagen abgefackelt wird. Er nimmt einen syrischen Flüchtling mit seinen zwei Kindern auf – das Resultat ist am Ende ernüchternd. Neue, überraschende Erkenntnisse oder Einblicke aus dem Redaktionsalltag eines »Theaterdirektors« (Diekmann über sich als Bild-Macher), sind eher selten. Erstaunlich dabei, wie pikiert man reagiert, wenn einmal nicht genügend Platz für einen Vertreter der Bild-Gruppe im Regierungsflieger ist. Sofort wähnt man die Pressefreiheit in Gefahr. Interessant ist immerhin, wenn er bilanziert, dass Despoten, Autokraten oder Populisten im Umgang mit Journalisten (unter anderem auch Autorisierung von Interviews) »einfacher und unkomplizierter als viele demokratisch gewählte Regierungschefs« agierten (in diese Riege ordnet er auch sein Interview mit Donald Trump kurz vor dessen Inauguration ein). Der Grund ist einfach: Demokratisch gewählte Staatsoberhäupter haben »viel mehr zu verlieren« und müssen sich »nach allen Seiten hin absichern.« Welche Absurditäten dies annimmt, wird an einem »Interview« mit dem ehemaligen französischen Präsidenten Hollande gezeigt.
Das Kapitel über Promis ist enttäuschend. Man ahnte es immer schon: »Viele exklusive Promi-Geschichten müssen wir gar nicht mühsam recherchieren, die werden uns frei Haus geliefert.« Einige machen dann ein Doppelspiel, stellen sich öffentlich als Opfer dar, und schimpfen auf die Zeitung, die sie selber gefüttert haben. Die Beispiele, die Diekmann bringt, sind anonymisiert (Quellenschutz!) und auch in ihrer Schilderung eher belanglos, so dass man sich nicht bemüht herauszufinden, wer jetzt »Nina van Bellhuis« und »Gerlinde Gröbenhagen« in Wirklichkeit sind. Überhaupt ist der ehemalige Bild-Chef recht diskret. Während er sich über Witze von Harald Schmidt und Gerhard Henschel ärgert, bleiben die verächtlichen Texte von »Kollegen« anonym; man muss über das Medium und Zitate den Urheber herausfinden. Dazu passt seine Wortkargheit bezüglich seiner Nachfolger. Ein kleiner Nebensatz bleibt: »Auch wenn ich mir ohne Frage eine glücklichere Entwicklung gewünscht hätte.« Und Diekmann droht mit einem neuen Buch.
Ich war BILD ist ein schmissig geschriebenes Poesiealbum mit deutlichen Spuren von Selbstbeweihräucherung und reichlich Betroffenheitskitsch. Ähnlich wie Jan Böhmermann kein Satiriker und Günter Wallraff kein Schriftsteller ist, so wird deutlich, dass Kai Diekmann kein Journalist ist. Er ist ein Arrangeur, ein Kampagnenschreiber, der sein je subjektives Urteil zu Gunsten einer, nämlich seiner »Sache« propagiert und vor allem aus »Scoops« aus ist. Dass Journalisten eine weltanschauliche Sicht und politische Präferenzen hegen, ist das eine. Das andere ist, wenn diese Sicht pädagogisch-missionarisch den Rezipienten serviert wird. Diekmanns gesuchte Nähe zu den Dauerfeinden des Springer-Verlags war nur folgerichtig: Genau wie diese ihren schreiberischen Aktivismus pfleg(t)en, so rotzte er als Bild-Chef seine »L’État-c’est-moi«-Kampagnen in die Öffentlichkeit. Die »Stärke« seines Agendasettings war, dass der Ausschlag eines Pendels für Freund und Feind weniger kalkulierbar war. Und doch: Nach der Lektüre fragt man sich, warum man glaubte, dass einem dieses Buch interessieren könnte.
Einiges stimmt: demokratisch gewählte Staatsoberhäupter sind immer auf der Flucht vor der Presse. Und die moralisch übermotivierte Gesinnungspresse hat ebenso wenig mit der Wahrheit am Hut wie der Scoop-Paparazzi. Dass sich häufig verschiedene Wahrheiten »diametral entgegen stehen«, stimmt auch, wenn man bereit ist, diese Sachverhalte als »vorläufige Wahrheiten« zu klassifizieren. Ganz am Schluss sollte sich alles fügen... Was gar nicht stimmt, ist die BILDTHEORIE. Meine Güte, diese unterstellte Nützlichkeit von bildhaften Darstellungen ist psychologisch vollkommen falsch, weil Bilder lügen. Weil Bilder immer lügen! Wir sind keine objektiven Beobachter, wir sind keine optischen Wahrheitsfischer, wir sehen immer, was nicht da ist, und verpassen vive versa den »Mann im Bärenkostüm unter dem Basketballkorb« (witziges Wahrnehmungsexperiment).
Naja, ein Chefredakteur einer Zeitung, die »Bild« heißt, muss natürlich am Dogma des Bildes hängen.
Es war wie fast immer mit solchen Büchern: Eigentlich Zeitverschwendung. Ich kann wohl nicht anders, als immer wieder neu hereinzufallen.