Austrian Psycho ist ein Versuch, das intellektuelle Österreich von Jack Unterweger zu exorzieren.
»Alles ist Verwandlung.« So beginnt der Journalist und Publizist Malte Herwig seine Biographie Meister der Dämmerung über den Schriftsteller Peter Handke. Und er fügt hinzu: »Wer die Biographie eines Künstlers schreibt […], sollte sich eine Neugier auf die Metamorphosen bewahren, die zwischen Kunst und Welt hin- und herführen.« Herwigs Neugier beschränkt sich nicht nur auf Künstler wie Handke. Das Thema der »Verwandlung« ist der rote Faden in all den bisherigen größeren Recherchearbeiten Herwigs. Da sind die Flakhelfer, 17, 18jährige, die 1944/45 Mitglied in der NSDAP geworden waren, und dies, so das Ergebnis der Nachforschungen, mit ihrem ausdrücklichem Wunsch, da es keine »automatischen« Parteimitgliedschaften gab. Aber diese Menschen wurden nach 1945 zu Säulen der neuen, demokratischen und pluralistischen Bundesrepublik. Herwig wollte nicht die Lebensleistung dieser Leute diffamieren. Es ging um die Suche nach der Erklärung der Verwandlung von verblendeten Nazi-Anhängern zu Demokraten. Eine andere Metamorphose erlebte er bei der Picasso-Geliebten Françoise Gilot, die sich irgendwann dem vermeintlichen Genie als bloße Gespielin verweigert hatte, ihren eigenen Weg ging und eine angesehene Malerin wurde – trotz aller Anfechtungen und Ranküne aus dem Betrieb. Einige Jahre später konzipierte Herwig einen wunderbaren Podcast über die sogenannten Hitler-Tagebücher. Der Verwandlungskünstler hieß diesmal Konrad Kujau, der sich als imaginärer Adolf Hitler in eine Art Rausch geschrieben hatte. Aufklärerisch wollte dieser Betrüger nicht wirken, sondern nur sein Vermögen aufbessern. 2021 entdeckte Herwig die Verzauberungen des »Großen Kalanag« alias Helmut Schreiber, eines Magiers, der nicht nur die Varietés in Europa und Amerika, sondern auch seine Nazi-Sympathie als Alleinunterhalter bei der Familie Göring Weihnachten 1938 »verwandelte«.
Nun also der Frauenserienmörder Jack Unterweger. 2022 recherchierte Herwig für den insgesamt sechsstündigen Podcast »Jack. Gier frisst Schönheiten«. Auch hier beließ er es nicht bei den üblichen Erklärungen, die man in jeder True-Crime-Doku zu hören bekommt. Herwig besuchte die Heimatkeusche Unterwegers in Kärnten, fand Zeuginnen, die ihn kannten, mit ihm als Kind zusammenlebten. Er zitiert aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Unterwegers »Gedichten« (die zumeist Plagiate sind), seinem gefeierten Roman Fegefeuer und den anderen, weniger brillanten Büchern, die danach entstanden. Es gibt Originalmitschnitte aus Interviews mit Unterweger, den Reportagen und seinen Telefongesprächen mit der Ex-Verlobten. Er befragte ehemalige Geliebte, Ermittler, den stellvertretenden Gefängnisdirektor, der Unterweger immer durchschaute, dessen Urteil jedoch niemand hören wollte. Bei aller Faszination über die Verwandlungsfähigkeit Unterwegers, werden die Taten und deren Opfer nie vergessen. Vieles war neu, wie auch Elfriede Jelineks Sprachnachricht, in der sie fast fehlt, herauszubekommen, wer Fegefeuer wirklich geschrieben hat.
Unterweger galt in den 1980er Jahren als Beispiel einer gelungenen Resozialisierung; man setzte sich mit Petitionen für ihn ein, Politiker träumten einen Zeitgeist einer »gefängnislosen Gesellschaft« herbei. Der brutale Mord an einer hilflosen Frau wurde »vergessen« (später häufen sich die Indizien, dass es schon in den 1970er Jahren mehrere Morde waren). Unterweger kam schließlich frei, reüssierte mit seinem Buch, wurde vom ORF als »Rotlichtkorrespondent« eingesetzt. Da hatte er bereits mit weiteren Morden begonnen. Als er nach Los Angeles ging, wurde er zum ersten »transatlantischen Mörder«. Am Ende wurde er für neun Morde schuldig gesprochen; die Fassade zersprang, die Verwandlung war entblößt. Noch am Tag der Urteilsverkündung brachte sich Unterweger um.
Und nun also noch ein Buch von Malte Herwig über Jack Unterweger. Warum? Gibt es Neues? (Eher wenig.) Ist nicht alles gesagt? Der Titel macht zunächst einmal neugierig: Austrian Psycho. Eine Anlehnung an Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho, in dem der Investmentbanker Patrick Bateman sich regelmäßig als Mörder betätigt, seine Opfer zuweilen ausweidet und bestimmte Körperteile im Kühlschrank sammelt. Das Coverbild vom Austrian Psycho zeigt ein Foto von Jack Unterweger unter zerbrochenem Glas.
Austrian Psycho beginnt mit einem sich bewusst anonym haltenden Erzähler, der von Malte Herwig den Auftrag hat, seine Erlebnisse und Eindrücke zu Jack Unterweger aufzuschreiben. Dieser Schreiber – ich nenne einfach X – wurde, so erfährt man später, wie Unterweger 1950 geboren, lebt in Wien, ist ganz gut im Literaturbetrieb vernetzt, sitzt in Jurys, bekommt wohlwollende Rezensionen und hegt den üblichen Österreich-Tick auf die deutschen Piefkes. Bei der legendären Gefängnislesung Unterwegers 1983, als dieser aus seinem Fegefeuer-Roman öffentlich las, war er dabei und wie viele andere auch begeistert von dieser wuchtigen Prosa, die ihn zu einem Darling der Intellektuellen machte. Bis zum Schluss hoffte X auf einen Freispruch, war überzeugt von der Unschuld Unterwegers und muss nun durch Herwigs Fakten langsam aber sicher seine Ansichten revidieren.
Herwig besucht X mehrmals, bringt ihm sogar Fast-Food ins Haus, konfrontiert ihn mit seinem Kassettenrekorder mit immer neuen Erkenntnissen und zerstört einige lang gepflegte Mythen. X mag Herwig nicht besonders, er hält ihn für einen Zyniker, einen flapsig formulierenden Besserwisser, dem jede Zeile suspekt sei, »jedes Wort ein Verdachtsfall«. X mag es kaum akzeptieren, als Herwig eine Stelle aus Fegefeuer zitiert, in der ein weiterer Mord angedeutet wird (der bis heute ungesühnt bleibt). Herwig treibt X an, zu einem imaginären Termin Zeugnis abzulegen. Er ist überrascht, dass Herwig, als es um die Opfer geht, entgegen der sonstigen Gewohnheiten, plötzlich aufbraust, sich »ereiferte sich über die ›verfickte Einäugigkeit von euch feinen Literaten‹« und dies nur, weil X sich für die Opfer nicht besonders interessiert, sie für ihn »namenlos« bleiben.
Wer etwas bewandert in literarischen Genres ist, erkennt rasch, dass es diesen Schreiber gar nicht gibt. X ist eine Person (oder auch ein Milieu), in die sich Malte Herwig verwandelt hat, die nun über den Deutschen und seine Unterweger-Recherchen die Nase rümpft, weil sie sein über die Jahrzehnte gezimmertes Weltbild zusammenstürzen lassen. Indem sich Herwig zeitweise in einen 73jährigen Schickeria-Wiener verwandelt, stellt er auch seine eigenen Nachforschungen auf dem Prüfstand, kann aber eben auch dezidiert Stellung nehmen. Die Neutralität des Berichterstatters wird damit gebrochen. Es ist ein gelungener Kniff, der es ermöglicht, eine eigentlich bekannte Geschichte noch einmal neu anzusehen, ohne dabei in einen »sozialromantischen Sirenengesang« abzustürzen oder sich in die sattsam bekannten küchenpsychologischen Schablonen zu flüchten. Und eine ganz besondere Pointe hat Herwig auch noch, aber die wird nicht verraten.
Nein, Austrian Psycho ist keine einfache »Zweitverwertung«. Trotz einiger vergnüglicher Volten ist es zeitweise ein ernsthaftes Lehrstück, weil es zeigt, wie bereitwillig sich bestimmte Milieus, die sich ansonsten für unfehlbar halten, von Zeitströmungen blenden lassen, sofern das eigene Weltbild damit bestätigt wird. Man legt das Buch mit einem leicht unwohlen Gefühl zur Seite.
Um 1980 sind mir, damals noch Student, Beiträge von Jack Unterweger in der berühmten Literaturzeitschrift manuskripte aufgefallen. Sie ärgerten mich ob ihrer inferioren literarischen Qualität. Daß sie von Alfred Kolleritsch, dem hochgeschätzten, veröffentlicht wurden, verwunderte mich. Es ist tatsächlich so, die Kulturschickeria schmückte sich damals gern mit solchen Outlaws, künstlerische Kriterien wurden bereitwillig verdrängt, oder sie waren einfach nichts wert. Dasselbe geschah mit Otto Mühl, diesem faschistoiden Kunst-Scharlatan, der ehemaligen Vorzeigefigur des Aktionismus. Auch in diesem Fall dauerte es lange, bei die Schickeria einsah, daß sie sich – bereitwillig oder nicht – schwer getäuscht hatte.