2012 glänzte Maja Haderlap mit Engel des Vergessens Leser und Kritik. Hier erschrieb eine Autorin mit Leichtigkeit und Strenge ein immergültiges Denkmal über ihren Vater, der Großmutter und zugleich den Kärntner Slowenen, diesen »vielfach Versehrten«. Das Buch beeindruckte in seiner Vielschichtigkeit als Dorf- und Landschaftserzählung, Bildungsroman, Geschichtsbeschreibung und spannte einen epischen Bogen in die Familie der Erzählerin. Und nun also, vielfach erwartet, ja ersehnt, nach mehr als zehn Jahren Nachtfrauen, der neue Roman.
Nachtfrauen ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil, der ziemlich genau zwei Drittel des Buches einnimmt, erzählt aus personaler Sicht von Mira, die in heikler Mission zu ihrer Mutter nach Kärnten fährt. Mira ist Kärntner Slowenin, lebt aber seit ihrem Studium in Wien, wurde widerwillig zu einem »Stadtmenschen«. Sie arbeitet als Fachreferentin im Kulturbetrieb und ist verheiratet mit Martin, einem Lehrer. Das Paar ist kinderlos, die Ehe ist nicht spannungsfrei. Sporadisch besucht sie ihre Mutter. Ihr Vater, ein Waldarbeiter, kam bei der Arbeit ums Leben. Mira wurde hierfür eine Mitschuld gegeben. Der Tod des Vaters bzw. Ehemanns hat das Leben der Familie komplett verändert.
Anni, die Mutter, körperlich leicht gebrechlich, soll aus ihrem Haus in ein Heim umziehen, damit Franz, Miras Cousin, das Gebäude zu einer Tischlerwerkstatt umbauen kann. So wurde es beschlossen. Anni wehrt sich, formuliert Bedingungen, etwa, dass ihre Sammlung von Bauernwerkzeug vorher in ein Museum verbracht werden soll. Stanko, Miras Bruder, ist mit der Situation überfordert. Miras Besuch ist auf zwei Wochen angesetzt; es ist Frühling und bis Ende des Jahres soll der Auszug Annis stattgefunden haben. Es geht um Baugenehmigungen und Fristen.
Es ist für Mira eine andere Reise als sonst, was sich schon während der Autofahrt zeigt. Sie spürt »Heuaromen in der Nase« und sieht das Leuchten der Karawanken. Die Ankunft im fiktiven Jaundorf, einer Ortschaft, die nur aus fünf Bauernhöfen besteht, wird zum Betreten der einst »verlassenen Welt« mit Heiligenbildchen, Schimmelflecken im Dachzimmer und staubigen Kartons mit Erinnerungen aus Kinder- und Jugendtagen, die wie Erscheinungen über den Protagonisten zu schweben scheinen. Immer noch bedauert Mira das Slowenische, die »Sprache des Bekenntnisses«, nicht in Perfektion zu beherrschen. Dagegen Anni, die Mutter, die Zeit ihres Lebens und trotz der Schwierigkeiten, die ihnen Deutschnationale machten, immer Slowenisch gesprochen hat und Lücken im Deutschen hat.
Mira entdeckt beim Sichten der Unterlagen ihre alten Aufzeichnungen. Es sind Tagebücher, geschrieben als Kind und Jugendliche (»Nebel lag über den Sätzen«), Manuskripte vom Soziologie-Studium, Transkripte und Kassetten von Interviews mit Frauen. Sie befand sie sich »inmitten ihrer gelebten Jahre, die Kreise um sie zogen und an den Rändern verebbten.« Die persönlichen Tagebücher werden von ihr schließlich im Holzofen verbrannt; diese Zeit wird exorziert. Immer mehr dominieren die Befindlichkeiten Miras. Keine ihrer großen und kleinen Lebenskrisen wird ausgelassen. Es geht um Vernachlässigung, Kindesmissbrauch, die Enge der auf patriarchalischen Traditionen basierten Gesellschaft, in der Frauen als »Erbgut« betrachtet werden und zu schweigen haben und zugleich die Unterdrückung und Diskriminierung der slowenischen Minderheit. Eine ungewollte Schwangerschaft, ein Nervenzusammenbruch in der Studienzeit, Selbsthass, Panikattacken, Ehestreitigkeiten. Anni und Mira, die sich unterschwellig gegenseitig eine Mitschuld an ihrem teilweise als unerfüllt betrachteten Leben geben. Unversöhnlichkeiten im Verborgenen; merkwürdig, wie der Bruder aus all diesen Kämpfen herausgehalten wird. Anni, die Mutter, sieht bei Mira einen »Anflug von Bitterkeit«.
Schließlich trifft Mira nach siebenunddreißig Jahren zufällig Jurij, die Jugendliebe, der als Leiter einer Spedition beruflich in der Gegend zu tun hat. Mira lässt sich sofort auf eine Affäre mit ihm ein. Weitere Stereotypen bestimmen nun den Text und als wäre es nicht schlimm genug, werden ständig auch noch Erklärungen geliefert. Als beispielsweise Mira mit Jurij ein Hotelzimmer nimmt, denkt der Leser an mittelmäßige Filme, bei denen nach dem Schließen der Hoteltür die beiden Liebenden sofort übereinander herfallen. Und genau dies wird im Roman thematisiert, nur um dann festzustellen, dass genau das nicht geschieht.
Mit der Mutter werden einige Ausflüge unternommen, ehemalige Freundinnen Miras besucht, Gräber in Augenschein genommen (die fromme Anni grüßt die Toten wie Anwesende). Man bleibt in der Vergangenheit, kultiviert Anekdoten. Eine Besichtigung einer Wohnung im Altenheim fällt erwartungsgemäß negativ aus; man will sich um eine andere Unterkunft für die Mutter kümmern, wobei Mira die letzte Konsequenz, die Mutter damit zu konfrontieren, scheut. Schließlich reist Mira ab, flüchtet auch ein wenig vor Jurij und den Konsequenzen, die sich ergeben könnten. Die Angelegenheit um Anni ist, wie es scheint, nicht geklärt.
Teil Zwei beginnt mit der Nachricht, dass Mira auf der Rückfahrt verunglückt ist und trotz Totalschaden des Autos nur leicht verletzt im Krankenhaus liegt. Die personale Erzählposition wechselt nun auf Anni. Auch sie beginnt für den unvermeidlich erscheinenden Umzug Unterlagen zu sichten, wird von einigen Fundstücken überrascht und taucht in ihr hartes, entbehrungsreiches Leben ein. Sie findet Fotografien, rekapituliert ihre Ehe mit dem früh verunglückten Mann, schwelgt in einer späteren Liebschaft zu einem Lutz und überlegt, was passiert wäre, wenn ihre Mutter Agnes die Avancen eines Kaufmanns angenommen und sich mit ihm verheiratet hätte. Seine Bedingung war, dass sie auf die slowenische Sprache hätte verzichten müssen. Aber »Agnes wollte nicht, sie wollte den eigenen Kindern diesen Kaufmann nicht zumuten.«
Außer der Heiligensprache, die sie perfekt beherrscht und kultiviert, liegt Anni das Schriftliche nicht, daher versucht sie, Szenen und Orte ihres Lebens zu zeichnen, Augenblicke noch einmal zu erschaffen. Man ist ganz bei Anni, lässt sich auf sie ein, man sieht sie vor sich, wenn sie über ihre Mutter Agnes, die »dunkle Bergkönigin«, erzählt, die Erniedrigungen, die man den Kärtner Slowenen zugefügt hat, rekapituliert und ihre Religiosität zum Anker ihres Lebens erklärt, aber inzwischen immer mehr wünscht, zu einem gütigen statt einem strengen Gott schauen zu dürfen. Weil sie diese Werte nicht weitergeben konnte an ihre Kinder, sieht sie sich gescheitert. Jetzt, auf den letzten einhundert Seiten, schwebt dieser Roman und da ist er wieder, dieser Ton, der schon in Haderlaps Erstling die Geschichten grundierte und transzendierte und dann spielt es keine Rolle, dass Mira in den Hintergrund tritt und der Leser auch nicht erfährt, ob die Werkstatt nun gebaut wird oder nicht. Man ist traurig, Anni verlassen zu müssen. Und froh, dies gelesen zu haben.