Einige unmassgebliche Bemerkungen zu Thomas Meaneys Thesen über die Bedeutungslosigkeit der zeitgenössischen deutschen Literatur
Man horcht auf. Schließlich ist von einem unausgesprochenen Skandal die Rede. »Das wirtschaftlich bedeutendste Land des Kontinents leidet sowohl an mangelndem literarischem Ehrgeiz als auch an mangelnder Präsenz. Jeder weiß, dass die Erben der Sprache von Kafka, Brecht und Mann heute so wenig gelesen werden wie seit Jahrzehnten nicht mehr.»1
Thomas Meaney liest im Vorwort der aktuellen Ausgabe des britischen »Granta«-Magazins der deutschen Literatur die Leviten. »Der letzte deutsche Schriftsteller, der einen größeren internationalen Durchbruch schaffte, war WG Sebald, der zwanzig Meilen von der österreichischen Grenze entfernt aufwuchs, die meiste Zeit seines Lebens in England lebte und sich selbst als Schüler von Peter Handke betrachtete.« Wie kann es sein, dass aus Österreich, der Schweiz und Rumänien (!)2 bessere deutsche respektive deutschsprachige Literatur geschrieben wurde? Meaney erklärt es dahingehend, dass die »führenden Persönlichkeiten« der österreichischen Nachkriegsliteratur »Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Handke, Marlen Haushofer, Friederike Mayröcker, Elfriede Jelinek« sich nicht von ihren Vorläufern der Moderne (Kafka, Musil, Doderer, Broch) abgeschnitten hätten wie die Deutschen. »Als Böll nach dem Krieg begann, Romane zu veröffentlichen«, war es, so Meaney, »als hätte es die Moderne nie gegeben.«
Die Erklärung für diesen (Neo-)Realismus deutscher Trümmerliteratur, der in der Gruppe 47 dominierte, liegt vor allem darin, dass die Moderne – besonders der deutsche Expressionismus – bereits Anfang der 1930er Jahre in Deutschland im stetigen Verschwinden war. Die Nazi-Zeit tat ihr übriges. Eine Kanonisierung konnte nicht stattfinden. Noch heute schreckt das Wort »Expressionismus« ab. Allenfalls »expressiv« wird geduldet. Die Frontheimkehrer, die zur Gruppe 47 stießen, schufen ihre Texte nicht in der Absicht, die literarische Moderne zu beleben, sondern zur Selbsttherapie. Frierende Stacheltiere suchten nach Identifikationspotential. Exilanten störten und Avantgarde kannte man nicht.
Ein bisschen ungerecht ist es trotzdem. Der Preis der Gruppe 47 wurde neun Mal vergeben. Zwei Mal ging er nach Österreich – Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann (und einmal in die Schweiz an Peter Bichsel). Eine mangelnde Nähe zur Moderne mag man den beiden Österreicherinnen nun wirklich nicht nachsagen. Und trotzdem wirkt Meaneys Literatenbeschimpfung wie eine verspätete Variante des Weckrufs von Peter Handke 1966, der von der »Beschreibungsimpotenz« sprach und die ästhetischen Strukturen der Gegenwartsliteratur wie auch der Literaturkritik befragte. Wobei Handke dem länger schon torkelnden Riesen nur den letzten Stoß versetzte.
Unterdessen wirkten bereits seit mehr als einem Jahrzehnt in Wien H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Elfriede Gerstl, Friederike Mayröcker und Oswald Wiener (um nur einige zu nennen). Mitte der 1960er Jahre kam in Graz noch das »Forum Stadtpark« hinzu. Die literarische Avantgarde deutscher Sprache blühte. Und zwar in Österreich.
»Der Höhepunkt der westdeutschen Literatur«, so Meaney, »war ein Interregnum in den späten 1970er Jahren, zwischen strenger Hochmoderne und konsumorientierter Postmoderne. Sie war selbstbewusster als Heinrich Böll, ausgefeilter als das radikale Gegenkultur-Experiment von 1968, aber auch intensiver, ernster und noch nicht zu ironisch.« Als Referenz für das Ende dieser Epoche wird dann der erste Film von Otto Waalkes und der Erfolg von »Modern Talking« ausgegeben. Immerhin eine Pointe.
Das »Interregnum« der 1970er Jahre bestand vor allem in einem Generationen- und Stilwechsel. Man begann mit der historischen Bewältigung der Nazi-Zeit und entdeckte in der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt eine Perspektive. Zum ersten und letzten Mal vermählten sich Real- und Wunschpolitik. Während sich die deutsche Linke unsicher war, ob die RAF legitim Protest betrieb und sich zunehmend an bedeutungsgetränkter Gesinnungsliteratur ergötzte (und die wenigen, die dies befragten, isolierte wo es nur möglich war), übersiedelte die österreichische Avantgarde in die Großverlage. Der Seiteneinsteiger Thomas Bernhard schimpfte über die Nähe von Nationalsozialismus und Katholizismus. Das hatte bei aller Betroffenheit vor allem Humor. Die Politisierung erfolgte hier ästhetisch und weniger ätherisch. Die DDR-Literatur, die ähnliches versuchte, galt in Deutschland als renitent; die störte die Gemütlichkeit.
In den 1980er Jahren verlor die Literatur ihre Massenbedeutung und wurde zur Nische. Meaney macht dafür mehr oder weniger das Kino verantwortlich. In Wahrheit trug natürlich das Fernsehen die Hauptschuld. In Deutschland wurde ab 1984 großflächig das Privatfernsehen eingeführt, kaum später dudelten die privaten Radiosender. Der Unterbietungswettbewerb begann. Die Resultate sind bekannt.
Literatur hat heute den Status des Exotischen. Dabei trotzt die Buchpreisbindung immer noch erfolgreich dem Markt. Sie ist eine der heiligen deutschen Kühe, vergleichbar mit dem Tatort am Sonntag oder Investorenregeln im deutschen Profifußball. Der Kulturbetrieb sieht seine Rolle als Bewahrer und antichambriert bei der Politik als Geldgeber. Füllhornmässig werden inzwischen Verlage unterstützt, die aus lauter Verzweiflung immer weiter und immer mehr veröffentlichen. Das Neuerscheinungskarussell dreht sich schwindelerregend. Quantität schlägt längst Qualität. Stöhnen gehört zum Kritikerhandwerk während in Sonntagsreden die »Vielfalt« gelobt wird.
Meaney charakterisiert den deutschen Literaturbetrieb als selbstreferentielles System: »Das Land verfügt über einen ausreichend großen Binnenmarkt, genügend Fördermittel, genügend Stellen für Stadtschreiber und Plätze in den beiden Schreibfabriken (in Hildesheim und Leipzig), um eine beträchtliche Anzahl von Schriftstellern stetig über Wasser zu halten, die sich mit Stipendiatenprosa3 und zahllosen wertvollen Angeboten profilieren.« Viele Autoren seien zudem damit beschäftigt, Feuilletons oder Clickbait-Artikel zu verfassen. »Junge Schriftsteller«, so der Befund, »werden in Deutschland in ein literarisches System eingeführt, das darauf ausgerichtet ist, sie in der Provinz zu halten.« Dabei wäre Provinzialität weder eine Sache des Wohn- noch des Handlungsortes. Siehe Yoknapatawpha County. Oder Haddam.
Liegt es nur am Geld? Fördermittel und Preise gibt es, so möchte man entgegnen, in Österreich fast noch mehr. Warum entsteht gerade dort eine deutlich an- wie aufregendere zeitgenössische Literatur? Der Unterschied zwischen österreichischer und deutscher Literatur dürfte darin liegen, dass man in Deutschland ästhetische Fragen der progressiv-politischen Botschaft des Geschriebenen unterordnet (Robert Menasse mal ausgenommen). Diese moralinsaure Grundhaltung ist fast erzwungen, um innerhalb des beschriebenen selbstreferentuellen Netzwerks zu reüssieren und den Kontakt zu den Entscheidern über die Preis- und Fördertöpfe nicht zu verlieren. Das Resultat ist eben schrecklich langweilig. Hierin könnte der Grund liegen, warum so wenig zeitgenössische deutsche Literatur übersetzt wird.
Im weiteren beschäftigt sich Meaney noch einigermaßen sprunghaft mit der deutschen Innenpolitik, was teilweise anregend ist, hier aber nicht kommentiert werden soll. Um dann auf die Beiträge im Heft zu verweisen, Man versammele Texte, »die mit voller Kraft in die entgegengesetzte Richtung der literarischen Trägheit des Landes« gingen. Autoren sind unter anderem Leif Randt, Judith Hermann, Durs Grünbein, Clemens Meyer und Lutz Seiler. Ergänzt um Alexander Kluge und Jürgen Habermas. Alles übersetzt ins Englische. (Und es gibt es sogar einige Tagebuchnotate von Peter Handke, dem Österreicher.)
Für den Leser zeitgenössischer deutscher Literatur sind diese Namen wohlbekannt. Man fragt sich dennoch einigermaßen verwirrt: Was will man den britischen Lesern mit Kluge und Habermas vorstellen? Wo sind denn die »migrantischen« Autoren, die seit einigen Jahren immer lauter (und interessanter) werden? (Ihm fällt nur Emine Sevgi Özdamar ein; Beiträger gibt es keine.) Und wen meint Meaney genau, wenn er von »Trägheit« spricht? Zumal einigen Schreibern vorbeugend aufgrund ihrer politischen Richtung (»Neue Rechte«) die Satisfaktionsfähgkeit abgesprochen wird. Insgesamt bleibt er lieber undeutlich und raunt. Deutscher geht es kaum.
Die Thesen finden im deutschen Feuilleton bis auf ein Interview mit Thomas Meaney (in der SZ; Bezahltext, mir daher unzugänglich) meines Wissens keine Berücksichtigung. Schade.
Kann es sein, dass hier die Vorliebe der Engländer für Status, Ranking und Competition spricht? We’re in the premier League. Where are you?
Was ist mit dem deutschen Film? Eine Katastrophe, sagen viele deutsche Filmleute. Und jetzt Hüller / Wenders / ‘Klassenzimmer’ bei den Oscars – wieder eine Veranstaltung unter amerikanischer Hegemonie. Wird das was ändern an der Dominanz?
Ich wette, es gibt total interessante Literatur überall in den kleinen, unbedeutenden Ländern, aber Leute wie Meaney hielten trotzdem das große Ganze im Auge. Soll sagen, von Granden verliehene Weltgeltung, Business und ‘Betrieb’ (Übersetzungen!) sind ungemein gewichtiger für solche Einschätzungen als bloße ästhetische Gründe. Bestseller als Benchmarking – nicht umsonst Anglo-Begriffe. Und aus professioneller (= immer auch sportlicher) Perspektive ist es ja wichtig. Siehe Nobelpreis: Wer wird Weltmeister? (Und ja, was ist mit dem deutschen Fußball? Der interessiert mich zwar nicht, aber ich bekomme mit, was für einen kläglichen Stellenwert er wohl gerade genießt. (Und was ist mit den Holländern los? Waren die nicht mal ... ?)
Und so weiter.
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Schon vor Jahrzehnten mittlerweile (auch Klagen gehört zum Geschäft) gab es ernsthafte Stimmen, die behaupteten, dass der neue Kafka heute gar keine Chance hätte. (Er würde nicht erkannt / er wäre eben keine Frau / die Lektoren seien unfähig / das Marketing brauche Lesbarkeit statt Genie / Kunst gegen Zeitgeist bringt es nicht usw. Trotzdem warten anscheinend alle auf den großen Außenseiter, der die Kunst aus der allgemeinen Nichtbedeutung reißt. )
Allerdings – habe ich schon vor Längerem festgestellt – lese ich selber auch viel weniger deutsche Literatur als früher. Allerdings lese ich – in immer längeren Phasen und Anläufen des Wieder-Lesens – dann doch wieder viel Bewährtes aus diesem unserem Lande. Warum? Was ist es denn, das fehlt? (Was anderes als der ehemals verbindliche Blickpunkt, die Autorität des Feuilletons, ein Mindest-Konsens?)
Noch ein paar persönliche Anmerkungen, meinerseits ohne Anspruch auf Übersicht oder ‘Bedeutung’.
‘Der Kopf des Vitus Bering’ war für mich als Schüler mal eine begeistert studierte Entdeckung – irgendwann hab ich das Buch, immerhin eine Originalausgabe der 1. Auflage, einfach verschenkt. Dagegen habe ich, wegen meiner anhaltenden Sympathie für die Verfilmung (durch Herbert Vesely, wieder so ein inspirierter Ösi, der auch eine prominente Rolle spielte beim Oberhausener Manifest) neulich noch mal Bölls Erzählung »Das Brot der frühen Jahre« gelesen, und fand sie eine gut gebaute, psychologisch überzeugende, mir viel Zeitkolorit & ‑klima vergegenwärtigende Geschichte.
Ansonsten schaue ich, wegen Jahresanfang, gerade auszusortierende Bücher durch, bzw. auf die, die ich behalte. Weil ich gerade bei ‘K’ bin: Es bleiben die Bewährten vom letzten Jahr, Kronauer und Kirchhoff. Kracht und Krausser habe ich schon vor Jahren weggegeben. Hat es also doch mehr mit dem eigenen Alter zu tun? (Stattdessen habe ich mir nach und nach antiquarisch die Bücher des von Reich-Ranicki so harsch gecancelten Gerd Gaisers besorgt – für mich einer der wirklichen deutschen Sprachbeherrscher dieser ‘47’er-Zeit, der völlig unverdient heute nirgendwo mehr auftaucht.)
Aber es hat ja auch Vorteile, wenn man alt ist: Man kann sich erlauben, sich einfach nicht mehr zuständig zu fühlen. Halbherzig verfolge ich immer noch Trends und Kritiken, aber fühle mich auch nirgends mehr zugehörig (= frei). Und migrantische, gender-agentische oder etwa auch die Thesen-Autoren (à la Menasse oder Juli Zeh) habe ich nicht gelesen und werde ich auch nicht mehr lesen. (Dabei fand ich den Text von Behzad Karim Khani beim Bachmannbewerb 2022 den packendsten, interessantesten und zeitgenössischsten: Daneben sahen alle anderen Texte, besonders die elaborierten, sich künstlerisch UND relevant zu geben versuchenden, also wohl extra fürs Wettlesen geschriebenen, ziemlich blass aus. Und wer den Jahrgang gewonnen hat, habe ich auch vergessen.)
Aber die Bachmänner machen weiter. Die Verlage machen weiter, die Kritiker machen weiter, die Feuilletons machen weiter. Die Ausschreibungsdichter machen weiter. Was sollen sie sonst machen?
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Und das Positive? Wo bleiben Thomas Melle? Oder Norbert Scheuer? Kann es sein, dass es die Einzelnen sind, die das große Disparate zusammenhalten?
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Ich denke, das Fehlen eines Kanons ist tatsächlich ein Mangel – womöglich besonders für die Nachkommenden. Ich habe das, glaube ich, hier auf Begleitschreiben schon einmal vertreten. Stattdessen verstärkt das inflationäre Schreiben weiter das Anything goes. Obwohl jeder das von sich glaubt, sind eben nur wenige ästhetisch so souverän. Und Diversität = Emanzipation von Allem ist schön – doch macht die gute alte, proportional dauernd wachsende neue Unübersichtlichkeit dann ‘viel Arbeit’ (à la Karl Valentin).
Für mein Gefühl franst es immer weiter aus. Neulich las ich, dass Gaming-Narrative jetzt auch irgendwie Literatur und damit preiswürdig sind. Oder was ist mit so etwas Blutleerem wie dem zunehmend prominenten ‘Nature Writing’. Ist es das neue Subjektivität oder soll es ernsthaft das Anthropozän kritisieren? ‘Nüsse- und Gräserbewisperer’ nannte das Peter Rühmkorf schon in den frühern 60ern, glaube ich = Sie haben nichts zu sagen. Aber die öffentlichen Alimentierungen für so was fließen nur so.
Und so weiter. Fucking Germans. Manchmal denke ich, heute noch irgendwas verbindlich zu beurteilen, ist anmaßend. Und dann fällt mir wieder Ernst Tugendhat ein: ‘Das Bedürfnis nach Gewissheit ist Überbleibsel eines autoritären Bewusstseins.’
Keiner weiß mehr.
Sorry für den Rant, habe den vernieselten Nachmittag für mich. Und da wirkt dann so eine Wegen-Heftthema-fällige-Standortbestimmung, die sich zur These zu steigern sucht, als angemaßte Selbst-Bedeutungshuberei. Oder, um es als Kontinentaleuropäer zu sagen: I am not conviced.
Kein Grund für »sorry« – bitte mehr »Rants«.
Schön, dass Sie Gaiser entdeckt haben. Der ist nun leider vollkommen verbrannt, nachdem ihn die »Neu-Rechten« für sich entdeckt haben. Man kann das hier sehen. Es ist zwar stümperhaft (und teilweise falsch, was da über Gaiser gesagt wird), aber es ist halt ein Lob von der »falschen Seite«. Die sterbende Jagd ist also aus zwei Gründen zum Sterben verurteilt – einerseits die Person Gaiser, andererseits ist es expressionistische Literatur, die von Hause aus einen schweren Stand hat.
An Behzad Karim Khani habe ich keine Erinnerung mehr. Als irgendwann das Buch von ihm herauskam, wurde es mit Elke Heidenreich als »herzzerreissend« beworben. Das hat mich doppelt abgeschreckt. Es soll sich aber gut verkauft haben. (Gewonnen hatte 2022 Anna Marwan. Ihr Buch liegt hier noch ungelesen. Es kam mir alles so gebaut vor.)
Ich glaube, Meaney liegt mit seiner Kategorisierung der deutschen (in Abgrenzung zur deutschsprachigen) Literatur (so versteh’ ich das) nicht ganz falsch. Auf Facebook schreibt mir jemand, wo denn die amerikanische Avantgarde sei bzw. das diese nach Faulkner nicht mehr viel zustande gebracht hat. Da ist was dran, aber es liegt eben an den Übersetzungen. Die DACH-Verlage zahlen lieber Lizenzgebühren für amerikanische Erstlinge, die dort einen breiten Massengeschmack bedient haben. Mehrmals ging das krachend schief – so viel Mühe sich das Marketing auch machte. Ich war meist schon nach der Leseprobe bedient.
Was ich nicht in meinem Text ausgeführt habe, ist der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen Deutschland und Österreich. Es könnte nämlich sein, dass in Österreich die Literatur als ästhetisches Ausdrucksmittel einen höhen Stellenwert hat als in Deutschland. Hier dreht sich alles um ein Gefallen im intellektuellen Mainstream. Bis hinein ins Politische. Wobei das Politische unbedingt IN der Literatur verarbeitet werden soll/muss. Auch in Frankreich genießt Literatur eine größere Wertschätzung. Das, was von dort ins Deutsche übersetzt wird, ist zumeist lesenswerter als die amerikanischen Jüngelchenprosa.
Die von Ihnen angesprochenen Alimentierungen fließen häufig aus dem Gefühl des »schlechten Gewissens«. Ähnlich wie Mäzene, die ihre Vermögen mit allerlei erlaubten und unerlaubten Tricks und unter Berücksichtigung ausgefeilter Steuermodalitäten erworben haben und die nun neben dem Vermögen auch das Gewissen plagt, glaubt die Politik, sie müsse auch mal was »Gutes« tun. Dann ist man eben großzügig. Das Stiftungs- bzw. Sponsorentum der privaten Geber ist nichts anderes als Ablasshandel. Der Kultur ist es egal – Hauptsache das Geld fließt. Und so bekommt seit Jahren vor allem die mittelmässige Literatur Preise, eben weil sie allen »progressiven« Normen entspricht.
Bisweilen kämpfe ich mit den Regalmetern, die begrenzt sind (und die ich begrenzt halten möchte), nutze die zweite Reihe mehr als mehr lieb ist und forcierte das E‑Book (außer von Autoren wie Handke, wo es schlich unpassend erscheint). So manches Buch, dessen Rücken sich mir entgegenreckt, möchte ich aussortieren, weggeben, aber dann zögere ich. Noch. Sie sind teilweise wie Möbelstücke, die abgenutzt sind, die man, wenn überhaupt, nur noch selten benutzt, aber dann doch aus Sentimentalität behält.
Die Liste der gescheiterten Produkte wird länger und länger: die deutsche Zigarre, der deutsche Rotwein, der deutsche Film, die deutsche Literatur. Eine Analyse des Betriebs unter dem Aspekt der Abhängigkeit (vs. kreative Freiheit) erscheint mir typisch angelsächsisch falsch. Die Suche nach dem Fehler ist vielleicht genauso schwierig wie die Erzeugung der erwünschten Literatur. Ich greife daher zu einer anderen Hypothese und ergänze das Scheitern des politischen Schriftstellers: Du bist entweder ein »Politiker« oder ein »Priester«, typologisch gesehen. Und diese Wahl ist in den Freiheitsgraden vermutlich eingeschränkt, da das Politische ja seine eigene Zudringlichkeit hat, die sich aus der Breite der kulturellen Erfahrung ergibt. Ich merke es täglich, wie die Politik die Seele frisst, und ich konstatiere, dass die im allerweitesten Sinne »transzendent gestimmten« Autoren so gut wie verschwunden sind. Ich kenne gar keinen, außer Mosebach, und der ist nicht mein Fall. Aber um nicht falsch verstanden zu werden: ich spreche nicht von einer Abbildung der jüdisch-christlichen Tradition, sondern ich beziehe mich auf eine mögliche propfartige Ergänzung, weil unsere Tradition durchaus einseitig und reduktionistisch ist, und die seelische Dimension (Stichwort: Reste autoritären Bewusstseins) nicht vollständig erschließt. Mutmaßlich kippt jetzt die ganze deutsche Schreiberei ins politisch Konziliante, was den Vorteil hat, dass die »Nachrichten« und die literarische Lektüre keine allzu großen kognitiven Dissonanzen erzeugen... Es fehlt die Natur, es fehlt das Sein.
»Transzendentale« Autoren gibt es in Deutschland schon noch. Mosebach würde ich nicht direkt dazu zählen. Sein Stil ist zu stark schwankend zwischen Manierismus und allzu gewollt daherkommender Ironie. Das ist allerdings unterhaltsam und macht ihn verdächtig.
Selbst man von den »Altmeistern« absieht (ich denke an Peter Handke – aber der ist ja Österreicher), gibt es schon sehr lesbare deutsche Literatur: Esther Kinsky etwa (derzeit das Beste, was man aus Deutschland lesen kann), Ulrich Peltzer, Michael Kleeberg. Früher auch einmal Botho Strauß, aber der ist gänzlich unverständlich geworden. Ein radikaler Verweigerer predigthafter Literatur ist auch jemand wie Thomas Kunst. Wie gesagt, die Österreicher lasse ich jetzt mal weg (es gibt einige).
Ob die deutsche Literatur ins »politisch konziliante« driftet, ist ja gerade die Frage. Meines Erachtens war sie dort bis auf wenige Ausnahmen immer situiert. Wer nicht die »richtige« Botschaft mindestens zwischen den Zeilen artikulierte, machte sich rasch des Ästhetizismus verdächtig. Große Teile der deutschen Nachkriegsliteratur riechen moralinsauer.
Danke für die Hinweise, vorallem für die implizite Zustimmung. Ich nehme die These gerne zurück, dass gerade eben etwas kippt. Fast war mir, als wollte ich sagen: endgültig kippt. Ihr Eindruck passt nämlich genau dazu: die politik-affinen Autoren machen den Spagat und werfen die Ästhetik aus der Waagschale, befinden sich aber dennoch für gewichtig... Oder man belohnt sie dementsprechend. Haben Sie irgendeine Theorie darüber, warum die Sprache den »Typen« nach meiner Klassifikation verrät. Ich meine, das liest man doch auf jeder Seite, sagen wir bei Handke oder Strauss, weil ich sie kenne. Aber wie geht das zu, was sind das für »Über-Sinne«, die eine solche Identifikation möglich machen?! Gibt es vielleicht zwei Sorten von sprachlicher Verkleidung, – die eine ironisch, die andere mysteriös, paganisch?! Der Jargon der gewollten Oberflächlichkeit ist leicht durch einen Vergleich mit der Livestyle-Presse zu identifizieren. Aber was ist mit dem Exotismus, also der Entführung der Sprache ins Ungewohnte, Unheimliche?! Gibt es da in Deutschland schon länger eine Begegnungsangst, eine Furcht, die Irrationalität zu hofieren, obwohl man die Kreativität belohnen müsste?!
Ein bisschen vereinfachend gesagt: Der »Exotismus«, also avantgardistische Literatur, die sich von Plots und Geschichtskonstruktionen emanzipiert (oder, in extremen Fällen, zertrümmert), hat in Deutschland seit den 1930er Jahren keine signifikante Leserschaft mehr. Die Nazi-Zeit tat ein übriges. Die 1950er Jahre war die Zeit des »Neuen Realismus«. Da experimentierte man bereits wieder in Österreich mit der Sprache. Autoren wie Peter Handke, Wolfgang Bauer und Gerhard Roth sind dann sozusagen »geblieben« und in den österreichischen Kanon gerückt. Das ging nicht ohne stilistische Veränderungen ab, wie man bei Handke Ende der 1970er Jahre gesehen hat (seine Hinwendung zu Stifter, zum Erzählen – ohne freilich in neorealistische Prosa zu verfallen).
Gestern schickte mir ein Leser das pdf zum Gespräch mit Thomas Meaney und der SZ (Felix Stephan). Er geht dort stärker auf den »Mangel an Opposition« in der deutschen Literatur ein: »Die deutsche Nachkriegsliteratur war immer da am stärksten, wo sie sich als antagonistische Kraft begriffen hat und gegen die verkrusteten Eliten der amerikatreuen Bundesrepublik oder der sowjettreuen DDR anschrieb – da, wo sie oppositionell sein wollte.« Stephan fragt ihn daraufhin, ob die deutsche Literatur nicht per se oppositionell ist. Meaney bringt dann ein ziemlich interessantes Beispiel: »Wenn Sie heute etwa Kritik an der EU suchen, müssen Sie in die Literaturen von Frankreich oder Norwegen schauen. In Deutschland ist die EU in ihrer jetzigen Form so selbstverständlich, dass ich keinen Autor oder Autorin gefunden habe, der sich damit kritisch beschäftigen würde.« Besonders wichtig scheint mir der Einschub »die EU in ihrer jetzigen Form«. Wer dies nämlich essayistisch oder literarisch befragt, wird mindestens als Populist, wenn nicht gar »rechts« eingestuft. Das konnte man an der Rezeption zu Enzensbergers harmlosem Essay vom »sanften Monster Brüssel« sehen. (Umgekehrt werden die EU-Adepten wie Robert Menasse auf Händen getragen.)
Meaney klärt am Ende noch den scheinbaren Widerspruch zwischen oppositioneller und ästhetischer Literatur auf: »Ich glaube, dass ein großer Teil der besten Literatur politisch ist, aber nicht in dem Sinne, wie es gemeinhin gemeint ist, nicht im Sinne eines zeitgenössischen Bitterfelder Weges. Literatur ist nicht dann am nachhaltigsten, wenn sie am meisten von politischen Idealen durchdrungen ist, sondern gerade dann, wenn sie es nicht ist, und weil sie es nicht ist, ist sie es umso mehr.« Eine Weiterentwicklung von »Show, don’t tell«, wie ich finde.
Ich glaube, dass man in Deutschland (mehr als in Österreich) durch das gut geölte Subventions- und Preissystem eine Stromlinienförmigkeit erzeugt, weil man sie pekuniär belohnt. Das lässt sich niemand nehmen. Zur fast letzten Oase der Renitenz wurde das Gedicht. Letztes Jahr gab es passenderweise dazu einen kleinen Lyrik-Skandal, als eine Autorin ausgezeichnet wurde, die sich bewusst gängigen Verständnismustern entzieht. Dahinter steht der unausgesprochene Wunsch nach Zweckmässigkeit von Literatur. Und das ist dann sehr deutsch: Wenn man etwas macht, muss es einem Zweck dienen. Allzu häufig wird dieser auch im Literaturbetrieb mit »Geld verdienen« umschrieben.