»Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund.« Das ist der erste Satz dieses ungewöhnlichen Buchs mit dem Titel Ich? aus dem Jahr 1926, welches dankenswerter Weise nach fast einhundert Jahren wieder neu aufgelegt wurde. Es beginnt 1918 mit dem Ende des Krieges. Der Feldwebel Wilhelm Bettuch stolperte während des Rückzugs über die Leiche eines Doktor Hans Stern, eines »Gebildeten«. Fast ein bisschen schadenfroh, dass er, der Bäcker, im Gegensatz zum Arzt den Krieg überlebt hatte, nahm er den Pass des Toten reflexhaft an sich und schlüpfte mehr zerstreut als vorsätzlich geplant in die Rolle des Toten. Und so ertappte er sich dabei, nicht nach Frankfurt zurück zu fahren, zur Bäckerei seiner Mutter, sondern nach Berlin, wo Dr. Stern als Chirurg praktizierte und mit Frau Grete, dem kleinen Sohn und Hund Nero lebte.
Wie selbstverständlich wurde Wilhelm von Grete als Hans freudig empfangen und »ein blauer Strahl von unsäglicher Zärtlichkeit glänzte aus ihren Augen, und während Träne auf Träne unaufhaltsam über die Wange tropfte, öffneten sich die Lippen feucht und weich zu unlöslichem Kuss.« Er kann sein Glück nicht fassen, »es war alles Traum, ein Glück wie in der Luft, das gab es, man durfte nicht aufwachen, man musste sehr leise sein«. Er, der in der Schule unter seinem Namen gelitten hatte (»…in der Pause standen sie um mich, zogen mich an der Hose, an der Jacke, am Hemd. Bettuch, Tüchlein!«), gibt sich dieser wunderbaren Frau hin, die ihn liebt, »ich kann doch nichts dafür, dass ich schwach bin, dass ich sie liebe, ja, damals schon, sofort, ich sah ihr Gesicht und liebte sie und hatte keine Kraft, ihr zu sagen, dass ich es ja gar nicht war, dass sie einen anderen meinte mit ihren Küssen, einen andern liebte, einen andern, einen andern!«
Auch der stille Verehrer Gretes, Staatsanwalt Sven Borges, und die Freundin der Familie, Bussy Sandor, bemerkten nicht, dass ihnen ein anderer gegenüber stand. Nur der Hund biss ihn zur Begrüßung ins Bein. Insgesamt fügt sich Wilhelm problemlos ein. Nur manchmal kommt er sich wie Kaspar Hauser vor, »aus einem dunklen Keller, ich sehe Licht zum ersten Mal, zum ersten Mal einen Baum, eine Wolke, einen Stein, einen anderen Menschen, eine Frau, meine Frau, die Erinnerung kommt ganz langsam, man muss mir sehr viel Zeit lassen, ich bin wie krank, ich sehe alles ganz neu, ich erlebe alles zum ersten Mal.« In Bezug auf Grete entwickelt er, wie er erfährt, eine ähnliche Eifersucht wie Hans. Und er entdeckt »hinter der weißen Stirn« seiner Frau ihre »kleine Seele, krank«, sie »blutet aus tausend Wunden.« Groß die Überraschung als Bussy ihn in einem stillen Augenblick heimlich zu sich bestellte: Der Herr Doktor hatte ein Verhältnis mit ihr.
Auch als Arzt kam Wilhelm überraschend gut zurecht. Er nahm nach seiner Rückkehr die Arbeit sofort wieder auf, führte sogar eine Blinddarmoperation durch, freilich nicht ohne darüber nachzudenken, warum es diesen unnützen Appendix überhaupt gibt. Man setzt ihn als Gerichtsgutachter ein, schickt eine Blutprobe. Es soll untersucht werden, ob das Blut von der Angeklagten stammt oder, wie diese behauptet, von einem Hund. Mord oder Unfall? Eine einfache Untersuchung; er weiß sofort, was zu tun ist. Und das Ergebnis ist eindeutig.
Als er den Gerichtssaal betrat, staunte er nicht schlecht: Die Angeklagte war Emma Bettuch, seine Schwester, auch sie erkannte ihn, seinen Bruder, nicht und dieser hörte ihre Geschichte, ihre Reise nach Berlin, um Geld für die kranke Mutter zu verdienen, die Anstellung als Dienstmagd, die Aussicht, noch mehr als den Lohn zu erhalten, wenn sie sich dem Gutsherren hingeben sollte, was sie tat, »sie war beschmutzt, entehrt«, aber »es gab kein Geld«, und dann ihre Geschichte von diesem Hund, der den Mann in die Kehle gebissen hätte. Wilhelm/Hans wusste es besser, er wusste, es war Mord, aber er sagt etwas anderes, der Staatsanwalt, Sven Borges, der sich als Freund eingeschmeichelt hatte, gerät in Rage, aber »es ist alles gut, das Mädchen ist frei, sie geht schwankend hinaus, Emmchen, im Vorbeigleiten sehe ich ihre Züge, sie blickt mich an, sieht sie mich, mich, mich selbst?«
Wilhelm ist verstört, will sich einigeln, nur noch für Grete und den kleinen Sohn da sein. Und er erfährt, dass Grete wieder schwanger ist, aber doch nicht glücklich. Bemerkt sie doch etwas? Wilhelm verstößt die vermeintliche Geliebte Bussy Sandor (eine skurrile Szene), verlässt fluchtartig Berlin, begibt sich mit dem inzwischen braven Hund Nero auf eine Eisenbahnfahrt nach Frankfurt. Da ist die Schilderung der Fahrt, das Kennenlernen eines Mädchens, diese unterschwellige Spannung, die dieser Roman ständig erzeugt. Es liegt etwas in der Luft. Schließlich Ankunft in Frankfurt, natürlich wird er in der Bäckerei erkannt, von Emma, aber sie sieht in ihm nur den Arzt aus Berlin, nicht den Bruder. Die Mutter liegt sterbenskrank zu Bett und er wünscht sich nur noch, wenigstens von ihr erkannt zu werden. Flehentlich tritt er vor ihr: »Mutter, ich bin da, hör mich doch, sieh mich doch, du hast nicht umsonst gewartet, ich war so lange unterwegs, ich habe dich so lange gesucht, es war sehr schwer, es war alles gegen mich«, aber er kommt zu spät, »auf halbem Wege sinkt sie zurück, der Atem steht, mein eigenes Herz setzt aus, es ist eine entsetzliche Stille«.
Keine Ruhe, es geht weiter, Wilhelm fährt nach Frankreich, »es ist Verdun, es sind die Höhen von Douaumont« und »Fleury, Gräben und Erde und Staub«, eine Reise in die Gegenwart der Vergangenheit, »das Land hat sich verändert, halb verfallene Kirchen, zerfallene Dörfer und Ruinen ziehen vorbei, hier pflügt ein Graben durchs Land, hier liegen Draht und vermorschte Bretter und Holz, hier floss Blut, hier tobte Mord, Hölle und Wahn, hier haben Menschen gesessen wie Maulwürfe unter der Erde, haben sich belauert und zerfetzt, hier ist kein Baum mehr, das Laub ist abgefallen und verdorrt, die Stämme sind nackt und schwarz, hier ist kein Haus, das nicht begraben unter Schrei, Schicksal und Not, hier hat die Luft gezittert unter dem Grauen der krepierenden Granaten, hier irgendwo habe ich selbst gesessen, wer, ich, wer, was denn, wo bin ich denn, hält der Zug, ist die Reise zu Ende?«
So, wie dieses Land, seine Verwundungen und »ausgespülten Erinnerungen« (René Char) erzählt und die Millionen von Toten und die versehrten Überlebenden herbeibeschworen werden – so hat man das noch nie gelesen. Es ist ein flirrender, magischer Expressionismus, der einem den Atem stocken lässt. Dagegen fällt das tragische Ende des Romans nach der Rückkehr in Berlin etwas ab. Der Leser bemerkt schließlich den Sinn des ersten Satzes: Diese atemlose Erzählung ist so etwas wie ein Plädoyer, in dem der Vortragende sein weiteres Schicksal in die Hände imaginärer, nie in Erscheinung tretender Richter (vielleicht DEM Richter?) legt: »Hier bin ich nun…tun Sie mit mir, was Sie wollen.«
Wer ist dieser Autor? Peter Flamm steht auf dem Cover. Es ist ein Pseudonym von Erich Mosse (1891–1963). Im Nachgang zu der Erzählung wurde ein Text von Flamm/Mosse aus dem Jahr 1959 mit dem Titel Rückblick abgedruckt, in dem er sein Leben Revue passieren lässt. Mosse wurde, wie er schreibt, »als Jude geboren«, hatte aber mit dem Judentum »nichts zu tun«. Auf dem Gymnasium wurde er trotzdem der »Judenjunge« genannt, obwohl er sich »mehr deutsch als manche andere Deutsche« fühlte. Sein »bewunderter Bruder fiel im Ersten Weltkrieg als bayerischer Leutnant vor Verdun«. Sein Vater »war der erste bedeutende jüdische Jurist, der Oberlandesgerichtsrat wurde.« Die Ernennung kostete dem Dienstherrn seine Position. In der Zeitschrift seines Onkels verfasste Mosse unter dem Pseudonym Peter Flamm Erzählungen, später schrieb er Theaterstücke. Kaum noch etwas ist lieferbar; allenfalls vom im 13. Jahrhundert angesiedelten, gleichnishaften, etwas steifen Liebesdrama Zugvögel, 1920 publiziert, findet man noch Antiquarisches.
Mosse wurde Arzt, entdeckte Freud und widmete sich der Psychoanalyse. Die Nazis trieben ihn aus Deutschland, in den USA wurde er Eric P. Mosse. In seinem Rückblick erklärt er, wie er zum Amerikaner wurde und warum er in Deutschland nicht mehr leben kann.
In einem Punkt ist Mosse auch Wilhelm Bettuch: Wie dieser widerstrebt ihm die Justiz, dieses Denken, »da ist immer nur Schuld oder Nichtschuld, einer ist tot, also muss einer schuldig sein, es gibt aber Dinge – was geht er mich an!«. Erich Mosse entwickelt in Rückblick ein Gebot für einen Schriftsteller: »Wir wollen uns umblicken können als Schriftsteller, nicht mehr aburteilen, anklagen und verfolgen. Die moralische Wertungsmaschinerie war einst erfunden ad majorem dei gloriam. Aber der Gott sind wir nun selber. Es ist ein selbstzerstörender Morast, steril, anmaßend und lähmend.« Die Dichotomie Schuld/Unschuld versagt. Eine in der Nachbetrachtung zu Mosses Leben erstaunliche Erkenntnis.
In einem gründlichen Nachwort beleuchtet Senthuran Varatharajah das Erzählen Bettuchs. Dieser »rekonstruiert die Ereignisse, die ihn erzählen und die er im Erzählen wiedererlebt, so, wie ein traumatisierter Mensch sich erinnert: allein; ohne den Trost der Gattung.« Interessant auch die Analyse der Setzung der Interpunktionen im Text, insbesondere des »Strichs«. Bei der Lektüre seiner Ausführungen kommt einem Adornos Diktum von den Satzzeichen als Verkehrszeichen in den Sinn: »Ausrufungszeichen sind rot, Doppelpunkte grün, Gedankenstriche befehlen stop«.
Zum Abschluss noch ein Rat: Glauben Sie niemandem, der mit diesem Buch irgendwelche Analogien erstellt. Bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil. »Müssen wir immer mit Wertungen leben?« fragt Mosse. Ich fürchte ja; auch und vor allem, was dieses Buch angeht. Lesen Sie dieses großartige Meisterwerk, geben Sie sich ihm hin und reiben sich danach an Varatharajahs Analysen. Beides lohnt sich.