Es ist 2019, ein Jahr vor einer Pandemie und drei Jahre vor einem neuen Krieg in Europa. Ein Schriftsteller, der sich Szczepan nennt, flüchtet vor »der Welt und dem Leben«, reist nach Spitzbergen, nimmt die Fähre nach Pyramiden, einer ehemaligen Bergarbeiterstadt, in der nur noch ein paar Russen leben, und verbringt eine Woche im Eis, in der Nähe des Gletschers Jotunfonna. Dann kehrt er zurück, trinkt in einem schäbigen Hotel in Barentsburg einen Whisky, will immer noch nichts von Menschen sehen und hören, was fast gelingt. Bis ihn eine ältere Frau anspricht, eine gewisse Borghild Moen, die rasch seine Neugier weckt. »Der Ozean ist meine einzige Heimat«, sagt diese rüstige Dame, zeigt ihm ihre moderne, 50 Fuß lange Yacht »Isbjørn« und lädt ein, auf eine Tour zu gehen, wobei sie nicht das Ziel nennt, was den Schriftsteller nur noch neugieriger macht, denn da ist ein »verborgenes Geheimnis« in dieser 82jährigen Frau. Er sagt alle Termine ab, nimmt die mürrischen Kommentare entgegen, und kommt sich in Bezug auf seine beiden Kinder ein wenig schäbig vor. Die »Isbjørn« ist technisch sehr gut ausgestattet, der Proviant üppig (er beteiligt sich mit 2000 Kronen daran). Seine nautischen Kenntnisse helfen ihm; bald entsteht ein stilles gegenseitiges Vertrauen und Borghild Moen legt ihm ein altes Heft vor, das Notizbuch eines Konrad Widuch, beginnend am 16. Juni 1946. Er soll es »mit Verstand lesen«. Dann ist das Vorwort von Szczepan Twardochs neuem Roman Kälte (wie immer ist Olaf Kühl der Übersetzer) vorbei und es beginnt.
Widuch, damals 51, »geborener Preuße«, aus Pilchowitz, Schlesien stammend, zum Zeitpunkt der Niederschrift gefangen im arktischen Eis auf einem Schiff mit dem hochtrabenden Titel »Invincible«, schreibt, ja kotzt seine Lebensgeschichte in dieses Heft, in mäanderndem, burleskem Ton, gerichtet an eine anonyme Leserin, an die er zwar nicht glaubt, aber dann doch irgendwie erhofft, denn ansonsten würde das Aufschreiben sinnlos sein. Die Kindheit ist schwer, der Vater ist früh verschwunden, die Mutter gibt sich mit immer neuen Männern ab und mit 14 verlässt Widuch das Elternhaus, nachdem er dem neuesten Liebhaber der Mutter aus Rache für einen gebrochenen Arm mit dem anderen Arm und einem Schürhaken zusammengeschlagen hatte. Er geht 1912 »an die Ruhr«, dann zur See, wird auf der kaiserlichen »Helgoland« Matrose, später Maat. Als man ihm und den anderen befiehlt, Kanonenfutter für die Engländer zu werden, rebelliert die Besatzung. Widuch nimmt 1918 am Matrosenaufstand teil und wird zum Kommunisten, er, dessen »offizielle zivile Ausbildung mit der Grundschule zu Ende war.«
Der Leser ist gefordert, den Lebenslauf aus den abschweifenden und zeitlich immer wieder durcheinander wirbelndem Erzählstrom des Schreibenden zu ordnen, denn es beginnt mit grausigen Foltermethoden, die der in einem Gulag sah und bisweilen am eigenen Leib erlebte (dutzende Male erklärt er, diesen Ort nicht namentlich zu nennen, als würde damit ein Fluch gebannt). Die Schilderungen sind nichts für zarte Gemüter. Immerhin: Seiner Frau Sofie und den beiden Töchtern dürften die Flucht gelungen sein, denn sonst würde man ihn in Verhören nicht nach ihnen fragen. Das war um 1937, nachdem Widuch in den 1920er Jahren den großen Marsch vom Kaukasus in die Ukraine, also den russischen Bürgerkrieg gegen »die Weißen« mitgemacht hatte, und der Leser erfährt wie nebenbei, dass er auch kein Engel war, etwa als er diesen jungen polnischen Leutnant gefangen nahm, der um sein Leben jammerte. Widuch wog ihn in Sicherheit und dann schoss er ihn von hinten in den Kopf, sich immer noch rühmend, den Offizier vor den Malträtierungen der Kosaken (Spezialität: Penis abschneiden) bewahrt zu haben.
In der Ukraine lernt er seine Sofie kennen, jene Frau, die er nicht nur liebt, sondern die ihm auch fast alles beigebracht hat. Sie war eine glühende Bolschewikin, und so wird er das auch. Widuch lernt neben polnisch und deutsch auch noch russisch, lebt insgesamt 17 Jahre in Russland bzw. der Sowjetunion. 1926 kommt Wilena zur Welt, 1936 Ninel (ein Palindrom von Lenin). Die Familie lebt anfangs zufrieden, ein Jahrzehnt später wird er diese vorstalinistische »NEP«-Zeit (etwa 1921–1927) als die schönste seines Lebens bezeichnen. 1929 fiel Sofie, die Heldin des Bürgerkriegs, endgültig »vom Glauben ab«, sie sah, wie die hungernden Menschen geschlagen wurden, wenn sie essen wollten, was sie gesät hatten, weil die Ernte aus dem Land gebracht wurde; der Holodomor begann und Widuch verquickt dies mit dem Hunger in dem Lager, wie man dort das von den Wärtern ausgespuckte gierig verschlang.
Es gab diese Säuberungen (Hotel Lux), die treuesten der Treuen kamen zuerst dran und so kamen sie schließlich überein, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein wird und Sofie und die Kinder fliehen sollten, über Murmansk mit einem Boot nach Norwegen, dort, wo ein Elternteil Sofies herkam und die Kinder sollten dort aufwachsen. Es kam dann auch zur Verhaftung Widuchs, der instinktiv wußte, dass es vor dem Prozess nicht zum Mord an ihm kommt. Auch er ist vom Kommunismus geheilt, obwohl er konstatiert, dass die Idee am Anfang nicht ganz schlecht gewesen sei. Jetzt muss die Lagerhierarchie ausbalanciert werden, denn als »Achtundfünfziger«, also politischer Häftling, steht er unter den »Kriminellen«, die als Kapos der Wärter gelten und teilweise noch mächtiger als diese sind. Da sind die drei Finger, die verloren hat, noch ein eher harmloser Tribut und der Lötkolben an seinem Geschlecht, naja. Soweit es geht freundet er sich mit drei dieser Kriminellen an, darunter Gabaidze, ein Georgier, der einen armen, hilflosen intellektuellen Insektenforscher auf brutale Weise vergewaltigte und ermordete. Zu viert will man fliehen, was tendenziell ausweglos erscheint, aber dem nutzlosen Vegetieren im Lager vorgezogen wird. Widuch machte sich keine Illusionen darüber, warum man ihn mitnimmt: Er ist der lebende Proviant, wenn die Flucht in die Kälte kritisch werden sollte.
Abenteuerlich das Manöver Widuchs, diesem Schicksal zu entgehen. Am Ende sind zwei der Kriminellen und ein Wärter tot. Es bleibt nur Gabaidze, der von Widuch nicht getötet wird. Um seiner, Widuchs, Moral Genüge zu tun, hackt er ihm beide Hände ab und nimmt ihn derart versehrt mit auf seine ungewisse Expedition durch, über oder in das Eis, eine unwirkliche Jack-London-Arktis, immerhin reichlich proviantiert und mit ausreichend Waffen versorgt. »Jeder Tag Leben vergrößert seine Strafe«, so die verquere Logik, die mit »Was ich getan habe, habe ich getan« mystisch unterstützt wird. Widuch behält Gabaidze auch dann noch, als es diesem gelingt, sich zu blenden und er wird später sogar die Stümpfe noch ansengen, damit seine Arme nicht verfaulen.
Frei und lebensdurstig fühlt er sich, dieser Konrad Widuch, der seine anarchistische Ader wieder entdeckt. Irgendwie nach Alaska kommen, nach Kotzebue, aber wie? Er muss Pferde schlachten, Hunger droht. Da begegnet er Ljubow Wladimirowna Zacharowa, einer »Kriminellen im Dienst«, irgendwie auch geflohen und im Kochtopf dieser Frau schwimmt ein menschliches Bein. Es ist von Ljubows Gespielin, die unter rätselhaften Umständen tot neben ihr liegt. Widuch und Ljubow werden zu einer fragilen, hassliebenden Gemeinschaft; er bringt sie vom Kannibalismus ab, während sie Gabaidze wie ein Baby umsorgt. Aber auch das liegt schon Jahre zurück und Widuch fügt eine weitere Vergangenheitsebene hinzu, nämlich die Begegnung ein paar Monate zuvor, mit dem »Großen« und dem »Kleinen«, die sich später als bretonisch-irische Spione herausstellen, den Herren der »Invincible«, die im Eis festliegt und mit der man wartet, bis der Sommer kommt. Von den beiden erfährt er in Kurzversionen die weltpolitischen Neuigkeiten der letzten fünf Jahre. Spätestens als er dem »Großen«, der mit Widuschs Schlitten aufbrechen will, einen Brief an Sofie Pozarka, geborene Moen, mitgibt, den dieser in Tromsø abliefern soll, wird der Leser aufmerksam und Twardoch wählt ein Zwischenspiel, denn das Heft Widuchs ist vollgeschrieben.
Man ist wieder auf der »Isbjørn«, Szczepan hat das Heft abgeschrieben, stellt der alten Dame Fragen und ja, sie ist jene »Ninel«, sie wurde von norwegischen Fischern gerettet von der Schwester und Mutter keine Spur und Konrad Widuch ist ihr Vater. Sie erhielt den Vornamen Borghild, kam in ein Waisenhaus, und erst 1956 kam der »Große« aus der Gefangenschaft und trug ihr den auswendig gelernten Brief ihres Vaters vor. Und der Zufall, dass Widuch und Szczepan den gleichen Heimatort haben? Hatte sie ihm »aufgelauert«? Wie konnte sie wissen, dass er auftauchen wird? Keine Antworten darauf, aber natürlich gibt es noch ein weiteres Heft, für die zweite Hälfte des Buches. Widuch schreibt jetzt ein leeres Logbuch voll, seine Eintragungen werden noch manischer, großspuriger, zorniger, die imaginäre Leserin wird zusehends beschimpft, weil er ihr Einwände unterstellt.
Der Hauptteil dieses Heftes besteht aus der Schilderung eines Aufenthalts in Cholod (der polnische Originaltitel von Kälte lautet Chołod), einem Anwesen von 30 Gehöften mit einigen hundert indigenen Menschen, die, wie er einmal bemerkt, auf wundersame Weise ohne Scham leben. Unmittelbare Nachbarn sind die Jukagiren (aus deren Reihen rekrutieren die Cholods ihre Sklavinnen) und die als kriegerisch apostrophierten Tschuktschen. Widuch und Ljubow werden von den auch Ljaudis genannten als Gäste aufgenommen, Gabaidze wird mit seinen Stümpfen und Blendungen zu einer Art Zauberer erklärt, der dem ansässigen spirituellen Führer den Rang abzulaufen droht. Man kann dem Leser nur raten, die cholodsischen Termini (Walkwas, Karjas, Dauschja, Mejras, Kotschen, Tauta, Rezis, etc.) die Widuch in seinen Schilderungen wie selbstverständlich verwendet, zu notieren, denn im Laufe dieser Gulliver-Ethnologie werden sie vorausgesetzt, andernfalls kann man dem Text kaum folgen.
Da ist von allerlei Seltsamkeiten die Rede, etwa Fliegenpilz- und Initiationsritualen, der Beschreibung von Rentierkastrationen, den Stellenwert der Sklavinnen, die, als man ihnen die Freiheit gibt, alle bleiben, einem Mann, der sich als weiblicher Geist fühlt (und irgendwann wieder »zurückkehrt«) oder jukagirischen Märchen, bei denen Kleinkinder gegessen werden. Widuch fühlt sich wohl, ist »aufgelebt«, er lernt die Sprache. Ljubow gelingt es, die Gunst eines Sohnes des politischen Führers des Volkes zu gewinnen. Nach zwei fast paradiesischen Jahren kreist eine Propellermaschine um das Anwesen und ein weiteres Jahr später landen dort unverhofft zwei russische Wissenschaftler. Widuch und Ljubow befürchten, dass sie nun entdeckt und wieder zurück in das Straflager transportiert werden, während die Cholodser den beiden Russen aufgeschlossen begegnen, sie bewirten, denn Gastfreundschaft ist heilig bei ihnen. Widuch bringt das Flugzeug zur Explosion. Und die inzwischen schwangere Ljubow umgarnt die beiden Russen, geht mit ihnen in die Sauna und kommt dann nach einigen Vergnügungen mit zwei abgeschlagenen Köpfen wieder heraus. Die Cholodser sind empört, es gibt eine Verhandlung.
Widuch verteidigt Ljubow. Er versucht ihnen, Stalin und sein Repressionsregime zu erklären. Ljubow sei eine »große Heldin«, habe Cholod durch die Tat »gerettet, wenigstens für einige Zeit, denn wenn Russland kommt, dann so, dass hier von eurem Leben nichts mehr bleibt.« Er setzt zu einer Philippika an: »Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland…das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst…So wird Russland kommen und euch auffressen und ausscheißen…« Er merkt das Unverständnis der Cholodser und wütet weiter. »Und Russland…ist wie eine große Springflut…alles nimmt sie mir und geht, aber Russland ist schlimmer, denn die Woge zieht sich zurück, aber Russland niemals…Wo der Russe seinen Fuß hinsetzt, dort bleibt er auch. Er zieht sich nicht zurück.« Und dann, nach all den Jahren, kommt Gabaidzes große Stunde. Er, der inzwischen das spirituelle Oberhaupt ist, redet dagegen: »Russland wird euch Reichtum und Wohlergehen bringen…Habt keine Angst vor Russland. Russland ist gerecht…Russland bringt viel Wodka.« Hier hat Szczepan Twardoch den Höhepunkt seiner Parabel gefunden, er hätte enden können, aber die Versuchung auch noch Motive von Verbannung und Odyssee auszuspielen, schien zu groß. Ljubow wird verbannt und ihr Liebhaber nebst seiner Familie wie auch Widuch verlassen Cholod, man segelt weg, ohne Kompass, ohne Ziel. Das Personalschachbrett wird je länger die Reise dauert immer lichter, es häufen sich die Opfer und Menschenopfer und am Ende bleiben nur noch eine Handvoll.
Viele Twardoch-Figuren aus vergangenen Romanen, wie etwa Konstanty Willeman, Josef Magnor oder Alois Pokora, taumelten in ihrem unverschuldeten Schicksal, waren der Welt ausgeliefert und der Leser folgte ihnen gebannt und auch ein wenig ergriffen. Twardoch gelang es, ihnen Würde zu geben, so verkommen, paranoid oder dumm sie auch waren oder schienen. Der Erzähler hielt Abstand zu seinen Protagonisten, es wurde manchmal polyphon, manchmal allwissend erzählt, aber stets mit lakonischer Intensität. Hier, in Kälte, bei Konrad Widuch, ist es anders. Diese Notizbücher kommen eher wie Rollenspielprosa daher, die von der Abenteuerlust und dem Voyeurismus des Lesers leben, dieser Figur beim Überleben zuzuschauen, was stellenweise an eine besonders herausfordernde Survival-Dokumentation erinnert. Hier wie dort gibt es diese künstlich inszenierten Spannungselemente, unnötig und überflüssig, denn die Figur muss ja bis zum Zeitpunkt der Niederschrift überlebt haben; der Tod hätte bedeutet, dass diese Notizen nicht hätten entstehen können. Oder ist es am Ende nur eine groß angelegte allegorische Erzählung auf den Terror als Herrschaftsinstrument im allgemeinen und Russland im Besonderen? Zumal man weiß, dass Twardoch sich nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine publizistisch sehr emphatisch auf die Seite der Ukrainer geschlagen hat.
Die Notizbücher des Konrad Widuch vermögen es nicht, den Leser zu berühren. Sind die Dokumente echt, fehlen ihrem Autor die literarischen Mittel. Sie sind allenfalls als Zeugnis überbordender Phantasie interessant. Und vielleicht ist es ja wirklich nützlich zu wissen, dass die Leber von Eisbären Giftstoffe enthält oder wie man auf sich allein gestellt in der Arktis überlebt, was übrigens schon damit beginnt, richtig zu scheißen. Wenn diese Notizbücher erfunden sind, hat es Twardoch nicht verstanden, Literatur zu formen. Diese mit Trash garnierte Melange aus Abenteuer- und Schelmenroman scheitert.
In der dritten und letzten Intervention, einem Nachwort Szczepans, wird das Ziel von Borghild Moens Reise deutlich, was die beiden durch widrige Umstände (russische Küstenwache) trotz eines emphatischen »Guck« nur schemenhaft erahnen konnten, falls man nicht einer Luftspiegelung aufgesessen war, denn der Zielort Moens ist auf keiner Karte verzeichnet und in ethnographischen Werken über sibirische Völker gibt es keine Cholodser. 2022, als Szczepan diesen Roman schreibt, ist, so erfährt der Leser, die Dame verstorben, in einem luxuriösen Hospiz in London. Mehr will er nicht sagen; so ist ihm auch eine Aufnahme eines Gesprächs mit Moen auf dem Handy ins Meer gefallen. Die Wahrheit sei wichtiger als eine gute Geschichte – derart pathetisch beendet Twardoch dieses Buch. Ich lege den Roman nach der Lektüre weg und bin einfach nur enttäuscht.
Die Lebhaftigkeit des Sadismus ist etwas beunruhigend. Was ist Twardoch für ein Jahrgang?! Vermutlich hat Twardoch Freude an der amoralischen Schilderung, weil es immer eine kleine Versuchung darstellt, seinen Zynismus zu kontrollieren, um andere damit zu erschrecken. Aber so richtig lehrreich ist das nicht. Das ganze Panorama kommt mir nihilistisch aber kraftlos vor. Es gibt anscheinend kein tieferes Interesse, doch mal den großen Anlauf zu machen, um Gut und Böse zu unterscheiden, – um irgendeine zivilisatorische Anstrengung zu unternehmen, die Früchte trägt... Überleben als wenig anspruchsvolle Aufgabe?! Aber was ist dann lustig, was ist schrecklich?! Ohne Maßstäbe verflacht jede Erzählung automatisch. Das ist vielleicht viel mehr »russisch«, als Twardoch für sich gelten lassen würde. Was kommt uns da entgegen, mit diesem literarischen Eishauch?! Das kontinentale Ende der Welt, das der Westen so stoisch eselsdumm ignoriert?! Das kontinentale Ende der Welt, das der Westen so dringend vereinnahmen möchte?!
Twardochs Jahrgang kann man nachschlagen; er ist 44 Jahre alt. Er mag vieles sein, aber ich glaube nicht, dass er ein Zyniker ist (auch wenn diese Figur zynische Züge hat). Die Motivation für dieses Setting erschließt sich mir auch nicht. Es ist m. E. überorchestriert, fast ein bisschen Karl-May-haft. Das kannte ich von ihm nicht.
Zorn und Zeit
Origineller Gedanke: Die gigantomanischen, fernen Badlands des Kontinents für den kleinen Zipfel Europa zu vereinnahmen – aber liegen die für unsere mentalen Maßstäbe nicht wirklich zu weit weg? Hätten wir mit unserem ewigen Klein-Klein denn auch nur genug Aufnahme-Geist für solch eine Landmasse mit sozusagen einer eigenen Schwerkraft?
Und wenn der Leviathan auf lange Sicht noch zu bändigen bleibt, dann ist die Dugin’sche Idee des Imperiums fast ein alles wieder fassbar machender Gedanke: Mach alles eins. Setzt den Zaren wieder ein. Die gottähnlich omnipotente Instanz als Schicksalsvertreter wie Lösung, die auch das Gute und Böse für alle endlich wieder scheidet. Ist es nicht auch das, wonach sich die Orientierungslosen hierzulande sehnen?
Aber so viel Negativität = Russland, gefühlt seit Anbeginn, müsste man erst mal verdauen können. Russland scheint da eine heillose, dabei gegen die Rationalität auf sich bestehende ‘Alternative’. Dagegen können wir mit unsererem bisschen Aufklärung auf längere Sicht vielleicht gar nicht gegen an?
Ich war neugierig auf das Buch (oder bin es auf so einen Kopf wie Twardoch), weil es irgendwelche seltsamen Anklangsnerven eines krypto-slawischen Erbes berührt, fassziniert mit diesem neopaganen-mythischen Zug der langen Bögen einer ‘zyklischen’ Zeit. (Anklänge daran, zeitnaher akzentuiert, gibt es ähnlich auch bei Stasiuk, und natürlich bei den Russen selbst, etwa bei Bitow ... komme gerade auf den Buchtitel nicht.).
Und noch jemand war mir eingefallen: Jerzy Kosinki. Der war mal, bevor er ein unrühmliches Ende nahm, eine Art Limonov avant la lettre, als Exot so was wie ein Glam-Schriftsteller des Ostens mit Auftritten in Talk-Shows, provokativen Thesen, mit Fotos auf den Promi-Seiten (mit Norman Mailer und Society-Schönheiten), und, wenn es mich nicht trügt, einem Fortsetzungsroman im (Henry Nannen-)Stern.
Bei Kosinki scheint es eine erstaunliche Parallele zu den in »Kälte« geschilderten Barbareien zu geben, und zwar in dessen Der bemalte Vogel, ein Buch, von dem ich bis heute gewisse Teile nicht lesen kann, so sehr graust es mich.
Was ebenfalls anklingt – und was sich in dem unrühmlichen Ende Kosinkis spiegelt, auch in dem Verdacht, ‘es wäre alles nur ausgedacht gewesen’ – ist der unzuverlässige Erzähler, der Geschichtenmacher als verdrehter, über-rationaler Zeuge, der auch offen dubiose Techniken und Belege anführt, sich, nicht als einfacher Hochstapler, sondern als Trickster, mit seinen Übertreibungen und schweijkartig-schwadroneurhaften Kolportagen Plot-Freiheiten zu verschaffen, die sich irgendwelchen Formen von ‘Realismus’ verschriebene Autoren, nicht mal schwanen lassen können/wollen.
Und das passte dann wieder in die Tradition von dem wilden Osten, der immer wieder mal – und für Viele anscheinend wohltuend – unsere kleinlichen Begriffswelten sprengt.
Es gibt einen Text von Twardoch vom Juni 2022, unmittelbar nachdem man die Massaker um Butscha und Irpin entdeckte, der schon in der Überschrift Widuchs Credo wiedergibt, dass Russland immer Russland bleiben wird. Twardoch schreibt zunächst über Solschenyzin, der einst den Einmarsch der Russen in Ostpreußen miterlebte und mitverantwortete, über die Plünderungen und Vergewaltigungen berichtete, sich selber exkulpierend, aber eben auch nicht einschreitend und dann schildert Twardoch die Erlebnisse seines Großvaters mit 25, als »die Russen in Oberschlesien einmarschierten«:
»Er war vom Volkssturm desertiert, weil er im Januar 1945 nicht für Hitler sterben wollte. Er versteckte sich bei Verwandten, und als die Russen kamen, sah er sie bei ihrer Arbeit. Er hat sich diesen Anblick gut gemerkt, aber mir nur einziges Mal davon erzählt: An der Friedhofsmauer in Przyszowice nahmen Soldaten in blauen Hosen (also vom NKWD)…aufs Geratewohl Erschießungen vor, und mein Großvater sah sie aus einem Versteck in der Nähe, er sah sie töten und muss noch viel mehr gesehen haben, doch davon sprach er nicht mehr.«
Twardoch erkennt mit Russland/der Russen ein Kontinuum, dass man früher auch den Deutschen anlastete und heute immer noch die Chinesen und Koreaner den Japanern anlasten: Sie (die Russen, die Deutschen, die Japaner) sind ein unverbesserliches, blutrünstiges, mindestens gefährliches Volk, unfähig sich zu ändern, jederzeit wieder bereit, die Zivilisation mit Füssen zu treten, sofern sie entsprechend konditioniert und aufgehetzt werden.
Nein, das steht so in Kälte nicht und doch kann ich nicht anders, als dieses Notiz- oder Tagebuch der Figur Widuch als aus der Empörung und Wut geborenes, durch Überlieferungen untermauertes Textgebilde zu interpretieren, in dem die Ausweglosigkeit eines europäischen oder von mir aus eurasischen friedlichen Ordnung erzählt wird.
Wäre die Deutung, das dieses seltsame Völkchen von Cholod eine Metapher für den »Westen« stehen soll, allzu kühn? Oder wäre das einfach nur trivial? Wäre die Tatsache, dass dieses Volk der Cholodser nicht aufzufinden ist, eine Dystopie auf den zum Untergang geweihten, weil diesen Gewalten am Ende hilflos ausgelieferten »Westen«?
2012 besuchte Twardoch Wilflingen, wollte in das inzwischen zum Museum ausgestatteten Haus Ernst Jüngers, eines Autors, »dessen Bücher für mich wichtig sind«, wie er schreibt. Aber das Museum war geschlossen und er scheint für einen Moment wie aufgewacht aus einem Traum, fragt sich, was er eigentlich an dem Ort wollte, »wozu also hatte ich diesen Umweg von dreihundert Kilometern gemacht, wie ein klägliches Teenagermädchen, das zum Haus seines Idols pilgert in der Hoffnung, wenigstens seinen Schatten im Fenster zu erhaschen? Ich wollte doch gar nichts erfahren, nichts verstehen, suchte keine Nahrung für meine Einbildungskraft, nicht einmal am Museum war mir gelegen. Hirschbraten hätte ich in vielen Gasthäusern essen können, gutes Bier gibt es in Deutschland auch genug. Wozu also?« Und dann: »Einfach so. Es war toll.«
Einmal erwähnt Twardoch in seinem Buch Wale und Nachtfalter, einem Tagebuch vom Leben und Reisen, aus dem dieses Zitat stammt, eine Sentenz Jüngers aus Eumeswil über den Konservativen und die Zeit. In Drach gibt es eine Schilderung eines Kriegsverlaufs im Ersten Weltkrieg, die am Jüngers berühmten Text vom Wäldchen 125 (bei S. T. ist es die »Höhe 165«). Und ich frage mich nun, ob Kälte womöglich auch etwas mit Jüngers Sicht auf die Weltläufe zu tun haben könnte.