Eigentlich sind es dreizehn Erzählungen, die Christoph Ransmayr in seinem neuen Buch versammelt hat. Allesamt sind sie zwischen 1997 und 2018 publiziert worden und werden jetzt mit dem leicht-resignativen Titel Als ich noch unsterblich war endlich an einem Ort zusammengefasst. Wobei der abergläubische Autor in einem kleinen Vorwort von »12a« spricht, um diese ungeliebte Zahl zu vermeiden. Man kann allerdings auch einfach die Einleitung als 14. Geschichte lesen, zumal dort das Cover vom brennenden Schabrackentapir erläutert wird.
Ransmayr spricht in 12a von »Spielformen der Erzählkunst« und beweist in diesem Band seine Vielseitigkeit. Die Titelgeschichte, die den Band eröffnet, handelt von ihm als Kind, welches beim Essen der Buchstabensuppe durch die Mutter angelernt wird »mit einem Löffel voll Buchstaben…die Welt in der Hand« zu halten und sich dem »Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache etwas seltsam Friedliches« hinzugeben. Dieser paradiesisch anmutende Zustand kommt zu einem jähen Ende, als die Mutter »kaum sechzigjährig, an einem heißen Augusttag starb«. Auf dem Totenbett aus Verzweiflung nach Worten ringend, mahnte die Mutter ihren Sohn gestikulierend zur Stille. Ein bewegendes Bild.
Auch die an vorletzter Stelle wie beiläufig eingearbeitete Vatergeschichte An der Bahre eines freien Mannes ergreift den Leser. Karl-Friedrich Ransmayr wird hier als ein Wiedergänger von Michael Kohlhaas erzählt. Dabei klingt es zunächst mehr nach Bartleby. Ransmayrs Vater widerstand als Schüler dem Druck, auf eine Nazi-Eliteschule zu gehen und lehnte es später ab, die Offizierslaufbahn in der Wehrmacht einzuschlagen. »Ich wollte unter diesen Leuten nichts werden«, erklärte er hinterher. Nach dem Krieg wurde er Lehrer und engagierte sich ehrenamtlich, verfasste Eingaben und Gesuche »für Bauern, Handwerker, Gastwirte, Faßbinder und Schichtarbeiter«, schließlich stellvertretender Bürgermeister und vergab hemdsärmelig und unkonventionell Kredite an Kleingewerbetreibende. Seine Beliebtheit weckte Neider, man denunzierte ihn, Gelder veruntreut zu haben. Es wurde ermittelt, Karl-Friedrich Ransmayr »verlor seine Stelle als Oberlehrer, verlor alle seine Funktionen in den Vereinen des Ortes und natürlich auch seinen Rang als stellvertretender Bürgermeister«. Der Prozess ergab, dass er sich zwar nicht bereichert und der Gemeinde keinen Schaden zugefügt hatte, aber der juristische Tatbestand der Untreue blieb bestehen. »Aber Kohlhaas, mein Vater, wollte zum ersten Mal in seinem Leben keine Nachsicht, auch keine Milde, sondern Gerechtigkeit« und »weigerte sich, das Urteil anzunehmen.« Immerhin: »Nach fünf Jahren Nachtarbeit am Fließband der Papierfabrik« erfolgte die vollständige Rehabilitation. Dann starb seine Frau, Ransmayrs Mutter. Der Vater »lehnte…die Wiederaufnahme in die dörfliche Gemeinschaft ab« und organisierte sein Leben neu. Ein zärtlich-bewundernder Ton ist in dieser Erzählung eingewoben.
Wie sollte es bei Ransmayr anders sein – es finden sich selbstredend auch Reiseerzählungen im Band. Etwa vom Aufenthalt am See von Phoksundo, Tibet, als der Erzähler am Neujahrstag aus der Zeit fiel (was paradox klingt, weil er sich am Neujahrstag orientierte). Merkwürdig, als er und sein Wegbegleiter von einem Einheimischen, bei dem sie vorher zu Gast gewesen und eine Flasche »trüben Reisschnaps« geschenkt bekommen hatten, in einigem Abstand durch den Tiefschnee im Hochgebirge bis zu dem Ort, der dann doch unbewohnt war, gefolgt war. Die Auflösung ist so überraschend wie wunderbar.
Es geht nach Sri Lanka, »in Sichtweite des Krieges zwischen tamilischen Separatisten, den Tamil Tigers, und der singhalesischen Armee«, orchestriert bisweilen von »triefende[n] Horden von Hulman-Affen« (The Last Picture Show) und ins »Packeis der Hocharktis« auf den Spuren der Payer-Weyprecht-Expedition 1873 beginnend im »Mittelportal der Österreichischen Nationalbibliothek« (Floßfahrt). Die österreichischen Entdecker brauchten damals mangels Bevölkerung keine Ureinwohner massakrieren, wie Ransmayr süffisant anmerkt und nannten das Archipel in Verehrungsabsicht Franz-Joseph-Land. In den besten Augenblicken dieser Erzählung weiß man nicht, ob er noch in Wien über den Atlanten sitzt oder schon Passagier ist auf einem russischen Eisbrecher.
In Mädchen im gelben Kleid entdeckt der reisende Erzähler in der Nähe der ostafrikanischen Virunga-Vulkane ein wasserschleppendes, junges Mädchen, eher ein Kind, an dem er die Folgen »durch die Abgesandten aus den vermeintlichen Zentren der Kultur – aus Spanien, Frankreich, den Niederlanden, England, Portugal, Deutschland« zu erkennen glaubt (bei der Aufzählung der Schufte hat er die Belgier und Italiener vergessen). Der Kolonialismus habe eine »zertrampelte Bühne der Grausamkeit« hinterlassen; die Länder dienten als »Quellgebiete des europäischen Reichtums«. Das Angebot der Crew, sie mitzunehmen, lehnte das Mädchen ab, was klar ist, denn »wer die Weißen nicht fürchtet, der kennt sie nicht«.
Selbst für die Verbrechen des ugandischen Diktators Idi Amin Dada, der immerhin für den gewaltsamen Tod von vierhunderttausend »Untertanen« (!) verantwortlich zeichnet, sind, so der Erzähler, die Briten verantwortlich, denn Idi Amin »hatte sein Handwerk als Offizier der britischen Kolonialarmee gelernt«. Da ist man froh, dass die Pariser Universität, an der einst Saloth Sar studierte, nicht auch noch in den Fokus rückt. Schließlich erfährt der Leser den eher lächerlichen Zweck der Reiseunternehmung: Man möchte im ruandischen Dschungel unter Führung kundiger Wildhüter Fotos von Begegnungen mit Berggorillas machen (was auch gelingt).
Wuchtiger als diese beiden etwas faden Texte sind zwei Erzählungen aus Irland. Einmal geht es nur um einen Mann, der »am Ende einer lauten Beschimpfung des Meeres und aller Plagen der Fischerei auch noch seinen Kühlschrank verfluchte und plötzlich begann, seine Klagen und Flüche zu singen!« (Der Sänger) Und dann wird von Glaisín Álainn erzählt, einer Freiluftbühne, »hoch über den Klippen der südirischen Atlantikküste, an einer der unzähligen, von Feldsteinmauern, Stechginster und Fuchsienhecken gesäumten Straßen, die sich zwischen den Leuchttürmen von Galley Head und Irlands südwestlichstem Kap, dem Mizen Head, in tief eingeschnittenen Buchten und felsigen Hügelketten verlieren«. Zusammen mit seinem Freund Eamon aus Skibbereen wird nicht nur die Geschichte dieses einzigartigen Ortes ergründet, sondern damit zugleich auch die irische Geschichte von Hungersnöten, Kriegen, Schiffskatastrophen und millionenfachen Auswanderungen großartig evoziert (Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer).
Die Verbeugung des Riesen ist eine Zeitreise in den April 1989. Ransmayr ist in Hongkong auf einem Symposium, es ist der Frühling der Hoffnung, überall gibt es Demonstrationen gegen den »Oligarchen Deng Xiaoping« und es bleibt alles friedlich. Er und Hans Magnus Enzensberger beobachten die Festtage von Tin Hau, »der Schutzpatronin aller, die den Untergang zu fürchten hatten« und da kommt ihm natürlich Enzensbergers Titanic-Gedicht in den Sinn. So streift die kleine Erzählung den (am Ende brutal gescheiterten) politischen Aufbruch in China und wird nebenbei zu einer Hommage an den Freund. In Sarah Rotblatt, Schönheitskönigin zeigt Ransmayr, dass er auch ihm unsympathische Protagonisten wie in diesem Fall den Wiener Fotografen Lothar Rübelt portraitieren kann, ohne die Person zu denunzieren.
Zwei Texte weichen stilistisch von den anderen Erzählungen ab, was die einleitende Formulierung vom »breitgefächerten Formenreichtum« unterstreicht. Zum einen handelt es um ein ambitioniertes, zivilisations- und wissenschaftskritische Prosagedicht in drei Teilen mit dem Titel Strahlender Untergang, einer »Rede vor einer akademischen Delegation in der Oase Bordj Moktar«. Naturgemäss denkt man sofort an eine auf das 21. Jahrhundert gewendete Variation des Berichts für eine Akademie. Es kommt jedoch pointierter, als Abrechnung mit dem »Herrn der Welt« daher, der »zu siebzig Prozent aus Wasser« bestehe. »Weiß oder schwach pigmentiert« ist seine Haut. Dieser Herr der Welt, Metapher für das, was man »Westen« nennt, habe »zu viel verwechselt: Kultur mit Zivilisation, die blinde Entwicklung seiner Technik mit Fortschritt, Ideologie mit Bewußtsein, Herrschaft schließlich mit Ordnung«. Er »dehnte sich auf dem Rücken ihm fremder Kulturen und erklärte das Fremde zum Rohstoff und Baumaterial der eigenen Zivilisation.« Folgerichtig wird auch die (abendländische) Philosophie verworfen, die eine »Aufblähung des Denkens« zur Folge und »zur Verwandlung des Wissens in ein Gewirr fruchtloser Daten geführt« habe. All dies gehört nun der Vergangenheit an. Der Redner raunt von einer »Neuen Wissenschaft«, die »dem Herrn der Welt die Bedingungen seiner eigenen Auflösung« in einer »Form des Verschwindens« schafft. Der »verwesende Leichnam« des einstigen Weltenherrschers wird nur noch für die »Keimung eines Dattelkerns nützlich sein, und aus dem Dung wird sich allmählich eine Palme aufrichten.« Die Neue Wissenschaft »vermeidet Diskussionen, wenn es gefestigte Einsicht in Praxis umzusetzen gilt.« Der Text lässt Raum für Interpretationen.
Zum anderen die letzte Erzählung im Band, Damen & Herren unter Wasser, einer heiteren Mischung aus Fabel und Groteske, in der Gestorbene in vollem Bewusstsein ihres ehemaligen Lebens als Meereswesen wiedergeboren werden. Da erzählt zunächst der »alleinstehende, kinderlose, von unkontrollierbaren Schweißausbrüchen geplagte, oft übellaunige Museumswärter« Blueher seine Erlebnisse als Großflossen-Riffkalmar auf dem Grund des Meeres. Glücklicherweise gibt es sporadisch noch andere Verwandelte, mit denen man kommunizieren kann, wie Herrn Reddish, einst Wasserbettverkäufer, jetzt eine »Imperialgarnele«, die ehemalige Schwimmlehrerin und jetzige Kronenqualle, Frau Horange oder Herr Blackthorn, vormals Installateur. Zu Höchstform läuft Ransmayr, pardon: Herr Blueher, auf, als er Frau Whitney, »ein schön gemustertes Flohkrebschen«, im »Oberweltdasein« ehemalige Ministerin, entdeckt, die »schon in ihrem parlamentarischen Luftleben stets mehr auf die Wirkung ihrer Reden geachtet als auf deren Inhalt« und deren »leichter, weder besonders karrierestörender noch außergewöhnlicher Mangel an Kompetenz« seinerzeit von »Sachbearbeitern, Umweltschützern oder selbst ihren eigenen Redenschreibern zu erschöpfenden, qualvollen Verpflichtungen« führte.
Wer weiß, am Ende ist die Geschichte über das Schabrackentapir nur eine weitere, listige Allegorie des Autors. Und in Wirklichkeit handelt sich um einen Ableger des Goldenen Kalbs.