Drei: Grammatik und Kosmovision des runa simi, ein medizinischer Ratgeber und wie mich um ein Haar huaca gestreift hätte.
Im runa simi (genaugenommen handelt es sich um eine Gruppe von 18 nah verwandten Sprachen) offenbart sich eine Übermacht des analogen über das deduktive Denken. Das Affektive überwiegt das Rationale, weshalb die Sprache kaum abstrakte Substantive kennt, dafür aber eine riesige Fülle von oft naturbezogenen Bildern und Metaphern. Das runa simi ist eine agglutinierende Sprache mit nur wenigen Regelabweichungen in der Grammatik, verlangt aber vom Sprecher äusserste Präzision. Die übliche Syntax ist Subjekt – Objekt – Prädikat, ohne dabei jedoch starr zu sein. Fast immer liegt die Betonung auf der zweitletzten Silbe, die beim Anfügen von Suffixen mit nach hinten wandert. Satzzeichen sind insofern überflüssig, als jeder Satz durch die Kombination seiner Suffixe seine exakte Bestimmung erhält; Aussagesatz und Fragesatz beispielsweise unterscheiden sich nicht in ihrer Satzmelodie. Ebenso werden Betonungen durch Suffixe ausgedrückt.
Diminutive werden geradezu inflationär verwendet und erstrecken sich praktisch auf alle Wortarten. Sie verkleinern nicht, sondern drücken Wertschätzung, Dankbarkeit und Respekt aus (Zärtlichkeit natürlich auch). Das äusserst sich dann in der Fremdsprache Spanisch als unglaubliches Geschachtel an Diminütivchen, das einen zum Weinen bringen könnte („meine Kühlein und Schweinchenlein auf dem Äckerchen am oberchen Bergleinchenlein“, um ein wenig zu übertreiben).
Um die literarische Tradition im runa simi zu untersuchen, ist es vielleicht von Bedeutung zu erwähnen, dass es neben einer „allgemeinen Vergangenheit“ und einer „wiederholenden Vergangenheit“ zusätzlich eine „erzählende Vergangenheit“ gibt, die man beispielsweise anwendet, wenn man ein Märchen erzählt. Die erzählende Vergangenheit fächert sich wiederum in mehrere fein nuancierte Vergangenheitsformen auf: der Sprecher hatte über die vergangene Handlung keinerlei Kontrolle. Oder etwas ist vollkommen überraschend eingetreten. Oder man kennt das Erzählte nur vom Hörensagen. Dieser „Vergangenheitsreichtum“ lässt unendliche Möglichkeiten für die Epik erahnen.
Der runa-simi-Sprecher hat ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass die Sprache nicht einfach nur ein Mittel zur Kommunikation und Information ist. Sie ist Teil seiner selbst und des Universums, wie ein Körperteil, eine Tierart, eine Zeit oder eine Himmelserscheinung. Dies lässt sich wunderbar aufzeigen an Ángel Avendaños medizinischem Handbuch Medicina Popular quechua. La rebellión de los mallkis, in dessen Vorwort er gesteht, dass er für die zweite Auflage die „lyrischen Exzesse“ ausgemistet habe. Das Buch gliedert sich in sechs ungefähr gleich gewichtige Kapitel:
- Elemente der quechua-Grammatik (worin auch vom Selbstbewusstsein und von der Schönheit die Rede geht, vom Entkolonialisieren der Grammatik, Semantik und Lexikographie; es folgen eine Brandrede gegen die Conquistadoren und modernen Linguisten sowie ein Dank an diejenigen christlichen Missionare, die sich um Verstehen und Überlieferung bemüht haben)
- Beschreibende Anatomie (wobei als allererster Gegenstand der Anatomie die Lebensalter des Menschen abgehandelt werden)
- Krankheiten – allgemeine Nomenklatur (der Name ist oft fast schon die Krankheit selbst)
- Volks- und Pflanzenheilkunde
- Kosmovision der Anden – Heiler und Glauben
- Glossar des Okkulten – Dämonologie und Parapsychologie
Mutet das nicht eigenartig an, ein medizinisches Handbuch, das den ersten Teil der Sprache widmet und auch in allen anderen Kapiteln den Namen der Organe, Krankheiten, Heilpflanzen, Geistern etc. so grosse Bedeutung beimisst? Ja, doch. Solange, bis man sich irreversibel auf die Zunge gebissen, einen wichtigen Namen vergessen oder das Gehör verloren hat. Dieses Buch ist geradezu symptomatisch für die Kosmovision der Anden; und an dieser Stelle sei auch gleich erklärt, weshalb ich „Kosmovision“ eingedeutscht habe, anstatt einfach „Weltanschauung“ zu sagen, wie es doch im Diktionär steht: weil „Weltanschauung“ zu winzig klingt, eher nach einem neuen Plüschüberzug fürs Sofa.
Das runa simi kennt zahlreiche Konzepte, die für Aussenstehende wohl nach hundert Jahren Einsamkeit in den Anden noch nicht fassbar würden. Sagen wir: huaca. Vielleicht steht es ja in irgendeinem Reiseführer; huaca geht etwa durch als das, was die durchschnittliche Schweizer Mittvierzigerin „Kraftort“ nennen würde. Für den Hausgebrauch mag das ja genügen. Doch alles kann huaca sein. Ein Ort, eine Quelle, ein Zeitalter, eine Schüssel, ein Blitz, ein Stein, ein Mensch, ein Wort, eine Spinne, eine Zwillingsgeburt, ein seltsamer Vorgang, ein Monster. Huaca ist manchmal Substantiv und manchmal Verb und dann wieder Adjektiv. Aber huaca meint ganz bestimmt nicht „magisch“. Das ergäbe im runa-simi-Denken überhaupt keinen Sinn, denn das würde ja einen Dualismus wie unser „natürlich versus übernatürlich“ voraussetzen. Ich kann nicht weiterhelfen. Andrés (aymara aus Puno, Archäologe und Reiseführer) legte meine Hand (bei der Ausgrabung Sillustani) auf eine in Stein geritzte Spirale und hiess mich, weiterzuatmen und mit den Fingern genau hinzuhören. Just in dem Moment, da ich meinte, huaca an einem Zipfel zu fassen zu kriegen, lachten die neureichen Mädchen aus Lima: „Primitiver Aberglaube!“, belehrte der Franzose in der North-Face-Jacke: „Geomagnetismus!“, quengelte die Engländerin, die dummerweise keine solche Jacke hatte: „Wann gehen wir endlich zum Bus zurück?!“ – Nun werde ich niemals herausfinden, was huaca ist, dabei war ich so nah dran! (War ich…?) Ein Trost, dass ich es ohnehin nicht erklären könnte, wenn ich‘s wüsste. Und dass mich das noch lang nicht befähigen würde, ein runa-simi-Gedicht aufzunehmen. Aber ich schwöre, da war irgendwas!
Vier: Geschichte der Überlieferung und die Entwicklung der Dichtung während und nach der Kolonialzeit; mit einem Exkurs über Leben und Werk des Inka Garcilaso de la Vega.
Leider ist unser Wissen über die Literatur der Inka vor der Eroberung sehr lückenhaft und durch den hispanischen Filter verzerrt, denn erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts setzte unter dem Vizekönig Francisco de Toledo eine intensive Auseinandersetzung mit der Indiokultur ein, und das aus sehr indiofeindlicher Perspektive. Ebenfalls um 1600 befassten sich erstmals Mestizen oder hispanisierte Indios mit den spanischen Chroniken und äusserten sich vom indianischen Standpunkt aus zum traumatischen Zusammenstoss der beiden Kulturen (erwähnt sei La instrucción del Inca Don Diego de Castro von Titi Cusi Yupanqui – der sich nach der Taufe eben Diego de Castro nannte –, Nachfolger des Inka Manco II.). Die wenigen uns heute bekannten Dichtungen wurden frühestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts übertragen. Am wenigsten weiss man über die narrativen Werke. Heldenepen und Mythen sind uns nur durch indirekte Darstellung der Chronisten und Missionare bekannt, die sich darum bemühten, den „alten Aberglauben“ auszurotten. Andererseits jedoch ging die Missionierung sehr langsam vonstatten, so dass die literarische Produktion in runa simi niemals abriss. In der Kolonialzeit bediente sich der mestizische Klerus sowohl des runa simi als auch des Spanischen, um inkaische Hymnen und Gebete konform mit der katholischen Kirche umzudichten. Auch die profane Dichtung wurde zu jener Zeit hauptsächlich von Mestizen verfasst, unter Verwendung der kastilischen Metrik und spanischer Lehnwörter. Vermutlich gab es weiterhin eine genuin indianische Dichtung, die aber sozusagen im Untergrund und vor allem in der oralen Tradition verblieb und nicht überliefert wurde.
Bis ins 18. Jahrhundert hinein entstanden ständig neue Dichtungen, darunter sehr viele religiöse (christliche oder synkretistische) Theaterstücke. Die Bühne wurde instrumentalisiert, um biblische Geschichten unter die analphabetischen Laien zu bringen. In der Unabhängigkeitsepoche gewann die Auseinandersetzung mit dem indianischen Element identitätsstiftende Bedeutung; in die Zeit um 1800 fällt beispielsweise die erste Niederschrift des Dramas „Ollantay“. Traditionelle Formen wurden wiederbelebt. So versuchte etwa der peruanische Dichter Mariano Melgar, das yarawí (Liebeslied) in der spanischen Sprache zu etablieren.
Seit dem zwanzigsten Jahrhundert blüht die indigene Dichtung wieder auf. Nach wie vor wird sie aber als minderwertig diskriminiert und für weniger komplex gehalten als die von der europäischen Tradition geprägten National- oder Kontinentalliteraturen. So wird die moderne runa-simi-Dichtung einerseits von aussen marginalisiert, bleibt andererseits aber auch von innen hermetisch (und zu einem grossen Teil nach wie vor oral). Oft prophezeit ein ausschliessendes Wir historisch-soziale Kataklysmen, zieht der indianische Messias in eine rituelle Schlacht oder blutet ein bäuerlicher Märtyrer aus, was auf Aussenstehende entweder wehleidig oder anachronistisch wirkt, oder für sie aus Unkenntnis einer Tradition, die über Jahrhunderte im Untergrund operieren musste, schlicht nicht zugänglich ist. Auch die indigene Gemeinschaft selbst hat sich aufgespalten in zwei Kulturen: die weiterhin ländliche, sowie die urbane Diaspora der Landflüchtigen. Bereits José María Arguedas (1911 – 1969), einer der wichtigsten Vertreter des indigenismo, hat aber bewiesen, welches Potential die moderne runa-simi-Dichtung entfalten könnte, wenn man sie denn liesse. Um die abgedroschenste aller Phrasen auch noch unterzubringen: Globalisierung und Internet werden womöglich dazu beitragen, den indigenen Stimmen (nicht nur des runa simi) mehr Gehör zu verschaffen, hoffentlich aber ohne in einem romantisierenden, profillosen Einheitsbrei zu verköcheln wie die sogenannte world music.
Doch zurück zur Inka-Dichtung. Da alle Überlieferungen lyrischer Werke auf den Transkriptionen in den Chroniken basieren, sind die ursprünglichen Formen kaum zu rekonstruieren. Die Chronisten waren entweder eben dies, reine Geschichtsschreiber, die bar jedes dichterischen Handwerks einfach grob in krude Prosa übersetzten, ohne Rücksicht auf Form, Metrum oder Reim (womit wir nicht mit Sicherheit wissen, ob der Reim überhaupt verwendet wurde), während andere Chronisten durchaus poetisch geschult waren, die Gedichte und Lieder jedoch in europäische Formen umgossen. Es besteht eine auffällige Ähnlichkeit zwischen manchen inkaischen Gedichten und frühmittelalterlichen Liedformen der iberischen Halbinsel, beispielsweise in den Wiederholungsstrukturen, aber es lässt sich nicht sagen, ob dies Merkmale der Dichtung selbst sind oder nur ihrer Überlieferung.
Zu einem nicht unwesentlichen Teil stütze ich mich in diesem Essay auf die Comentarios reales des Inka Garcilaso de la Vega. Den Vorwurf subjektiver Sympathie (nein, Bewunderung!) lasse ich mir gern gefallen, aber es wird Garcilaso allgemein attestiert, dass er um seine Verantwortung wusste und sehr sorgfältig vorging bei der Auswertung historischer Quellen. Man muss nur im Hinterkopf behalten, dass er sowohl die Inkas als auch die Spanier als Zivilisatoren glorifizierte und beide idealisiert darstellte, teils bestimmt auch in der Absicht, seine eigenen „Elternkulturen“ miteinander zu versöhnen (im Gegensatz zu seinem Kollegen und Zeitgenossen Felipe Huaman Poma de Ayala, der, aus einem niederen Geschlecht eines von den Inkas unterworfenen Volkes stammend, beide verteufelte und höchst merkwürdige Vorschläge zur Errichtung eines neuen indianischen Imperiums vorbrachte – uns dabei in seinen reichen Illustrationen aber ebenfalls unschätzbar viele Details aus dem Alltagsleben und der Geschichte der Inkas überliefert).
Garcilaso de la Vega wird 1539 als unehelicher Sohn eines Conquistadors und einer christianisierten Inka-Prinzessin (eine Cousine Atahualpas und Huascars) in Cuzco geboren. Seine Kindheit verbringt er im Schoss der Verwandten mütterlicherseits und nimmt so die (adlige) Inkakultur buchstäblich mit der Muttermilch auf. Er geniesst zudem eine vorzügliche Schulbildung. Mit 21 reist er auf Wunsch seines Vaters zum Studium nach Spanien und widmet sich dort dem Waffenhandwerk und der Dichtkunst. Er kämpft als Söldner, macht sich als Übersetzer neoplatonischer Werke einen Namen und publiziert schliesslich 1605 La Florida del Inca, eine Darstellung der Conquista in der Erzählweise eines historischen Romans. 1609 erscheint der erste von drei Bänden der Comentarios reales über inkaische Herkunft, Geschichte und Kultur, an denen er bereits seit über 20 Jahren gearbeitet hat. Garcilaso – er ist inzwischen Geistlicher – wird auf einen Schlag als brillanter Stilist berühmt und verkörpert geradezu den kulturellen und intellektuellen mestizaje. Erstmals bezeichnet ein spanisch schreibender, humanistisch gebildeter Autor Peru als „Vaterland“ und bekennt sich im selben Atemzug zu seiner indianischen Abkunft. Garcilaso kehrt nie wieder in sein Mutterland zurück; er stirbt 1616 77-jährig, am selben Tag wie Cervantes.
Allein die über alle Massen abschätzige Darstellung der vorinkaischen und von den Inkas unterworfenen Völker kann ich Garcilaso nicht verzeihen. Wohl lebte er in solchem Zeitklima, wohl wuchs er gleich in zwei Kulturen als Snob auf. Aber ein Mann mit seiner Intelligenz, Bildung, Erfahrung, Sensibilität, einer, der so sorgfältig arbeitete und es nicht nötig hatte, dem Zeitgeist das Wort zu reden, die Antithese des Schwarz-Weiss-Denkers, wie konnte der so danebenhauen?! (Und ich bin wohl selbstgerecht.)
Warum huaca nicht auch in Europa spüren?
Heute habe ich endlich Zeit gefunden, mich mit dem zweiten Teil Ihres interessanten Essays zu befassen. Leider kann ich dem wunderbaren Inhalt nicht gerecht werden, es fehlt mir zuviel an Hintergrundwissen. Trotzdem kamen Fragen beim Lesen auf, wenn auch anderer Art.
Ich fragte mich, wie die Inkas im peruanischen Hochgebirge Atmung und Sprache vereinbar(t)en. Da ja bekanntermaßen die Luft in extremen Höhenlagen immer dünner wird, verändert sich die Atmung. Und eine Grundvoraussetzung für die lautsprachliche Lautbildung ist ja die Atmung. Gibt es da anatomische Veränderungen im Rachenraum (der wesentliche Funktionen für die Lautbildung übernimmt)? Oder hängt das damit garnicht zusammen?
Das Bewusstsein, dass Sprache auch ein Teil seiner selbst und des Universums ist, das ist ein besonderer Gedanke, den es festzuhalten gilt.
Und zu einem der nächsten Absätze, meine Frage: Warum kann man/frau huaca nur in Peru spüren?
Interessant für mich ist die Beschreibung Garcilaso de la Vega. Ist sein Buch La Florida del Inca ins Deutsche übersetzt und haben sie es gelesen?
Ich habe schon oft wehleidig darüber nachgedacht, wieviel Kulturgüter über die Jahrhunderte verschwunden sind. Z.B. hat auch A. Humboldt in seinem Forscherdrang viele Tabus gebrochen ( u.a. Mumien gestohlen) und nicht Ersetzbares nach Übersee verfrachten lassen, um es im Heimatland zu erforschen. Und wieviele Schiffe sind zu der Zeit mit diesen Frachten gesunken! Und wenn sie nicht gesunken sind, dann ist hier vieles unter die Räder gekommen. Und vorher waren da ja noch Konquistadoren in Mittel-und Südamerika recht aktiv im Ausbeuten des Landes. Von den Missionaren ganz zu schweigen. Obwohl Sie ja schreiben, dass es anscheinend Missionare gab, die um Überlieferung und um Verstehen bemüht waren
Nun bin ich also wirklich gespannt, wie es weitergeht in Ihrer Abhandlung über die Dichtkunst im Inkareich.
( Übrigens, an die Diminutive hier im schwäbischen Sprachraum kann ich mich als Norddeutsche auch nach zig Jahren des „hierlebens“ nicht gewöhnen :). LG l‑s
Das würde ja bedeuten, daß man sich die Andenbewohner leicht übertrieben als japsende, kurzatmige Geschöpfe vorstellen müßte, die vor lauter Atemnot nur Einsilbiges von sich gäben. Nein: Der Körper paßt sich an die dünne Luft an, nicht die Sprache. Herzleistung und Lungenvolumen sind größer, die Zahl der roten Blutkörperchen ist höher. Das alles spielt für die Lautbildung keine Rolle. Da die Form der Pharynx für die Atmung unerheblich ist, ist sie auch nicht von den körperlichen Anpassungen an die Höhenluft betroffen.
Und selbst wenn: Abgesehen von einigen Uvularlauten in manchen Quechua-Varietäten ist der Lautbestand dieser Sprachfamilie nicht besonders »pharynxlastig«. Uvulare gibt es zudem in zahlreichen Sprachen außerhalb des Andenraumes, zum Beispiel im K’iche’ (eine Mayasprache in Mittelamerika), in manchen arabischen Varietäten und im Deutschen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Aber die andinen Sprachen sind auch nicht etwa arm an Plosiven des hinteren Mund- bzw. des Rachenbereichs. Velar- und Uvularreihen sind keine Seltenheit. Kurzum, es ist am Lautbestand oder Sprachtyp (hochgradig agglutinierend) nichts, was es nicht auch anderswo gäbe. Diese Beobachtung kann man immer wieder machen, wenn man viele Sprachen miteinander vergleicht: Kaum eine exotische Erscheinung irgendeiner Sprache ist wirklich einzigartig; das meiste kommt auch noch woanders vor.
Insbesondere ist nirgendwo auf der Welt ein Einfluß des Lebensraumes auf die Art der Sprache oder der Sprachentwicklung zu beobachten (wenn man von der gänzlich trivialen Feststellung absieht, daß der Lebensraum den Wortschatz mitbestimmt), ebensowenig wie eine Beziehung zwischen dem Sprachtyp und der Kultur der Sprecher feststellbar ist – auch wenn das im 19. Jahrundert viele namhafte Gelehrte haben vermuten wollen. Deren rassistisch angefärbten Annahmen und Vorurteile basierten damals allerdings mehr auf der Prämisse oder Wunschvorstellung, daß Latein und Griechisch die »vollkommensten« Sprachen seien (was auch immer sie mit »vollkommen« gemeint haben mögen).
@ Talakallea Thymon: danke! So ausführlich und fundiert hätte ich die erste Frage nicht beantworten können, über die Lungen und Blutkörperchen wäre ich nicht hinausgekommen. Ich freue mich immer wieder sehr über diese linguistischen Einführungskurse (manchmal hat es also sein Gutes, wenn man spät dran ist mit Kommentarkommentieren, oft kommt einem jemand zuvor, der vom richtigen Fach ist). ... Und ebenso freue ich mich, unserem alten Bekannten, dem Uvular, wieder zu begegnen; habe ich das nicht einmal mit der multiplen Ovulation der Kaninchenzibbe verwechselt?!
@ lou-salome:
»huaca« ist selbstverständlich überall, spezifisch andin ist das »Konzept« der huaca (es fällt mir einfach kein anderes Wort ein als »Konzept«). Ich konnte aber schon öfter beobachten, dass Südamerikanern hier in Mitteleuropa »huaca« oder »huaca-Sensibilität« oder wie man das nennen will nach einer Weile abhanden kommt, was sich oft in einer manifesten Depression äusserst. Klingt etwas esoterisch, aber ich glaube, es hat etwas mit der kollektiven Wahrnehmung zu tun – wo für die meisten »huaca« nicht existiert, entsteht eine Atmosphäre, in der »huaca« tatsächlich »verschwindet«. ... Ich höre hier lieber auf, sonst steht bald jedes Wort in Anführungszeichen und ich werde von der Blog-Polizei eingeliefert.
Ich konnte nach einiger Googelei keine deutsche Übersetzung von »La Florida del Inca« finden – falls jemand eine kennt, bin ich ebenfalls um Hinweise dankbar. Meine eigene Andenbibliothek setzt sich aus spanischsprachigen Raubkopien von Bouqinisten zusammen, so dass ich von Garcilaso peinlicherweise nur den ersten Band der »Comentarios Reales« gelesen habe (in drei Bände aufgeteilt, so dass ich lange glaubte – noch peinlicher! – ich hätte die gesamten Comentarios gelesen :-) ). Die Comentarios jedenfalls gibt es auf Deutsch und Englisch. Man würde dazu heute wohl »Sachbuch« sagen, liest sich aber sehr flüssig, Garcilaso ist nun mal ein begnadeter Erzähler (und – wie erwähnt – ein brillanter Stilist, dieses Spanisch ist heute noch schön und dazu leicht zu lesen; ich hoffe, die Übersetzungen tragen dem Rechnung).
„Anden-EPO“*
Meine Gedanken zur Atmung und anatomischen Begebenheiten bei der Bevölkerung aus den Hochgebirgen, also nicht nur zu den Anden-auch zu den Himalyabewohner, waren etwas zu „laut“ gedacht.
Danke, für die ausführliche Erklärung.
Jetzt versuche ich wieder laut zu denken,( ich mach’ es einfach noch einmal): durch die Evolution hat eine physiologische Anpassung stattgefunden, hier: bei Völkern aus den Hochgebirgen ( und eine Evolution nicht nur der Hämatologie, sondern auch der Anatomie) und damit könnte doch auch die Aussprache eine gewisse Entwicklung durchgemacht haben.
Für Inhalte, die ausgedrückt werden, sind Anatomie und Atmung ganz sicher ohne Bedeutung.
Ich habe noch ein wenig versucht, ergänzend etwas über Inka-Dichtung herauszufinden. Wie ernüchternd die Funde sind: das Huarochirí-Manuskript, das in Quechua-Sprache geschriebene Schauspiel Ollanta, das es Dichterschulen gab, sog. Amautes ( erinnert mich an die „Tafeln“ in Ägypten). Der Begriff Yarahuis, –>Lyrik bestehend aus Gedichten und Liedern, wird erwähnt. Garcilaso de la Vega wird in hohen Tönen gelobt ( Wikipedia) und bleibt einer der ganz wenigen Quechua-Überlieferer. Und wie Sie schreiben: „Da alle Überlieferungen lyrischer Werke auf den Transkriptionen in den Chroniken basieren, sind die ursprünglichen Formen kaum zu rekonstruieren“.
Ach ja, und ein wenig habe ich noch über die „Knotenschrift“, das sog. Kipu (-system), erfahren.
Es wurde viel von mündlicher Überlieferung berichtet, bis in die heutige Zeit hinein.
Wenn in den noch kommenden Folgen dies von Ihnen alles noch beschrieben wird , hoffe ich, nichts vorweggenommen zu haben.
Mir ist noch etwas zum huaca eingefallen. Ein ganz bestimmtes Gefühl überkommt mich, wenn ich indianischen Straßenmusikern zuhöre. Vielleicht schwingt sich ganz sanft huaca über die Panflöten in meine Ohren hinein? ( Das meine ich ernst!)
Und wie ich am 6.2. erwähnte, ich bin sehr gespannt auf Folge 2.
* EPO ( bekannt als Doping beim Sport), davon haben die Andenbewohner mehr als die Flachländer. Erythrozyten ( rote Blutkörperchen), deren Hämoglobin den Sauerstoff im Körper transportieren, werden vom Erythropoetin angekurbelt, von denen die Andenbewohner auch mehr haben. Die Hochlandvölker sind auf das synthetische EPO für ihre Leistunsgsteigerung überhaupt nicht angewiesen.