Jurysitzungen und Alarmismen
Literaturpreis der Stadt Bremen:
»[A]lle hatten ihren Kandidaten, der niemals Canetti gewesen war, genannt, als ich an die Reihe gekommen war und ›Canetti‹ sagte. Ich war dafür, Canetti den Preis zu geben für seine ›Blendung‹, das geniale Jugendwerk, das ein Jahr vor dieser Jurysitzung wieder neu gedruckt worden war. Mehrere Male sagte ich das Wort ›Canetti‹ und jedes Mal hatten sich die Gesichter an dem langen Tisch wehleidig verzogen. Viele an dem Tisch wussten gar nicht, wer Canetti war, aber unter den wenigen, die von Canetti wussten, war einer, der plötzlich, nachdem ich wieder Canetti gesagt hatte, sagte: aber der ist ja a u c h Jude. Dann hatte es nur noch ein Gemurmel gegeben und Canetti war unter den Tisch gefallen.«
Die Diskussion zog sich schier endlos hin, Namen fallen und werden verworfen; es musste eine Entscheidung geben.
»Zu meiner großen Verblüffung zog plötzlich einer der Herren, ich weiß wieder nicht, welcher, aus dem Bücherhaufen auf dem Tisch, wie mir schien wahllos, ein Buch von Hildesheimer heraus und sagte in umwerfend naivem Tone und geradezu schon im Aufstehen zum Mittagessen: ›Nehmen wir doch Hildesheimer, nehmen wir doch Hildesheimer‹ und Hildesheimer war gerade jener Name, der während der ganzen stundenlangen Debatten überhaupt nicht gefallen war […] Wer wirklich Hildesheimer war, wussten sie wahrscheinlich alle nicht. Im Augenblick wurde auch schon an die Presse die Mitteilung gegeben, Hildesheimer sei nach dieser über zweistündigen Sitzung der neue Preisträger. Die Herren erhoben sich und gingen hinaus in den Speisesaal. Der Jude Hildesheimer hatte den Preis bekommen. Für mich was d a s die Pointe des Preises. Ich habe sie nicht verschweigen können.«1
58 Jahre später zu Juliane Liebert und Ronya Othmann. Beide waren 2023 in der Jury zum »Internationalen Literaturpreis« des HKW Berlin. In der ZEIT berichten sie »komplett aus allen Wolken gefallen« (Perlentaucher) unter dem Grisham-Titel Die Jury mehr als ein halbes Jahr später ihre Erlebnisse. Die Sache ist kompliziert, handelt von Autoren und Autorinnen, die aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe und/oder Beliebtheit von Jurymitgliedern nicht auf eine Shortlist kommen sollen bzw. anderen Autorinnen und Autoren, die aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe und/oder Unbekanntheit auf diese Liste kommen sollen. Es fielen Sätze wie »Sorry, ich liebe die Literatur, aber Politik ist wichtiger« und selbst als man sich auf einen Preisträger geeinigt hatte, kritisierte man noch die beiden Übersetzer und ob es überhaupt gestattet ist, wenn Weiße einen Schwarzen übersetzen und allerlei anderer Unsinn. Es ging also, so die Quintessenz, weniger um literarische Qualität als um identitätspolitisch motivierte Quoten. So weit, so wenig überraschend. Und man hätte sicherlich diesen Text nie zu lesen bekommen, wenn die beiden Autorinnen auch für 2024 in der Jury nominiert worden wären. Wurden sie aber nicht und nun also das, eine ganze Seite in der ZEIT, das gibt es nicht mehr häufig.
Naturgemäß ist das Entsetzen im Betrieb groß. Aber wie immer nicht über die beschriebenen Vorgehensweisen, sondern, wie üblich, über die Indiskretion. Andreas Platthaus spricht dann gleich von Tabubruch und stellt ein Jurygeheimnis für einen (eher läppischen) Literaturpreis auf die gleiche Stufe mit der ärztlichen Schweigepflicht. Besonders herausgefordert sieht sich allerdings Insa Wilke und ihr Text im Freitag ist wirklich lesenswert, weil man danach die Preisvergabekriterien, die man anscheinend so heranzieht deutlicher einzuordnen weiß als in dem ellenlangen Text von Liebert und Othmann, in dem man nach zweiter Lektüre kaum etwas Schlimmes feststellen mag, außer dass es stark um nicht-literarisches bei solchen Preisen geht, aber das ist jedem klar, der sich mit derlei beschäftigt.
Wilkes Philippika ist verräterischer. Sie räumt damit auf, dass es bei solchen Zusammenkünften primär um Literatur geht, man suche nicht das beste Buch, den »Gral«, denn »Literaturpreise sind nicht nur Marketinginstrumente, sie haben immer auch eine literaturpolitische Funktion« (Hervorhebung von mir). Sie geht sogar noch weiter und macht das, was sie Liebert und Orthmann vorwirft, in dem sie andere Jurys pauschal beschädigt: »Es ist eine Illusion, zu glauben, Jurys, die behaupten, rein ›literarisch‹ zu urteilen, würden keine Literaturpolitik betreiben.« Damit torpediert sie auch indirekt ihre eigene Profession, die Literaturkritik, die sich entgegen landläufiger Meinung nämlich durchaus existierender literarischer Prämissen bedienen sollte. Aus Kritikern werden immer mehr Missionare. Aber wer will eigentlich missioniert werden?
Wilke ist nicht zu bremsen, sucht weiteres Empörungsfutter, schreibt, Liebert und Othmann hätten Jurymitglieder »diffamiert«, ließen es an »Kompetenz und Anstand« missen und schließlich wäre sogar der Preisträger Mohamed Mbougar Sarr beschädigt worden. Dass im Text von einem »verdienten Preisträger« die Rede ist, hat Wilke natürlich überlesen.
In einem Interview im NDR legt sie nach und behauptet ernsthaft, dass die »Arbeit von Jurys und von Literaturkritiker*innen [..] bedroht« sei, fällt absurde Vergleiche, etwa die ZEIT behandele den Text derart, »als wären da zwei Whistleblowerinnen, die da quasi wie Edward Snowden auf Leben und Tod etwas preisgeben« und man fragt sich, ob die Intensität ihres Furors nicht zeigt, dass da ein wunder Punkt getroffen wurde.
Es ist scheinbar ein Zeitgeistphänomen, überall sofort Bedrohungen für Institutionen zu erkennen. Aus ‑1- Indiskretion wird pauchal die Gefahr des Literaturpreiskosmos konstatiert, so als sei dieser auf alle Zeit sakrosankt. Der übertriebene Alarmismus soll potentielle Nachahmer einschüchtern; es geht eben auch um Macht. Das unterscheidet die heutigen Protagonisten nicht von den Ehemaligen, den Reich-Ranickis oder Karaseks etwa. Die Folgen im konkreten Fall dürften klar sein. Die beiden Autorinnen werden im Betrieb erst einmal keinen Fuss mehr auf dem Boden bekommen; das dürfte auch ökonomische Einbußen zur Folge haben.
Ein Aspekt wurde bisher übersehen: Der »Internationale Literaturpreis« ist nicht die Privatveranstaltung irgendeines Mäzens, Sponsors oder Komitees, der nach Herzenslust bestimmen kann, wer dort agiert. Das alles wird zu nahezu 100% vom deutschen Steuerzahler bezahlt. Da wäre eine gewisse Transparenz gar nicht schlecht. Sonst ist man doch auch immer dafür.
Thomas Bernhard, Meine Preise, Suhrkamp, 1. Auflage 2009, S. 32-49. ↩
Unbedingt als Ergänzung dazu Truschner.
Wieso erfährt man über solche Dinge so wenig? Seit Langem denke ich, dass diese ganzen Kulturförderer-Cliquen und ihre Hintergründe mal auf den Prüfstand gehörten.
Und Wilke ist nun wirklich vollends zur Knallcharge geworden.
Danke für den Link (ungewöhnlich die sachlichen Fehler darin).
Naja, Sie und ich wissen, dass Wilke in Wirklichkeit die Heroine bleibt, weil sie stabil zum Betriebsgeist steht. Dass man darüber so wenig erfährt, ist klar: Die Omertà garantiert die Karriere. Das war – leider – ebenfalls noch nie anders.