Ste­fan Gey­er: Der Stadt­wan­de­rer

Stefan Geyer: Der Stadtwanderer

Ste­fan Gey­er:
Der Stadt­wan­de­rer

»Denn tat­säch­lich ist es nicht mög­lich, län­ge­re Zeit zu ge­hen und zu den­ken in glei­cher In­ten­si­tät, ein­mal ge­hen wir in­ten­si­ver, aber den­ken nicht so in­ten­siv, wie wir ge­hen, dann den­ken wir in­ten­siv und ge­hen nicht so in­ten­siv wie wir den­ken…«, so Oeh­ler, Tho­mas Bern­hards Prot­ago­nist aus Ge­hen, aber da ist je­mand, der da­mit nichts an­fan­gen kann, und das ist Ste­fan Gey­er. Er dockt eher bei Ro­bert Wal­ser, Carl Se­lig oder Erich Käst­ner an, be­kennt, einst von ei­nem Buch des Nor­we­gers Er­ling Kag­ge zum Ge­hen an­ge­regt wor­den zu sein und be­schäf­tigt sich mit der »Spa­zier­gangs­wis­sen­schaft« von Lu­ci­us Bur­ck­hardt.

»Ich ge­he, um zu ge­hen«, so lau­tet der ober­ste Grund­satz der Geh-Phi­lo­so­phie des ehe­ma­li­gen Suhr­kamp-Mit­ar­bei­ters, der mehr die Vo­ka­bel des Spa­zie­rens als die des Wan­derns be­vor­zugt, auch wenn es schon mal 20 km sind, die da in und um Frank­furt her­um zu­rück­ge­legt wer­den. Und das un­ab­hän­gig vom Wet­ter; manch­mal reg­net es und ge­ra­de das mo­ti­viert ihn, auch, wenn er viel­leicht mit ei­nem Ka­ter auf­wacht. Dann fin­det sich bei ihm in den so­zia­len Netz­wer­ken die fast me­di­ta­ti­ve Ein­tra­gung à la »Schu­he schnü­ren, her­um­ge­hen, Kopf lüf­ten« (im Som­mer viel­leicht noch er­gänzt um ein »Hut auf«) – nicht sel­ten, wenn man sel­ber froh ist, bei die­sem Wet­ter nicht vor die Tür zu müs­sen.

Der Ex­trakt sei­ner Spa­zier­gän­ge liegt nun un­ter dem Ti­tel Der Stadt­wan­de­rer vor, fünf­zehn Tex­te mit Schil­de­run­gen durch be­kann­tes und un­be­kann­tes Ter­rain, quer­stadt­ein durch Stra­ßen­zü­ge, Klein­gar­ten­an­la­gen, Ein­kaufs­pas­sa­gen, Feld- und Wie­sen­we­ge, ir­gend­wann zwi­schen En­de 2021 und der un­mit­tel­ba­ren Ge­gen­wart. Wer wie ich als ge­le­gent­li­cher Buch­mes­sen­be­su­cher nur das Mes­se­ge­län­de und die Ge­gend um den zur ex­ter­ri­to­ria­len Dro­gen­sze­ne mu­tier­ten ver­wahr­lo­sten Frank­fur­ter Haupt­bahn­hof kennt, soll ei­nes Bes­se­ren be­lehrt wer­den.

Lo­gisch, dass es beim Spa­zie­ren kei­ne Um­we­ge gibt. Wenn das Na­vi manch­mal ei­nen fal­schen Weg weist, ist es ei­ne Er­gän­zung, kei­ne Mü­he. Zu­rück­ge­hen kommt na­tür­lich nicht in­fra­ge. »Wer zu Fuß un­ter­wegs ist, sieht mehr«, vor al­lem wenn er vom Be­ob­ach­ten ins Stau­nen und Schau­en kommt (manch­mal muss auch noch fo­to­gra­fiert wer­den). Spa­zier­gän­ger wer­den, so Gey­er, Zeu­gen von »Um­bruch, An­fang und En­de so­wie Ver­än­de­rung« von Land­schaft, Ar­chi­tek­tur und dem, was mal ver­ächt­lich, mal be­wun­dernd »Sky­line« ge­nannt wird.

Kei­ne Fra­ge, stadt­bau­li­che Häss­lich­kei­ten zu be­nen­nen ge­hört da­zu und Gey­er ist in­zwi­schen ent­spre­chend ent­spannt. Das än­dert sich, wenn es um E‑Roller geht, die über­all her­um­ste­hen und vor al­lem bei der Be­trach­tung der Do­mi­nanz des Au­to­mo­bils, sich zei­gend in ex­pan­die­ren­den Park­platz­land­schaf­ten. In­ter­es­sant ei­ne Be­ob­ach­tung an ei­ner Kreu­zung, bei der ir­gend­wann die Am­pel­an­la­ge für län­ge­re Zeit aus­fiel. Gey­er be­ob­ach­te­te da­mals ei­ne grö­ße­re Rück­sicht­nah­me der Au­to­fah­rer als jetzt, als die An­la­ge wie­der funk­tio­niert.

Na­tür­lich be­stehen auch die mo­der­nen Ein­kaufs­pas­sa­gen nicht vor dem Ur­teil des Ge­hers, er be­vor­zugt klei­ne Ge­schäf­te, be­sucht ger­ne Ca­fés oder Was­ser­häus­chen für ei­nen Cap­puc­ci­no, Ap­fel­wein oder ein lo­ka­les Bier (wo­bei ich zu­nächst dach­te, »Was­ser­häus­chen« sei­en Toi­let­ten, aber es ist nur ein an­de­res Wort für »Trink­hal­le« oder »Ki­osk«). Spa­zier­gän­ger wie er lie­ben brei­te Geh­we­ge und so schimpft er ge­gen Park­uh­ren, Ver­kehrs­schil­der und so­gar die Zelt­bau­ten der Groß-Ga­stro­no­mie bei Stadt­fe­sten, die es un­mög­lich ma­chen, dass sich be­geg­nen­de Pas­san­ten ein­an­der vor­bei­ge­hen kön­nen. Bür­ger­stei­ge, so kon­sta­tiert Gey­er, sind zu­wei­len »die Rum­pel­kam­mern des öf­fent­li­chen Raums«. Är­ger­lich auch die Be­schaf­fen­heit man­cher Geh­we­ge, die schon zu Stür­zen bei ihm führ­ten, vor al­lem im Win­ter.

Am schön­sten sind die Be­schrei­bun­gen, wenn er mit sich, der Land­schaft und den Men­schen drum­her­um im Rei­nen ist, vor Sieg­fried Un­sel­ds Grab et­wa, auf dem Höl­der­lin-Weg (bzw. dem, was heut­zu­ta­ge da­von noch üb­rig ist), am Main­ufer oder in Sach­sen­hau­sen, dem Stadt­teil sei­ner Kind­heit. Wenn er das Na­tur­schutz­ge­biet Schwan­hei­mer Dü­ne für sich ent­deckt oder Of­fen­bach be­sucht und den Tech­no­club Ro­bert John­son streift. Sei­ne Im­pres­sio­nen schaf­fen es un­ab­hän­gig vom Ort bis­wei­len so­gar ei­nem Stu­ben­hocker wie mir Ent­decker­lust zu ma­chen. »Ei­ne Stadt zu Fuß zu durch­strei­fen, heißt, sie zu le­sen, sich an­zu­eig­nen und bes­ser zu ver­ste­hen«, heißt es ein­mal. Ei­nen ver­mut­lich wich­ti­gen Hin­weis, was das op­ti­ma­le Schuh­werk an­geht, gibt es noch oben­drauf. Man stutzt zu­nächst, aber das Be­kennt­nis, er sei »zu arm, um bil­li­ge Schu­he zu kau­fen«, über­zeugt. Und ja, Frank­furt könn­te über­all sein.

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